Fasching auf dem Land in Österreich

Vor dem Retzer Stadtamt.
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Zunächst ein Hinweis auf meinen Faschingsbeitrag von vor zwei Jahren:

https://www.myheimat.de/koelleda/gedanken/kindheitslexikon-fasching-d2729904.html

Nun ein  weiterer Beitrag aus meinen Jugenderinnerungen aus den Neunziger Jahren:

Kapitel 20.: Fasching in Retz

Kapitel 20. 1.: Pensionistennachmittag der Großgemeinde

5. Februar 1994

Kapitel 20. 1. 1.: Ankunft im altertümlichen Wirtshaussaal

Das Extrazimmer lag völlig leer da, als ich die Stufe am Eingang heruntertrat. Von weitem bemerkte ich durch die geöffnete Tür zum Schlittensaal bereits den Trubel dahinter.
Ich durchquerte die Doppeltür zum Inneren des Saales. Gleich rechts neben mir, am Rande der langen Holztheke, stand Hermann Neumayr vom Stadtamt. Er unterhielt sich gerade mit dem Wirt.
"Hallo, Hermann", begrüßte ich ihn.
"Servas, griaß di! – Du waßt eh, doass d' vuan oam Eahntisch Ploatz neman soist?"
"Ja, ja, hat mir der Bürgermeister schon vor ein paar Tagen gesagt", antwortete ich ihm schon im Gehen.
Ich durchquerte den langen Gang in der rechten Hälfte des Saales. An allen Tischreihen hatten bereits die alten Leute aus dem gesamten Gemeindegebiet Platz genommen, wie ich dabei feststellte. Zwischen den Tischreihen bewegten sich ein paar Vertreter vom Gasthauspersonal, die Bestellungen aufnahmen. Auf der kleinen Holzbühne im vorderen Bereich hatte auch das "Windmühlenecho" schon seine Sitze eingenommen. Der Ehrentisch schließlich befand sich am gegenüberliegenden Rande der Tanzfläche längs der Wand zum Stadtpark. An ihm saß hingegen noch niemand.
Ich nahm ganz am Rande Platz. Gleich neben mir lag die Tür zu der kleinen Holzbrücke über den Graben. Durch das Glas der Tür fiel der Blick auf das ehemalige Armenhaus im Park. Die Schneedecke auf seinem Dach bildete zusammen mit dem knallig blauen Himmel darüber einen auffallenden Kontrast. Und die Sonne stand bereits wieder etwas höher als in den vorangegangenen Wintermonaten.
Auf allen Plätzen des Tischs lag ein Manuskript. Ich warf einen Blick darauf. Gleich auf dem ersten Blatt war der Text des alten Volksliedes "Wahre Freundschaft" abgedruckt. Auch auf allen weiteren Seiten befanden sich Volksliedtexte, wie ich gleich darauf feststellte.

Eine unbestimmte Zeit war vergangen. Der Ehrentisch hatte sich nach und nach mit Vertretern des öffentlichen Lebens in der Gemeinde gefüllt. Neben mir saß inzwischen der Ortsvorsteher von Obernalb, der mich vom Äußeren her stets ein wenig an die österreichische Fußballlegende Herbert Prohaska erinnerte. Der Platz gegenüber war frei geblieben. Daneben saß Bäckermeister und Finanzstadtrat Gold, der Mann mit der schnellen und unverständlichen Aussprache.
Plötzlich verstummten nach und nach alle Gespräche. Stattdessen pflanzte sich von den hinteren Reihen ausgehend Beifall fort. Ein paar Sekunden später erkannte ich auch den Grund: Die Jagdhornbläsergruppe betrat in ihren grünen Waidmannsanzügen den Saal. Auf der Tanzfläche angekommen, nahm sie im Halbkreis Aufstellung und begann sofort zu spielen.

