Gedanken im November: Mein Kraftort

Links von mir Bahngleise, rechts freies Feld und ringsherum ein weiter Horizont. Ein langer gerader Feldweg vor mir, am Ende eine Gärtnerei. Von der Gärtnerei aus ging es scharf rechts und dann in einem großen Bogen zurück zu den Bahngleisen.
Ein Rundweg am Ende eines Ortes gelegen, den ich so gut wie nicht kannte.

Der Ort war der Wohnort meiner Schwester, die hier mit ihrem Mann und ihren drei Kindern lebte.
Hier ging ich das erste Mal mit meiner Frau und meinem, damals fünf Jahre alten Patenkind spazieren. Florian auf seinem Dreirad laut plappernd und sehr aufgeregt, weil sein Petter ihn besuchte, Karin, meine Frau lächelnd meinem Neffen zuhörend.
Der zweite Spaziergang dort war dann schon mit Ben, dem kleinen Foxterrier, den meine Frau und ich uns zugelegt hatten. Diesmal begleitete uns mein Patenkind nicht. Wir waren zu Besuch bei meinen Eltern, die mittlerweile auf Wunsch meiner Schwester, die Unterstützung in der Betreuung ihrer Kinder gewünscht hatte, in diesen Ort gezogen waren.
Somit kamen Karin und ich öfter in den Genuss, hier spazieren zu können, da Besuche bei meiner Familie immer mal wieder anstanden.
Ich fühlte mich auf diesen Spaziergängen immer sehr entspannt, war sehr „bei mir“. Anders kann ich es nicht nennen. Ich kann nicht sagen, woran es lag, dass ich mich hier an diesem Ort so gut fühlte. Wenn wir hierher kamen, begleiteten mich ja nicht nur positive Gedanken. Nicht immer war das frühere Zusammenleben mit meiner Familie harmonisch verlaufen. Auch bei den Besuchen gab es ab und an eine kleine Spitze oder eine unbedachte Äußerung, die Missmut aufkommen und mich grummelnd nach Hause fahren ließ.
Mein Wohlfühlen musste also tatsächlich mit diesem Ort zusammenhängen.
Überdeutlich wurde dies, als ich nach dem plötzlichen Tod meiner Frau, sie war an einer Hirnblutung gestorben, meine Eltern für eine Woche besuchte. Ich hielt es alleine zu Hause nicht mehr aus, brauchte mir nahestehende Menschen, um zu reden.
Meine Eltern zeigten sich sehr fürsorglich, doch war es nicht dass, was mir den meisten Trost spendete, sondern die Fußmärsche an besagtem Weg. Ich erinnerte mich an die Gespräche und Diskussionen, die ich mit Karin hier geführt hatte, und fühlte mich ihr sehr nahe.
Auch die Jahre nach dem Tod meiner Frau führten mich, bedingt durch meine Familienbesuche, in unregelmäßigen Abständen an diesen Ort. Jedes Mal fühlte ich mich entspannt und geborgen.

Ich bin wieder verheiratet, meine Mutter ist mittlerweile gestorben, meine Schwester geschieden, ihre Kinder aus dem Haus.
Meine jetzige Frau ist diesen Spazierweg auch schon mit mir gegangen. Auch mit meinem Vater bin ich nach dem Tod meiner Mutter hier schon gewesen. Für meinen Vater und meine Frau hat dieser Rundweg keine Bedeutung. Das muss er auch nicht. Es ist mein Ort.
Jedes Mal wenn ich auf Besuch hier bin, gehe ich spazieren. Nur diesen Weg. Es gibt für mich keinen anderen. Jeder dieser Spaziergänge ist ein Ritual, das ich nicht missen möchte. Ich komme gestärkt nach Hause zurück.
Ich werde immer wieder an diesen Ort kommen. Das ist gewiss.

Bürgerreporter:in:

Rainer Güllich aus Marburg

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