Die Aussage / Kurzkrimi

Die Aussage

Der Mann betrat den schummrig beleuchteten Nachtklub, blieb kurz stehen und schaute sich um. Er war von hünenhafter Größe, seine breiten Schultern schienen sein Sakko sprengen zu wollen. Er strich sich mit seiner rechten Hand durch die kurz geschnittenen, dunkel schimmernden Haare, schloss für einen Moment die Augen und ging auf die Theke zu. Sich auf einen Hocker setzend drehte er dabei dem Barkeeper den Rücken zu.
„Scotch“, war das Einzige, was er sagte. Seine Stimme stand im Gegensatz zu seinem Körper. Sie war dünn und hoch. Doch hatte bestimmt noch nie jemand darüber gelächelt. Seine grüngelben Augen waren eine einzige Warnung. Der Barkeeper beeilte sich, das Bestellte heranzuschaffen.
Der Hüne ließ den Whisky unberührt, sein Blick wanderte langsam über die Gäste. Er wirkte gelangweilt, seine Haltung hatte etwas Überhebliches.
Paul, der allein an einem kleinen Tischchen in der Nähe der momentan leeren Bühne saß, brach der Schweiß aus.
Den Burschen kannte er. Das war Leo Brauner genannt Die Stimme. Der arbeitete für Bruno Pawlowski. Pawlowski … der mit Paul noch eine Rechnung offen hatte! Jetzt hatten sie ihn!
Warum war er auch nicht sofort aus Marburg verschwunden? Warum trödelte er hier herum? Nur weil er, bevor er verschwand, noch mal mit Lene, die als Tänzerin hier arbeitete, reden wollte. Wie idiotisch! Jetzt konnte er zusehen, wie er hier heil herauskam.
Und warum das alles? Nur wegen eines Leistenbruchs. Leo sein Kumpel, der bei Pawlowski als Gärtner arbeitete, musste wegen eines Leistenbruchs in die Klinik auf den Lahnbergen und fiel einige Zeit aus. Paul hatte seine Vertretung übernommen. Er konnte die Kohle dafür gut gebrauchen. Dann kam dieser Tag.
Er hatte an diesem Nachmittag das Laub, das sich vor der Terrasse von Pawlowskis Bungalow angesammelt hatte wegharken wollen. Als er gerade zugange war, war Jan Koller, der momentane Lover von Pawlowskis Tochter Marlene aufgetaucht. Er war wohl bestellt gewesen, es sah jedenfalls so aus.
Welcher Teufel Paul geritten hatte, als er an das Terrassenfenster getreten war, um das Gespräch zu belauschen, wusste er selbst nicht.
Er hörte Pawlowski: „Mein lieber Jan. Du bist vielleicht erstaunt, aber ich habe dich herbestellt, weil wir beide mal was klarstellen müssen. Wenn du meinst, du könntest in meiner Organisation die große Lippe riskieren, weil du mit meiner Tochter schläfst, hast du dich getäuscht. Mir ist zu Ohren gekommen du würdest gerne die Rauschgiftsache übernehmen, weil ich altes Fossil keine Ahnung hätte, wie man so etwas richtig aufzieht. Du meintest ich sei zu blöd, um zu kapieren, was heute im Geschäft abgeht …“
„Ich habe nie …“
„Erzähl mir nichts. Ich habe schon meine Leute an den richtigen Stellen sitzen, glaub mir. Ich höre so einiges.“
Koller atmete tief ein. „Na gut, wenn du es nun schon weißt … Ja, es stimmt. Ich bin der Meinung du machst da einiges falsch und nicht nur, was das Rauschgift betrifft. Deine gesamte Organisation braucht neues Blut, du bist zu alt und lahm, um noch richtig was zu bewegen. Du musst mal jüngere Leute ranlassen.“
Paul konnte sehen, wie sich Pawlowskis Gesicht rötete. „Mit jüngeren Leuten meinst du doch wohl sicherlich dich, oder …“
„Klar, wen sonst. Kapier das! Deine Zeit ist vorbei, alter Mann! Ich habe auch schon genug von deinen Leuten auf meiner Seite …“
„WAS HAST DU!“
Pawlowski griff nach dem schweren Kerzenständer, der sich auf dem Tisch hinter ihm befand, holte weit aus und schlug Koller damit über den Schädel. Der brach sofort zusammen, Pawlowski holte noch einmal aus und schlug wieder zu. Dann richtete er sich schwer atmend auf … und Pauls und Eugen Pawlowskis Blicke begegneten sich. Es trennte sie nur die Scheibe der Terrassentür.
Paul ließ die Harke, die er noch in der Hand hielt, fallen und flüchtete in weiten Sprüngen. Noch nie war er so schnell gelaufen.
Und genau wegen dieser Sache saß er jetzt so tief in der Patsche.
Der hünenhafte Pawlowski-Mann schaute zu Paul und lächelte.
Tja, er hatte ihn entdeckt. Was auch sonst. Er war ja hier nicht zu übersehen. Nun, im Moment würde ihm nichts passieren, es befanden sich genug Gäste, sprich potenzielle Zeugen, im Nachtklub, sodass ihm Pawlowskis Mann nicht an die Gurgel konnte. Erst wenn Paul den Klub verließ, würde es kritisch werden.
Der Hüne lächelte Paul weiterhin an, griff in seine Jackentasche, holte ein Handy hervor und begann zu telefonieren.
