Tako -Tsubo

wenn die Seele schreit,

Ingrid ist eine Frau die alle mögen, 69 Jahre alt, lebenslustig, sie lacht gern, in letzter Zeit vielleicht ein bisschen lauter, manchmal war sie etwas abwesend, dann wieder unruhig, manchmal zittert ihre Kinnlade, manchmal hat sie Atemnot, zieht den Kopf etwas ein und hält die Hände an die Schläfen, dann atmet sie wie befreit tief durch, "ist wohl das Wetter" sagt sie, "mal so, mal so, früher machte mir das nichts aus, ich schlafe im Moment auch schlecht, manchmal liege ich die ganze Nacht wach, was soll's, man wird eben nicht jünger",

"geht vielen so", war dann die Antwort, "mag sein", sagt sie dann
"bei mir ist wohl auch die Aufregung, denn meine Nichte heiratet demnächst",

"wenn nichts dazwischen kommt"
war eine scherzhaft gemeinte Antwort, und eine Anspielung darauf, das genau das schon passiert ist

"Ja" sagte sie, denn die Hochzeit sollte bereits im Juni sein, fand aber nicht statt, dem Bräutigam drohte der Verlust der Arbeitsstelle, und er verlor um ein Haar auch noch seinen Führerschein, keine gute Zeit für einen glücklichen Hochzeitstag, meinte die Familie, und man beschloss, die Hochzeit zu verschieben, sie seufzte, dann verzerrte sich ihr Gesicht, sie schrie kurz auf, griff sich ans Herz und rang nach Luft, ein Arzt verfügte die Einweisung in ein Krankenhaus,
das war vor einigen Wochen

doch diesmal kam nichts dazwischen, das Umfeld stimmte wieder, und die Hochzeit in der kleinen Kirche, in der sie selbst einmal getraut werden wollte, fand statt, Ingrid geht es wieder besser, es war kein Herzinfarkt, wie zunächst befürchtet, in einigen Tagen wäre sie wieder fit, meinten die Ärzte, so war es dann auch, Gott sei Dank,
ihr Zusammenbruch hatte andere Ursachen.

Tako -Tsubo - die Tintenfischfalle,

so nannten japanische Ärzte vor ca. 20 Jahren erstmals eine Krankheit des Herzens, die zwar eher selten und wenn, vor allem bei Frauen um die 60 oder später auftritt, alle Anzeichen deuten auf Herzinfarkt, doch es ist etwas anderes, auffallend - so die Erklärung der Ärzte - sei eine starke Vergrößerung der linken Herzkammer, der Zugang zur Hauptschlagader ist stark verengt, das Ganze erinnert an eine bauchige Flasche mit engem Flaschenhals, mit der japanische Fischer Tintenfische fangen, und so gaben die Ärzte der Krankheit diesen Namen,

als Grund für die Erkrankung erkannte man immer eine starke seelische Belastung, die langsam, dann schneller unerträglich wird, selten ganz plötzlich, und deren Ursache in den meisten Fällen nicht in einem akuten Ereignis liegt, das allerdings geeignet ist, an Erlebnisse zu erinnern, die lange oder sogar sehr lange zurück liegen, und mit denen man auf einmal wieder konfrontiert wird, kommen dann noch andere Faktoren hinzu, die auf die Stimmung drücken, wie Stress, Aufregung oder Kummer, kann es nach Ansicht der Fachleute manchmal zu diesen Beschwerden kommen, obwohl die unmittelbaren Gründe für Außenstehende als nicht besonders schwerwiegend angesehen werden, und hinsichtlich ihrer Folgen eigentlich kaum zu verstehen sind.