Kapitel 20. 1. 2.: Begrüßung der Ehrengäste

Noch als die letzten Töne der Jagdhornbläser verklangen, ging Stadtrat Gruber bereits auf das Mikrophon zu. "Ein Dankeschön an die Jagdhornbläsergruppe unter der Leitung von Hornmeister Rudolf Schach, die ich an dieser Stelle auch sehr, sehr herzlich begrüßen darf", verlautbarte er nach dem Ende des Spiels. "Als Stadtrrrrat fürrrr Tourrrrismus freut es mich, dass Sie, meine Damen und Herren, die Einladung des Gemeinderates der Stadtgemeinde Retz angenommen haben und so zahlreich zu diesem Faschingstreffen erschienen sind. Eine Vielzahl musischer Menschen wird bemüht sein, Ihnen ein paar fröhliche, sorglose und hoffentlich auch unterhaltsame Stunden zu schenken.
Zunächst danke ich aber dem Gastgeber, dem Herrn Bürgermeister Dipl.-Ing. Adolf Schehr, für das Zustandekommen dieser Veranstaltung, und darf ihn um seine Begrüßungsworte bitten."
Beifall. Der Bürgermeister erhob sich vom Ehrentisch. Er schob sich an den Stühlen der anderen Ehrengäste vorbei, welche sogleich enger an den Tisch heranrückten, und ging auf Gruber zu. Dort angekommen, übergab Gruber ihm das Mikrophon. "Geschätzte Pensionisten, werte Senioren, sehr geehrte Ehrengäste!
So wie es schon lange Tradition ist, haben wir, die Stadtgemeinde Retz auch in diesem Jahr wieder alle unseren älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger aus der Stadt Retz selbst sowie den Katastralgemeinden Obernalb, Unternalb, Kleinhöflein und Kleinriedenthal hierher ins Schloßgasthaus zu unserem traditionellen Pensionistennachmittag in der Faschingszeit eingeladen. Auch ich darf mich bei Ihnen allen für Ihr Kommen bedanken und mich der Hoffnung des Herrn Stadtrat anschließen, dass es uns gelingen möge, ein paar schöne Stunden frei von allem Alltagsstress zu verbringen.
Wie sie sehen, hat sich auch wieder eine Reihe von Vertretern des öffentlichen Lebens in der Stadt zu unserer Zusammenkunft eingefunden. An der Spitze der Ehrengäste darf ich begrüßen unseren Herrn Altbürgermeister Johann Widlak."
Beifall.
"Und gestatten Sie mir, noch einen Mann zu begrüßen, ebenfalls schon in den Seniorenreihen: unseren ehemaligen Stadtamtsdirektor Gilbert Bürr."
Beifall.
"Und seitens der Gemeindevertreter darf ich zum heutigen Nachmittag begrüßen ganz besonders unseren Herrn Finanzstadtrat Cyrill Gold", ... Beifall, "... unseren Herrn Stadtrat Karl Gebhardt", ... Beifall, "... Stadtrat Helmut Wiesmann", ... Beifall, "... den Obernalber Gemeindevorsteher Helmut Kellner", ... Beifall, "... und sozusagen die gute Seele des Stadtamtes, der Motor, der alle Verbindungen und Transmissionen herstellt, unseren Herrn Stadtamtsdirektor Andreas Piglmayer."
Beifall.
"Ein ganz besonderes Dankeschön gilt unserem Herrn Amtsoffizial Hermann Neumayr. Dem auch in diesen Jahr wieder, assistiert von seinem Kollegen Herrn Franz Körberl, die wie immer bereits Anfang des Jahres begonnenen Vorbereitungsarbeiten zu dieser Feier oblagen."
Beifall.
"Für guten Ton sorgt wie immer unser Gemeindetechniker Herr Gerfried Bandl."
Beifall.
"Und ein ganz besonderes Dankeschön für den Mann, der heute die meiste Arbeit hat, die einzelnen Gruppen ansagen wird – bei den einzelnen Gruppen darf ich mich jetzt schon recht herzlich bedanken: unser altbewährter Dir. Reinhard Gruber."
Beifall.
"Begrüßen darf ich nicht zuletzt auch Herrn Christoph Altrogge von den 'Bezirksnachrichten Hollabrunn' und bitte um eine gute Berichterstattung!"
Beifall. Ich stand wie immer bei solchen Gelegenheiten kurz auf, nickte in alle Richtungen und setzte mich wieder.
"Es freut uns alle, dass so viele Pensionisten aus der Stadt dem Ruf der Gemeinde gefolgt sind und heute bei diesem Nachmittag hier einige Stunden der Fröhlichkeit, der Unterhaltung verbringen wollen. Die Gemeinde wird sich bemühen, und da bin ich mir auch sicher, auch die ganzen Akteure werden dementsprechend wirken und arbeiten, und ich wünsche Ihnen für den heutigen Nachmittag Gesundheit, Fröhlichkeit. Und in diesem Sinne wünsche ich Ihnen gute Unterhaltung und viel Vergnügen!"
Beifall.
Nach den Worten des Bürgermeisters übernahm Gruber wieder das Mikrophon. "Ich danke dem Herrn Bürgermeister für seine Begrüßungsworte. Meine Damen und Herren. Viel hat sich seit unserem letzten Pensionistennachmittag vor einem Jahr ereignet. Nur einige Höhepunkte möchte ich erwähnen: ..." Im Anschluss zählte er die wichtigsten Ereignisse aus der Weltpolitik und der österreichischen Innenpolitik während der letzten zwölf Monate auf.
"Bei verschiedenen Wettbewerben", wechselte er dann das Thema, "hat die Jagdhornbläsergruppe Retz großartige Ergebnisse erzielt und mehrfach Medaillen in Gold, Silber und Bronze errungen. Ich möchte Sie nun gerne mit den ausübenden Mitgliedern der Gemeinschaft bekanntmachen. ..."
Nacheinander wurde ein Musiker nach dem anderen namentlich und mit Instrument vorgestellt. Jeder Genannte trat dabei kurz nach vorn.
"Seit Kaiser Maximilian I.", erzählte er danach, "erfolgt die Jagd nach strengen Regeln. Es gibt die Nieder- und Hochwildjagd, die Pirsch, die Suchjagd, die Erdjagd, die Wasserjagd, die Fangjagd, die Brunft- und Balzjagd, die Treibjagd, die Hüttenjagd und noch viele andere mehr. Als Nächstes, meine Damen und Herren, als nächste Darbietung hören Sie nun die Musikstücke 'Wildchoral' und 'Auf, auf zum fröhlichen Jagen'. Ich bitte."

