Ein heikles Thema / Kurzgeschichte

Das Thema sexuelle Aufklärung war in den Sechziger Jahren ein heikles Thema. Wenigstens für meine Eltern. Obwohl die schon wussten, was Sache ist. Hatten sie doch immerhin zwei Kinder … und die waren nicht vom Himmel gefallen und hatte auch nicht der Klapperstorch gebracht. Als Kind hatten meine Eltern mir das aber auf die Nase gebunden: Wenn ich ein Schwesterchen oder ein Brüderchen haben wolle, müsse ich ein Stück Würfelzucker auf die Fensterbank legen und der Klapperstorch würde mir ein Geschwisterchen bringen.
Ich hatte das brav gemacht, ein Schwesterchen bekommen, meine Mutter hatte mir sogar die Stelle am Bein gezeigt, an der sie der Klapperstorch angeblich gebissen hatte. Was sie mir da gezeigt hat, weiß ich heute nicht mehr. Vielleicht war es eine alte Narbe gewesen, die sich zu so einem Täuschungsmanöver bestens geeignet hatte.
Wie sich später rausstellte war das mit dem Schwesterchen dann doch nicht so toll, doch ist das eine andere Geschichte, die nicht hierhin gehört.

Jedenfalls bekam ich in späteren Jahren, ich muss so zwölf Jahre alt gewesen sein, Zweifel an der Klapperstorch-Version betreffs der menschlichen Fortpflanzung. Von Spielkameraden hatte ich schon unterschiedliche Fortpflanzungstheorien gehört, die ich aber wegen ihrer gänzlichen Absurdität hier nicht weiter verbreiten möchte.
Was blieb anderes als meine Mutter zu fragen. Sie hatte mir auch schon andere wichtige Lebensfragen beantwortet, warum also nicht auch diese?
„Mama, wo kommen die Babys her?“ Klare Frage, klare Antwort dachte ich. Weit gefehlt!
„Äähhh … da fragst du am besten mal deinen Vater. Der kennt sich da besser aus. Und jetzt mach deine Schularbeiten.“ Mit einem Klaps auf meinen Hintern schob mich meine Mutter in mein Zimmer.
Als ich meinen Vater fragte, hatte der dummerweise keine Zeit und meine Frage wurde vertagt. Sie wurde auch nie mehr erörtert. Ich stellte diese Frage auch nicht mehr, da mir mein Gefühl sagte, dass sie absolut unerwünscht war. Mein schon damals ausgeprägtes Harmoniebedürfnis verhinderten also weitere Nachforschungen.

Als ich eines Tages aus der Schule kam und mich gerade an den Mittagstisch gesetzt hatte, knallte meine Mutter eine geöffnete Illustrierte vor mich hin. In aggressivem Ton presste sie den Satz „So geht es, damit du es weißt“ hervor. Die Illustrierte zeigte farbige Fotos von der Geburt eines Kindes. Deutliche, klare Fotos.
Doch was mich eigentlich verunsicherte war der wütende Ton meiner Mutter gewesen. Ich fühlte keine Schuld.
Okay, wie so ein Baby auf die Welt kam, also wo es herauskam, wusste ich nun. Wie kam es aber dort hinein? Das Verhalten meiner Mutter verhinderte aber weitere Fragen von mir.

Da fiel mir aber in der Stadtbücherei, die ich als eifriger Leser fleißig frequentierte, ein Büchlein mit dem Titel „Wo kommen all die kleinen Babys her“ in die Hände. Super! Ein Aufklärungsbuch extra für Heranwachsende. Um es auszuleihen benötigte ich aber eine schriftliche Einwilligungserklärung der Erziehungsberechtigten. Das gedruckte Formular gab es bei der Büchereiaufsicht.
Würde ich die Einwilligung meiner Eltern bekommen? Ihr bisheriges Verhalten bezüglich meiner Aufklärungswünsche ließen das bezweifeln.
Sollte ich die Unterschrift fälschen? Ein Gedanke der mir ganz spontan kam, den ich aber sehr schnell wieder fallen ließ. Ich hatte schon einmal schlechte Erfahrungen mit der Bücherei und meinen Eltern gemacht, als ich Fotos, die mir gefallen hatten, aus diversen Büchern herausgerissen hatte. Das war natürlich aufgeflogen. Die tiefe Scham über mein Tun hatte ich nicht vergessen.
Mir blieb nichts als meine Eltern um die Einwilligung zu bitten. Erstaunt war ich dann, dass meine Eltern von der Idee mich im theoretischen Selbststudium sexuell aufzuklären einverstanden waren. Heute vermute ich, dass sie von diesem Einfall total begeistert waren.
Ob mein Studium von Erfolg gekrönt war, haben sie natürlich nie nachgeprüft.

Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich nicht alles Dargestellte in dem Buch verstanden habe, war aber nicht schlimm, da ich ein Jahr später intensiven Sexualkundeunterricht in der Schule erhielt und meine Wissenslücken so auffüllen konnte.

Das letzte Mal das in meiner Familie das Thema Sexualität auf den Tisch kam, war an dem Tag als meine Mutter zu mir sagte, wieder mal als ich aus der Schule kam: „Du bist ja jetzt erwachsen geworden.“ Auf meinen fragenden Blick hin, schloss sie: „Ich habe es an deiner Bettdecke gesehen.“ … und ab hier möchte ich gern den Mantel des Schweigens über die ganze Angelegenheit breiten …

Bürgerreporter:in:

Rainer Güllich aus Marburg

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