Das war’s dann! Klar, dass der Kerl jetzt seine Gang-Kollegen herbeorderte. Sie würden vor dem Nachtklub Stellung beziehen. Er musste so schnell wie möglich hier raus, sonst saß er wie eine Ratte in der Falle.
Pauls Gedanken zischten durch seinen Kopf wie Neutrinos in einem Teilchenbeschleuniger.
Na gut, dann blieb ihm nichts anderes übrig, als auch zu telefonieren. Er hatte zwar vorgehabt die Bullen außen vor zu lassen, aber nun ging es um sein Leben. Scheiß auf die Ganovenehre!
Die Nummer hatte er gespeichert. Er bekam Kommissar Gruber auch direkt ans Ohr.
„Herr Gruber“, Pauls Atem ging schwer. „Hier ist Kröger. Sie müssen mir helfen. Ich sitze im Nachtklub in der Siemensstraße. Einer von Pawlowskis Männern ist auch hier. Gleich werden sicher noch andere von Pawlowskis Bande auftauchen. Sie werden mich hier nicht rauslassen. Sie müssen mich mit einigen ihrer Leute hier rauslotsen. Ich sage auch gegen Eugen Pawlowski aus. Das ist es doch, was Sie die ganze Zeit von mir wollen. Sie bekommen Ihre Aussage! Nur … helfen Sie mir!“
„Hören Sie, Kröger“, klang die Stimme Grubers eindringlich aus Pauls Handy. „Bleiben Sie ganz ruhig und rühren Sie sich nicht von der Stelle. In zehn Minuten bin ich mit meinen Männern da und es geht mit Begleitschutz zu uns in Präsidium. Sie kommen dann auch sofort ins Zeugenschutzprogramm. Doch wenn Sie meinen, wenn Sie erst mal in Sicherheit sind, können Sie Ihre Aussage widerrufen, haben Sie sich getäuscht. Ich werde Sie dann persönlich vor Pawlowskis Hauptquartier anketten. Was das heißt, können sie sich ja denken. Ist das klar?“
Grubers Stimme war jetzt eiskalt.
„Ist klar, Herr Kommissar. Nur … kommen Sie endlich!“
„Machen wir.“ Gruber unterbrach die Verbindung.
Kommissar Gruber atmete auf, lehnte sich kurz an der Rückenlehne seines Bürostuhls an.
Wer hätte das gedacht. Jetzt bekam er ja doch noch seinen Hauptbelastungszeugen gegen Eugen Pawlowski. Hinter Pawlowski war er schon seit Jahren her, bisher hatten Sie jedoch nichts gegen ihn in der Hand. Prostitution, Geldwäsche, Drogendeals und Schutzgelderpressung waren die Hauptaktivitäten von Pawlowskis Organisation.
Wie es aussah, war ihm jedoch vor kurzem der Fehler seines Lebens unterlaufen. Pawlowskis Tochter hatte sich mit einem der Männer ihres Vaters eingelassen. Dies jedenfalls waren die Informationen, die ins Polizeipräsidium gelangt waren. Der Liebhaber der Bandenchef-Tochter hatte gemeint, er könne jetzt das große Wort führen und hatte wohl irgendwelche Forderungen gestellt. Jedenfalls hatte er Pawlowski gehörig auf die Zehen getreten. Eugen Pawlowski war nichts anderes eingefallen, als ihn eigenhändig umzubringen. Und Kröger, der Kleinkriminelle Paul Kröger war zufällig Augenzeuge des Mordes gewesen. Leider war er aber auch von dem Bandenboss gesehen worden. Kröger in seiner Angst hatte sich telefonisch an die Polizei gewandt, wollte gegen Pawlowski aussagen, hatte jedoch, bevor ein Protokoll aufgesetzt werden konnte, kalte Füße bekommen und war spurlos verschwunden. Bis jetzt. Aber jetzt hatten sie ihren Zeugen wieder … und der hatte mittlerweile genug Angst, um seine Aussage zu machen.
Gruber griff zum Telefon. Er musste alles in die Wege zu leiten, um Kröger aus dem Nachtklub zu holen.
Dies war schnell und ohne Probleme erledigt und Kröger war kurz darauf im Polizeipräsidium in der Raiffeisenstraße und machte seine Aussage.
Als die Aussage protokolliert war, alle Unterschriften geleistet waren, ging Kommissar Gruber mit Kröger über den Flur um ihn dem Beamten, der für das Zeugenschutzprogramm verantwortlich war, zuzustellen. Da kam ihnen auf dem Flur Leo Brauner alias Die Stimme entgegen.
Paul Kröger fasste Gruber am Arm, er schrie fast. „Da ist der Kerl von Pawlowskis Bande, der im Nachtklub war. Nehmen Sie ihn fest! Er ist mit Sicherheit bewaffnet. Er wird mich töten!“
„Ganz ruhig“, sagte der Kommissar, nahm behutsam Krögers Hand von seiner Schulter. „Dieser Mann will sie nicht töten. Und ich hoffe sehr, dass er bewaffnet ist. Er hat nämlich einen sehr gefährlichen Job. Das ist Kommissar Lautenschläger alias Die Stimme, der als Undercover-Agent in Pawlowskis Gang arbeitet. Er muss auch noch seine Aussage zu Protokoll geben. Ich bin Kommissar Lautenschläger sehr dankbar. Ohne ihn hätten wir ja ihre Aussage nicht bekommen, oder?“ Gruber lächelte Paul Kröger freundlich an.

aus „Der Marburger Krimi-Cocktail“

© R. Güllich

Bürgerreporter:in:

Rainer Güllich aus Marburg

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