Kapitel 20. 1. 3.: Presseartikel über das Schulleben

Ich beschloss, die Zeit hier zu nutzen, um nebenbei zwei Artikel für die Zeitung über gerade aktuell laufende Sachen bei uns an der Schule zu verfassen.
Ich begann mit einem Bildtext unter ein Foto:

"Zu einem Informationsabend für Eltern zukünftiger Schüler lud am 21. 01. die Handelsschule/Handelsakademie Retz in ihre Räumlichkeiten ein. Ausführlich wurden dabei die beiden Schultypen vorgestellt, die gemeinsam in der Bildungseinrichtung unterrichtet werden."

"Maturaprojekt-Präsentationen
Matura-Projektarbeiten zu folgenden Themen wurden in der vergangenen Woche von den Schülerinnen und Schülern der fünften Jahrgänge der BHAK Retz in ihrem Schulgebäude der Öffentlichkeit vorgestellt:
Einführung eines Kostenrechnungssystems bei der Stadtgemeinde Retz.
Fiktive Unternehmensgründung eines Bekleidungsgeschäftes in Retz.
Freizeiteinrichtungen im Retzer Land.
Kultur- und Weiterbildungsangebote in der Region Retz.
Bildungsinstitutionen: Znojmo – Retz.
Umstieg von konventionellem auf biologischen Landwirtschaftsbetrieb.
Duty Free Shop.
Eine Neuheit in diesem Jahr: Erstmals soll eines der entwickelten Projekte tatsächlich in der Realität umgesetzt werden, und zwar das Kostenrechnungssystem. Es wird in den kommenden Monaten von der Stadtgemeinde installiert werden."

Kapitel 20. 1. 4.: Eine Kolumne für den "Outlaw"

Schon als die Kapelle zu spielen begann, war mir mit einem Male eine Idee für eine meiner nächsten Kolumnen im "Outlaw" gekommen. Ein satirischer Angriff auf den zurzeit immer schlimmer werdenden Neoliberalismus. Von der Form eine der allseits beliebten Vater-Unser-Abwandlungen. Und betiteln werde ich das Ganze, schoss es mir durch den Kopf, mit "Kostenrechnung unsere. Gebet eines wirtschaftsliberalistischen Managers".
Gleich als ich mit den anderen Artikeln fertig war, begann ich daher die gerade gefundene Überschrift festzuhalten: "Kostenrechnung unsere. Gebet eines wirtschaftsliberalistischen Managers."
Wie ich es schon vom Artikelverfassen aus den vergangenen Wochen kannte, begannen sich, wenn ich einmal den ersten Satz gefunden hatte, alle weiteren Zeilen irgendwie von selbst zu schreiben:

"Kostenrechnung unsere im Wirtschaftsleben,
geheiligt werden deine Zahlen.
Dein Ertrag komme.
Dein Wille geschehe,
wie in den Betrieben,
so im Sozialwesen.
Unser tägliches Leistungssoll gib' uns heute.
Und vergib uns unsere sozialen Anwandlungen,
wie wir denen niemals vergeben,
die deinen Ansprüchen nicht genügen.
Und führe uns nicht in die Lage der Globalisierungsverlierer,
sondern erlöse uns von den Gewerkschaften.
– Teil des Pfarrers:
Erlöse uns, Kostenrechnung,
allmächtiges Kontrollinstrument,
von allen Sozialromantikern
und gib Effizienz in unseren Betrieben.
Komm uns zu Hilfe mit deinen Tabellen
und bewahre uns vor Mitleid mit den sozial Schwachen,
damit wir voll Zuversicht das Kommen der Aktionärsversammlung erwarten. –
Denn dein ist der Umsatz
und die Rentabilität
und die Gewinnmaximierung
in Ewigkeit

Amen!"

Und gleich darauf fiel mir noch eine zweite Parodie in dem Stil ein. Eine auf die Tatsache, dass die Aktienkurse eines Unternehmens an den Börsen sofort in die Höhe schießen, sobald dieses Unternehmen ankündigt, Stellen abzubauen:

"Aktien plus Sahne. Parodie auf den Dany + Sahne-Jingle.

Meine
Kurse
hab' ich immer im Kopf.
Drum
spare ich
beim Arbeiter,
diesem dummen Tropf.
Ich
kündige
heut einem
und morgen dann dem Rest.
Das ist
was den
Aktionär erfreu-heu-heu-en lässt.
(Während der letzten Zeile öffnet der Unternehmer seinen überdimensionalen Geldschrank, wo ihn – analog zu den Jogurtbechern im Kühlschrank – die heraus fallenden Geldbündel zu Boden werfen.)"