In den USA erkannte man, dass bei Frauen der Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen den sie vor langer Zeit erleben mussten, die Hauptursache für dieses Leiden ist, etwa 90 % der erkrankten sind Frauen, wobei nicht so sehr der Tod dieses Menschen eine Rolle spielt, sondern eher ein schmerzhafter Abschied, ein verlassen werden, das nie verarbeitet werden konnte, und die Verzweiflung darüber nicht aufhören will, und ein akutes Erlebnis, das für sich selbst gesehen, gar nicht so tragisch sein muss, jetzt alles wieder nach oben bringt, und sie gaben dieser Krankheit einen Namen, der sich genau darauf bezieht:

"Broken Haert", "gebrochenes Herz"

In Europa ging man noch einen Schritt weiter, weil man feststellte, dass die gleichen Symptome auftraten, wenn man eine schlimme Stresssituation immer wieder erlebt, oder diese nicht enden will, und man keine Möglichkeit hat, sie abzuschaffen, so musste eine Frau über lange Zeit mit ansehen, das ein Nachbar seinen Hund vernachlässigte, irgendwann konnte sie sein weinen nicht mehr ertragen und der eigene Körper kollabierte, Stress-Kardiomyopathie war die Diagnose,

"Broken Haert", "gebrochenes Herz"

Bei Ingrid war es die Vorbereitung auf die bevorstehende Heirat ihrer Nichte, die alles auslöste, denn seit etwa Juni, als die Hochzeit kurzfristig abgesagt wurde, tauchten Erinnerungen auf und Befürchtungen, dass ihr nun ähnliches droht, wie sie es damals selbst erlebt hatte, auch bei ihr liefen die Vorbereitungen, irgendwann entstand eine Stresssituation, es kam zum Streit, erst zwischen ihrem Bräutigam und ihr, dann mischte sich der Vater ein, dann eskalierte es, Vorwürfe, die sie längst ausgeräumt glaubte, wurden wieder laut, und zwar sehr laut, Beleidigungen folgten, und Worte, schlimm wie Messerstiche, und dann der Satz von ihm:

"Es ist aus", er stand auf und ging, und das war's dann,

davor hatte sie Angst, obwohl diese Befürchtungen bei ihrer Nichte völlig unbegründet waren, doch "Angst essen Seele auf" heißt es, sie konnte sich einfach nicht freimachen davon,
ob sie Kinder hätte wurde sie gefragt, sie schüttelte den Kopf, sie lebte zwar mit ihrem Lebensgefährten schon über 40 Jahre zusammen, aber Kinder, nein,

und wie wäre es mit dem ersten Mann gewesen?,
"mit ihm damals", sagte sie, und dann etwas leiser….."sofort"

sie bekam entsprechende Medikamente, und gute Ratschläge:
gesunde Lebensweise
nicht rauchen
Bewegung
und den Hinweis, nicht immer gleich das schlimmste befürchten, verbunden mit dem Hinweis:

"Wenn sie nachts aufwachen, weil Sie Hufgetrappel auf der Straße hören, keine Aufregung, es sind wahrscheinlich Pferde, und keine wild gewordenen Büffel",

mehr symbolisch gemeint, denn weder Pferde noch Büffel toben in der heutigen Zeit nachts durch die Straßen,
aber ich hörte einen anderen Satz, der eher zu Ingrid passen könnte:

"Wenn du nachts nicht schlafen kannst, kann es sein, dass du grad im Traum eines anderen bist",
vielleicht,

immerhin, eine sorgfältig auf den Patienten abgestimmte Behandlung kann nach Meinung von Fachleuten das Syndrom heilen, und die Herzkammerfunktionen wieder normalisieren,

die Ursache für Tako-Tsubo kann man offensichtlich nicht "so einfach" wegtherapieren, Erinnerungen können wieder kommen, ausgelöst durch ein simples Erlebnis, durch einen Satz, bei einem Besuch bestimmter Orte oder Plätze, und die Gefahr, wieder in die Tintenfischfalle zu geraten, ist wohl nicht auszuschließen,

man sagt, die Zeit heilt alle Wunden, offenbar nicht immer, oder nicht immer so ganz,

und das gilt für Männer und Frauen gleichermaßen.

Gerd Szallies

Bürgerreporter:in:

Gerd Szallies aus Laatzen

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