Die Mutter / Kurzgeschichte

„Übrigens … meine Mutter kommt morgen zu Besuch. Sie hat mich gestern im Büro angerufen.“
Marlies schaute zu ihrem Ehemann auf. Sie putzte gerade den Tisch ab, der voller Brötchenkrümel und Geleeresten vom Frühstück war.
„Du hast was? Mit deiner Mutter telefoniert? Gestern? Und du sagst mir nichts?“
„Naja, ich sage es dir jetzt.“ Herbert strich sich durch seinen Kinnbart.
Marlies warf den Wischlappen auf den Boden. „Du weißt genau, dass ich sie hier nicht sehen will. Das war zwischen uns beiden so ausgemacht.“
„Ja, aber das ist dreißig Jahre her. Wir sind alle älter geworden. Meine Mutter lebt allein, sie fühlt sich einsam und sucht nun Kontakt.“
Seufzend setzte sich Marlies auf einen der Küchenstühle. Durch die offene Tür fiel ihr Blick auf die steile Treppe, die zum Schlafzimmer führte.
Sie hatte gedacht, das Problem mit Herbert und seiner Mutter sei aus der Welt. Es schien so, als hätte sie sich getäuscht. Als sie Herbert kennengelernt hatte, lebte er bei seiner Mutter, die ihn ganz gut im Griff hatte. Er tat alles, was sie wollte.
Marlies verliebte sich sofort in Herbert. Er war anders als die jungen Männer aus dem Dorf. Er war klüger, sensibler. Leider aber auch ein Muttersöhnchen. Marlies versuchte alles, um das zu ändern.
Herberts Mutter sah die Beziehung ihres Sohnes zu dieser „Bäuerin“, wie sie Marlies nannte, nicht gern. Marlies entstammte einem kleinen Bauernhof und Herberts Mutter hielt sich für etwas Besseres. Sie hatte alles daran gesetzt Marlies vor den Augen ihres Sohnes schlecht zu machen. Das war ihr aber nicht gelungen. Denn Herbert hatte den Umgang zu ihr genossen. Kein Wunder, da sie eine junge, attraktive Frau gewesen war, die fast jeder Mann aus dem Dorf begehrt hatte.
„Hast du wieder mal verdrängt, was deine Mutter über Thomas gesagt hat? Dass er nicht von dir sei. Nicht genug, dass Thomas unehelich zur Welt gekommen ist, sondern noch dieser infame Vorwurf, er sei von einem anderen Mann. Damit hat sie nicht nur mich, sondern auch dich unverzeihlich beleidigt. Diese Frau kommt mir nicht in meine Wohnung!“
Marlies war kurze Zeit, nachdem sie mit Herbert ging, schwanger geworden und ihr Sohn war zur Welt gekommen, bevor sie verheiratet waren. Ein uneheliches Kind war damals in den Fünfziger Jahren nicht ohne. Marlies hatte sich nicht nur eine hämische Bemerkung anhören müssen. Eigentlich war es ein bisschen wie Spießrutenlaufen gewesen. Erst recht nachdem die Bemerkung von Herberts Mutter die Runde im Dorf gemacht hatte. Marlies erinnerte sich an eine Situation, in der eine Nachbarin sie als „Schlampe mit dem Bankert“ beschimpft hatte.
Heute lebten Herbert und sie glücklicherweise nicht mehr im Dorf. Ihr Sohn war mittlerweile erwachsen und lebte in einer Stadt im Norden. Leider hatte sich die Beziehung zu ihrem Mann seit dem Auszug von Thomas verschlechtert.
Herbert faltete die Hände, so als wolle er beten. „Mein Gott. Sei doch nicht so nachtragend. Ich sagte doch schon, dass sie eine alte Frau ist. Sie hat sich verändert. Sie wird dich um Verzeihung bitten. Hat sie wenigstens gesagt.“
Marlies stand abrupt vom Stuhl auf. „Ach! Habt ihr schon alles besprochen? Das ist ja schön. Ich werde dieser Frau nicht verzeihen. Sie wird mir nicht unter die Augen kommen und meine Türschwelle betreten.“
Herbert richtete sich zu seiner ganzen Größe auf. „Jetzt mach aber mal halblang. Ich habe meiner Mutter zugesagt, dass sie uns besuchen kann. Sie kommt morgen Vormittag. Und jetzt lass mich in Ruhe.“ Mit diesen Worten verschwand er im Wohnzimmer.
Marlies war wie vom Donner gerührt. Sie wusste nicht, was sie sagen oder tun sollte. Was war denn bloß mit Herbert los? Da telefonierte er nach Jahren einmal mit seiner Mutter und gab sofort nach. Das konnte doch nicht sein? Das konnte sie nicht zulassen.
Mit entschlossenen Schritten ging sie ins Wohnzimmer. Herbert saß auf der Couch und hatte den Fernseher eingeschaltet. Das war wohl nicht wahr? Der saß jetzt hier im Wohnzimmer und sah fern!
Sie nahm die Fernbedienung vom Tisch, schaltete den Fernseher ab und warf das Schaltgerät auf den Boden. Es zersplitterte in tausend Teile.
Herbert sprang auf. „Spinnst du denn jetzt total? Was soll das denn? Mach den Fernseher wieder an!“
Marlies Stimme klang schrill. „Es geht hier nicht um den Fernseher. Es geht um den Besuch deiner Mutter. Du wirst sie anrufen und ihr absagen. Ihre Nummer hast du ja wohl.“
„Ich werde ihr nicht absagen. Und du solltest endlich mal das tun, was ich dir sage.“ Linkisch verschränkte er die Arme vor der Brust. Sein Ton war jedoch unmissverständlich.
„Gut. Dann gehe ich. Ich packe meine Koffer. Werde mit deiner Mutter glücklich.“ Marlies Stimme zitterte.
Mit schnellen Schritten ging sie nach oben ins Schlafzimmer, öffnete den Kleiderschrank und wühlte zwischen Jacken, Hosen und Kleidern. Noch bevor sie eine Auswahl treffen konnte, tauchte Herbert auf, riss sie an einem ihrer Arme herum und schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. Dann schlug er noch mal zu. Marlies stieß ihn mit aller Kraft zurück und flüchtete durch die Diele in den Hausflur. Bevor sie die Treppe erreicht hatte, war Herbert schon da und versuchte sie festzuhalten. Marlies wehrte sich. Sie rangen miteinander, keuchten und stöhnten. Plötzlich kam Herbert ins Straucheln, ruderte wild mit den Armen und stürzte schwer die Treppe hinab. Es polterte und knackte. Am Fuß der Treppe blieb er reglos liegen.
Marlies blieb vor Schreck wie gelähmt einen Moment stehen. Dann lief sie die Treppe hinunter, um nach Herbert zu schauen. Er rührte sich nicht, kein Puls war zu spüren. Er war tot.
Seine Mutter hatte gewonnen.

© R. Güllich

Bürgerreporter:in:

Rainer Güllich aus Marburg

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