Kapitel 20. 1. 5.: Blasmusik, Gesang, Literatur und Tanz

"Beim nächsten Punkt unseres Programms, meine Damen und Herren, werden wir zur Abwechslung einmal alle gemeinsam musikalisch tätig werden", kündigte Gruber an. "Sie werden sicher schon die Liedtexte vor sich bemerkt haben. Das erste Lied, das wir für sie herausgesucht haben, trägt den Titel 'Wahre Freundschaft'."
Nachdem er seinen Satz beendet hatte, gab er der Kapelle hinter sich ein Zeichen. Als Reaktion darauf spielte diese die Melodie des Liedes an. Im nächsten Augenblick sang bereits, unterstützt vom "Windmühlenecho", der ganze Saal den Text dazu. Gruber legte sich dabei am Mikrophon besonders ins Zeug, um zu animieren. Nach ein paar Augenblicken fing er an, singend die Tischreihen zu durchstreifen. Wo er während des Gehens immer wieder dirigierende Armbewegungen machte. Auch die am Ehrentisch Sitzenden waren in das Lied mit eingefallen. Zum ersten Mal hörte ich Vertreter des Gemeinderates singen. Bald darauf dröhnte der ganze Saal.

"Hervorragend!" rief Gruber, nachdem die letzten Töne verklungen waren.
"Das 'Windmühlenecho'", erzählte er anschließend, "wurde 1983 gegründet, und in dieser Besetzung besteht die Kapelle seit 1987. Kapellmeister ist Amtsdirektor Karl Specht, die musikalische Leitung ... " Es folgte eine längere Vorstellung der einzelnen Mitglieder.
"Dieses Blasmusikensemble tritt vorwiegend auf Frühschoppenveranstaltungen, auf den Retzer Weintagen, auf dem Weinlesefest, auf Hochzeiten und diversen Veranstaltungen auf. Schwerpunkt ihrer Musik ist die österreichische und böhmische Blasmusik, wie Polka, Marsch, Walzer und Ländler sowie Stücke aus dem großen Repertoire der Volksmusik. Spezialisiert hat sich die Kapelle auf österreichische Unterhaltungsmusik, vorwiegend Polka und Walzer. Hören Sie nun vom 'Windmühlenecho' den 'Bozener Bergsteigermarsch'."

Als die Nummer beendet war, warf der Tubaspieler sein Instrument in die Luft und fing es wieder auf. Durch die Aktion bemerkte ich, dass es sich bei dem Musikanten um den Weinbauer Dohnal handelte. Der, der vor dem auffallendem Ziegelsteinportal seines Kellers in der Windmühlgasse ab und zu ein Essen für Touristen ausrichtete.
"Wechseln wir nun vom musikalischen ins literarische Genre", sagte Gruber den nächsten Veranstaltungspunkt an. Und zwar hat der Herr Kantor für uns ein paar dichterische Texte herausgesucht, die allesamt irgendeinen Bezug zu unserer Region haben. Paul, ich bitte dich um deinen Beitrag."
Beifall.
Ein Mann erhob sich aus dem Publikum und bewegte sich nach vorn. "Der Text, den ich Ihnen vortragen möchte", teilte er anschließend durch das Mikrophon mit, "stammt aus der Feder von Gregor Korner. Dr. Gregor Korner, nach dem auch eine Straße in Retz benannt ist, wurde 1585 zu Hirschberg in Schlesien geboren. Er studierte in Prag Philosophie und in Graz Theologie, wo er auch die Priesterweihe empfing. In den Jahren 1619 bis 1624 wirkte er als Pfarrer von Retz und Nalb. In dieser Zeit erwarb er sich große Verdienste durch die Herausgabe des 'Großen Catholischen Gesangbuches'. Dieses gehörte in der damaligen Zeit bald zu den bedeutendsten religiösen Gesangsbüchern im gesamten deutschsprachigen Raum. 1628 wurde Korner schließlich Theologieprofessor an der Universität Wien, der er in späteren Jahren auch als Rektor vorstand.
Das Stück Dichtwerk, welches wir nun vom ihm hören werden, trägt den Titel 'Auferstehung'."
Er ordnete kurz seine Blätter und begann dann vorzutragen:
"Auferstehung

Als Jesus war zu Grab gebracht,
schicket Pilatus eine Wacht
mit einem Hauptmann und drei Gemein,
die fanden bei dem Grab sich ein.
Sie gaben dem Arimathea Befehl:
'Wälz für die Tür ein Grabstein schnell!'
Und da Josephus dies hat tan,
heft't der Hauptmann ein Siegel dran.
Bezeuget so den rechten Verschluß
mit Petschaft des Kaisers Tiberius. –
Maria mit ihrem Geleit
vom Grabe gar traurig scheid't.
Die Kriegsknecht' aber stunden ihr' Wacht
vom Abgang der Sunn bis Mitternacht.
Dann lösten s' andere Kriegsknecht' ab,
die hüten bis zum Aufgang das Grab.
Sie pflagens so auch am Sabatstag
und stunden getreulich ihr Wacht ohn' Klag
die Osternacht bis morgens drei.
Da wußten s' nit, was das nun sei?
Ein Beben warf sie nieder.
Ein Schreck fahrt durch die Glieder.
Der Grabstein sich zur Erden neigt.
Im Grabe sich ein Lichtschein zeigt,
und der ist also helle,
er blend't sie auf der Stelle.
Doch also gleich entfleucht der Schein. –
Da dringen in das Grab sie ein.
Es wundern sich die Kriegsknecht' sehr:
Der Stein ist weg, das Grab ist leer!"

Gruber trat wieder ans Mikrophon. "Die Gründung der Volkstanzgruppe erfolgte Mitte der Siebziger Jahre", erzählte er. "Gepflegt werden besonders niederösterreichische und alpenländische Volkstänze. Geleitet wird die Gruppe von Christian Hammerl. Ich darf Ihnen nun die ausführenden Damen und Herren der Volkstanzgruppe namentlich vorstellen ..."
Noch während er sprach, kam die Gruppe bereits von Beifall begleitet paarweise hereinmarschiert. Einer der Tänzer war Herr Seitenstetter, der Besitzer des Inneneinrichtungsstudios in der Lehengasse.
Nachdem Gruber alle Mitglieder der Gruppe vorgestellt hatte, kündigte er an: "Im ersten Teil sehen Sie folgende Tänze: Kaiserlandler, Wiesendorfer und Tuschpolka."
Die Akkordeonspielerin stimmte eine Melodie an. Kurz darauf setzte das charakteristische Händeklatschen und Stampfen der Tänzer ein.

Die Darbietung war beendet. Mit der rechten Hand winkend verließen die Tänzer in einer langen Kette den Saal. Herr Seitenstetter gab während des Auszuges ein lautes "Juuuuhuhuhu!!!" von sich.
"Ich bitte nun wieder unseren Herrn Kantor nach vorn", forderte Gruber auf.
Der Gerufene bewegte sich eiligen Schrittes durch den Mittelgang und bezog wieder hinter dem Mikrophon Stellung. "Wir machen nun literarisch einen riesigen Sprung aus dem 16. Jahrhundert in die Gegenwart. Und zwar habe ich da ein Gedicht aus einem Band mit dem Titel 'Beobachtungen am Manhartsberg' von Alois Vogel mitgebracht. Alois Vogel, der eine oder andere unter ihnen wird ihn vielleicht sogar persönlich kennen, wurde 1922 in Wien geboren. Seit 1976 lebt und arbeitet er als freier Schriftsteller in unserer Nachbargemeinde Pulkau. Das Gedicht, das ich von ihm herausgesucht habe, trägt den Titel 'Im Nebel der Wälder'. Ich habe es deshalb genommen, weil es meiner Ansicht nach eine so treffende Beschreibung der Landschaft in unserer näheren Umgebung beinhaltet.

'Im Nebel der Wälder …'"

"So, meine Damen und Herren, jetzt greifen wir wieder zu unseren Liedertexten. Von einem jungen Handwerksburschen aus Schwaben in Deutschland, der sich auf die Walz begeben muss und dem der Abschied aus der liebgewordenen Heimat schwerfällt, erzählt uns unser nächstes Lied. 'Muss i denn zum Städtele naus'."

"Sie sehen schon, meine Damen und Herren, das Jagdhornbläserensemble hat bereits wieder Aufstellung genommen. Hören Sie nun die Musikstücke 'Reitermarsch' und 'Auf, auf, zum fröhlichen Jagen'."
Beifall.

"Als nächsten Programmpunkt erfreut uns Herr Kantor wieder mit Literatur aus unserer Region."
Dieser stand bereits neben dem Stadtrat und kündigte gleich darauf an: "Hören Sie nun ein weiteres Gedicht von Alois Vogel:

'Unkraut am Hang …'"

"Noch einmal verschönt uns das 'Windmühlenecho' mit Blasmusik unseren bunten Nachmittag."

"So, nun wollen wir wieder unsere Liedtexte zur Hand nehmen. 'Lustig ist das Zigeunerleben' heißt unser nächstes Lied." Und nach einem kurzen Augenblick des Blätterns fügte Gruber noch hinzu: "In der dritten Strophe kommt dabei die Zeile '... trinken das Wasser wie Moselwein, ...' vor. An dieser Stelle, meine Damen und Herren, werden wir statt 'Moselwein' selbstverständlich 'Retzer Wein' singen. Wir wollen damit unsere Verbundenheit mit unseren regionalen Weinbauern zum Ausdruck bringen, die Tag für Tag ganz hervorragende Arbeit leisten. Los geht's!".

"Noch einmal erfreut uns die Volkstanzgruppe mit ihren Tänzen. Ich bitte um den Auftritt."
Beifall.

"Als Nächstes werden wir wieder gemeinsam singen. 'Es steht eine Mühle.'"

Fast unbemerkt war eine Stunde vergangen. Das "Windmühlenecho", die Jagdhornbläsergruppe, noch einmal das "Windmühlenecho" und zum Schluss die Volkstanzgruppe hatten noch je einen Auftritt absolviert.
"Mit dem Musikstück 'Auf Wiedersehen' verabschiedet sich die Jagdhornbläsergruppe von Ihnen", moderierte Gruber.
Beifall.

"Unser nächster Programmpunkt ist ein besonders wichtiger, geht es doch darum, den fünf ältesten anwesenden Damen oder Herrn mit einer kleinen Aufmerksamkeit für ihr Kommen zu danken. Herr Bürgermeister, ich bitte dich, die Ehrungen vorzunehmen."
Schehr verließ abermals seinen Platz am Ehrentisch und betrat die Tanzfläche, wo ihm Gruber das Mikrophon sowie einen Zettel übergab. Der Bürgermeister warf kurz einen Blick darauf und verkündete dann: "Unsere Spitzenreiterin ist die Frau Kellner aus Obernalb, die Großmutter des dortigen Ortsvorstehers. Sie zählt sage und schreibe stolze 100 Lenze. Frau Kellner, ich darf Sie zu mir nach vorn bitten."
Beifall ertönte. Noch während der Stadtrat und der Bürgermeister moderierten, war Stadtamtsmitarbeiter Franz Körberl bereits zu den Tischen ringsherum gegangen. Von dort aus hatte er insgesamt fünf der massiven Holzstühle weggenommen. Und am Rande der Tanzfläche in einer Reihe nebeneinander aufgestellt.
Wenige Augenblicke nach dem Aufruf erschien auch schon die Hundertjährige. Gestützt von Franz Körberl zwar, ansonsten aber für ihr Alter noch in sehr guter Verfassung wirkend. Körberl platzierte sie schließlich auf dem Stuhl ganz in der Mitte.
Nacheinander wurden auch die restlichen vier Ältesten nach vorn gebeten, geordnet nach absteigender Zahl von Lebensjahren. Der Bürgermeister sagte jeweils den Namen, den Wohnort und das Alter an. Nach jedem Aufruf erfolgte Beifall aus dem Saal.
Ich nahm meine Arbeitstasche zu mir herauf, welche die ganze Zeit neben mir gestanden hatte. Ich packte die Kamera aus und hängte sie mir um. Danach stellte ich mich zunächst an die Ecke von der Tür zum Park, gleich neben meinem Platz. Auch Hermann Neumayr hatte inzwischen seinen Platz am Ehrentisch verlassen, wie ich in dem Augenblick bemerkte. Er lief nun eilig herum und gab Anweisungen.
Schließlich waren alle der fünf ältesten Anwesenden vorn angelangt und platziert worden. Ich stellte die Kamera an und ging bis auf ein paar Schritte an den Bürgermeister heran. Dieser wandte sich zunächst an die Hundertjährige: "Frau Kellner, ich darf Ihnen auf das Herzlichste zu Ihrem erreichten Alter gratulieren, Ihnen Gesundheit und Wohlergehen wünschen. Und wir alle würden uns freuen, Sie im nächsten Jahr hier wieder in Ihrem 101. Lebensjahr begrüßen zu dürfen."
Wieder machte sich Beifall breit. Franz Körberl, der schon die ganze Zeit mit einem Präsentkorb und einem Blumenstrauß neben ihm stand, übergab beides dem Bürgermeister. Dieser reichte die Dinge an die Hundertjährige weiter. "Ich darf Ihnen namens der Stadtgemeinde ein kleines Zeichen unserer Wertschätzung überreichen", kommentierte er die Übergabe.
"Aber auch für die anderen Herrschaften hier vorn", teilte der Bürgermeister anschließend dem Publikum mit, "haben wir selbstverständlich ein kleines Geschenk vorbereitet. Und was käme in Retz als Geschenk auch Anderes in Frage als Wein?"
Danach schüttelte er auch noch den restlichen vier Anwesenden die Hand und wünschte ihnen Gesundheit und Wohlergehen. Körberl lief dabei ständig zwischen Bühne und Stuhlreihe hin und her und holte immer eine der Geschenkpackungen mit jeweils drei Flaschen Inhalt. Diese überreichte der Bürgermeister dann jeweils.

Die Ehrung war beendet. Ich hatte alle Bilder gemacht, um die mich Thomas gebeten hatte. Ich setzte mich zurück an den Tisch und packte die Kamera wieder in die Tasche. Auf der Tanzfläche gab inzwischen der Bürgermeister Gruber das Mikrophon zurück. Welcher danach dem Publikum mitteilte: "Noch einmal erfreut uns Herr Kantor mit seinen literarischen Vorträgen. Ich bitte ans Mikrophon."
Der Genannte erhob sich von der Bühne, auf dessen Rand er zuvor gesessen hatte, und nahm abermals Grubers Stelle ein.
"Bekanntlich ragen sich um die Ortschaften im Retzer Land jede Menge Sagen und Legenden. Eine davon, welche von unserer Stadt handelt, möchte ich Ihnen jetzt vorlesen.

'Die Schratteln in Retz

Heiß war's bei der Weingartenarbeit in der Riede Sonnleiten, als mehrere kleine zwergähnliche Gestalten, die so genannten Schratteln, vor den Hauersleuten auftauchten. Einen Trunk kühlen Wassers wollten sie gern haben, aber der Wunsch blieb unerfüllt, obwohl der mit kühlem Nass gefüllte tönerne 'Plutza' – so wurde damals ein kürbisförmiger Keramikkrug genannt – für alle gereicht hätte. Die Hartherzigkeit sollte sich noch bitter rächen. Die Schratteln verwünschten alle Quellen rund um Retz, und die Retzer saßen im Trockenen. Jetzt erst wurde ihnen die trostlose Situation bewusst, und sie beknieten die Schratteln. Ein kleines Zugeständ-nis konnten ihnen die Retzer abringen: Eine einzige Quelle wurde freigegeben. Aber die musste erst gesucht werden, und dafür kam nur ein gutherziges Mädchen aus dem Ort in Fra-ge.'"

Nach dem Literaturvortrag übernahm Gruber wieder das Mikrophon. "Langsam, meine Damen und Herren, neigt sich der erste Teil des heutigen Nachmittages dem Ende zu.
Ich darf Sie bitten, noch ein letztes Mal zu Ihren Liedertexten zu greifen. Einer der bedeutendsten österreichischen Komponisten war Franz Schubert. Das bekannteste Lied, das er uns hinterlassen hat, war wohl ohne Zweifel 'Am Brunnen vor dem Tore'. Welches wir zum Abschluss dieser Veranstaltung gemeinsam singen wollen. Sie finden es in Ihren Liedtexten ganz an hinterster Stelle."

"Mit diesem Lied, meine Damen und Herren, haben wir den ersten Teil dieser Veranstaltung beendet. Ich hoffe sehr, dass dieser Nachmittag allen Beteiligten noch lange in Erinnerung bleibt.
Für das Zustandekommen der Veranstaltung darf ich nochmals Herrn Hermann Neumayr und Herrn Stadtamtsdirektor Piglmayer besonderen Dank abstatten. Beide haben vorbildliche Arbeit geleistet.
Ich wünsche Ihnen nun noch gute Unterhaltung für den zweiten Teil des heutigen Nachmittages. Wo die Stadtgemeinde Sie alle dann zu einem Paar Würstel mit Gebäck, einem Getränk Ihrer Wahl, einer Tasse Kaffee und jeder Menge Faschingskrapfen einladen möchte. Das 'Windmühlenecho' wird dazu noch bis Dreiviertel Sechs anspruchsvolle musikalische Weisen liefern. Doch zunächst werden die Musiker als krönenden Abschluss des erstes Teils der Veranstaltung für Sie den Marsch der Märsche spielen, den Radetzkymarsch von Johann Strauß Vater. Ich bitte dabei um fleißiges Mitklatschen.
Mir selbst bleibt nur noch übrig, mich bei Ihnen allen für Ihr Kommen zu bedanken. Und mich bei Ihnen bis zum Pensionistennachmittag im nächsten Jahr zu verabschieden. Zu dem ich Sie jetzt schon alle wieder sehr herzlich einladen darf!"
Tosender Beifall folgte.

Kapitel 20. 1. 6.: Würstchen, Bier, Krapfen und Kaffee

Nach dem Marsch hatte die Kapelle zunächst kurz Pause gemacht. Danach hatte sie ihre Stühle an die Wand ganz vorn im Saal gestellt. Von dort aus setzte sie ihr Spiel fort. Bald darauf füllte sich die Tanzfläche mit Paaren.
Eine Kellnerin erschien, welche zusammengeheftete kleine Kärtchen ausgab. Ich entfernte die Büroklammer, die sie zusammenhielt, und sah sie mir näher an. Ein grünes, ein weißes und ein oranges kamen zum Vorschein. Das Grüne trug die Aufschrift "1 Paar Würstel". Auf dem Weißen stand "1 Getränk" geschrieben. Und "1 Kaffee" war auf dem Orangen zu lesen. Auf jedem einzelnen befand sich auch der Stempel der Stadtgemeinde. Darunter der Schriftzug "Stadtgemeinde Retz, 2070, Hauptplatz 30".
Auf dem frei gewordenen Stuhl mir gegenüber, auf dem einige Zeit zuvor noch Finanzstadtrat Gold gesessen hatte, nahm Hermann Neumayr Platz. Er wirkte sichtlich erleichtert darüber, dass die Feier, die maßgeblich er organisiert hatte, so gut über die Bühne gegangen war und es allen gut gefallen hatte.
Mir fiel ein, dass ich noch die Namen der ältesten Anwesenden brauchte. "Bevor ich's vergesse", sprach ich ihn an, "kann ich mir schnell noch die Namen der vom Bürgermeister Geehrten mitsamt Wohnort und Lebensjahren abschreiben?"
"Koast eh glei mei Zedl kriagn. I brauch eahm nimma." Er schlug eine Mappe auf, die er vor sich auf dem Tisch liegen hatte, und gab ihn mir.
"Man dankt." Ich nahm die Tasche zu mir hoch und öffnete das schmale Fach zwischen Kamerafach und Taschenrückseite. Aus ihm entnahm ich den Hefter, den ich für solche Anlässe stets bei mir trug, und legte den Zettel hinein.
Danach sah auf die Uhr. Der Zeiger näherte sich Viertel Fünf. Ich überlegte kurz, was ich mit dem Rest des Tages anfangen sollte. Ich entschied mich dann, erst einmal die Bons und auch ein paar von den Krapfen zu konsumieren. Danach würde ich noch bis zum Ende der Veranstaltung um Dreiviertel Sechs bleiben. Anschließend gehe ich dann gleich in die Kirche zur Samstagabendmesse.

Kapitel 20. 2.: Volksschulfasching

13. Februar 1994

Kapitel 20. 2. 1.: Ankunft im barocken Volksschulgebäude

Die Turmuhr der benachbarten Stadtpfarrkirche schlug Viertel Zwei. In dem Moment betrat ich den langen, abschüssigen Kleinpflasterweg zum Volksschultor herunter. Ein ganzes Stück vor mir bewegten sich bereits ein paar Eltern mit kostümierten Kindern. Sie hatten schon fast den Eingang des Gebäudes erreicht.
Beim Hinabgehen sah ich nebenbei zu den beiden Mäuerchen, die den Weg links und rechts von den Grünanlagen trennten. Dabei fiel mir auf, dass der Schnee darauf bereits etwas in sich zusammengesunken war. Überhaupt schien schon beträchtlich weniger Schnee zu liegen, wie ich gleich darauf als Nächstes feststellte. Auf jeden Fall weniger als noch beim Pensionistennachmittag vor acht Tagen. Vielleicht ließ dieser nicht enden wollende Winter doch langsam nach, dachte ich.
Ich öffnete das braune Holztor. Ein kleiner Durchgang zum Pfarrhof tat sich auf.
Nur wenige Schritte hinter der Tür befand sich mitten im Gang ein Pfeil mit der Aufschrift "Zum Kindermaskenball". Seine Spitze zeigte in einen offenstehenden Raum mit Garderobenbänken in Kindergröße links neben dem Tor. Unzählige Jacken und Mäntel befanden sich an ihren Haken, in erster Linie von Erwachsenen.
Hinter einem Tisch stand ein Lehrer, den ich nur vom Sehen her kannte. Offensichtlich war er für die Garderobe der Gäste zuständig. "Grüß Gott!" rief ich ihm zu, während ich den Raum betrat.
Ich zog meine Jacke aus und gab sie ihm. Anschließend öffnete ich den Reißverschluss von dem kleinen Fach ganz vorn an der Tasche. Ich entnahm das Portemonnaie und wollte einen Zwanzig-Schilling-Schein in das Körbchen auf dem Tisch legen. Er wehrte jedoch ab. "Naa, dös paaßt scho. Ois Presse miassns nix zoin." Danach überreichte er mir einen viereckigen, grünen Papierbon mit der Ziffer 98.
"Na gut, ich danke."
Ich steckte das Portemonnaie wieder weg und verließ den Raum. Das barocke, viereckige Treppenhaus schloss sich an. Aller möglicher Lärm drang aus dem ersten Stockwerk nach unten.
Bereits auf dem Absatz kamen mir ein paar maskierte Kinder entgegengesprungen.
Oben tat sich ein in beide Richtungen langgestreckter Flur auf. Wie mir schon auf halber Treppe aufgefallen war, hatten sich bereits unzählige Gäste eingefunden. Kinder liefen herum oder standen bei ihren Eltern. Dazwischen trugen zwei Lehrerinnen volle Kuchenbleche entlang. Ein Lehrer folgte ihnen mit einem Kasten Limonadenflaschen.
Ein ganzes Stück vor mir sah ich Herrn Wiklicky stehen. Auf seiner Schulter befand sich sein zweijähriger Sohn Klaus. Mit einem weißen Umhang und gepunktetem roten Hut war er als Fliegenpilz verkleidet worden. Daneben entdeckte ich Hermann Neumayr vom Stadtamt. Er war gerade damit beschäftigt, zwei kleine Kinder für ein Bild zu arrangieren.
Ich beschloss, mich ebenfalls erst einmal um die Bilder zu kümmern. Ich begann daher Direktor Zimmering zu suchen, damit er mir half, ein paar Kinder zusammenzustellen.

Kapitel 20. 2. 2.: Vor der Eröffnung

Kurze Zeit später hatte der Direktor einen Sultan, eine Prinzessin, einen Indianer, eine Maus, einen Frosch, einen Cowboy und einen "Raumschiff Enterprise"-Offizier zu mir geschickt. Vor dem Hintergrund einer Wand mit vielen Wasserfarbenzeichnungen rückte ich alle zu einem Halbkreis zusammen. Schließlich machte ich die Aufnahmen.
"Danke, das war's auch schon wieder", rief ich danach in die Runde hinein, worauf die Kinder in alle Richtungen auseinanderstoben.
Damit hatte ich das Wichtigste erst einmal hinter mich gebracht. Ich beschloss daher, mir eine etwas ruhigere Ecke zu suchen, von der aus ich den Beginn der Veranstaltung abwarten würde. Ich begann den Flur nach rechts hinabzugehen. Immer wieder wich ich dabei entgegenkommenden Kindern aus. Lehrer betraten oder verließen offenstehende Klassenzimmer. In der Regel hatten sie dabei etwas zu Essen oder zu Trinken in der Hand. Unaufhörlich flogen Konfettis und Papierschlangen durch die Luft.
Nahezu jede Ecke des Flures war auf irgendeine Weise geschmückt worden. Überall an den Wänden, der Decke und den Fenstern befanden sich Girlanden. An den Mauerteilen zwischen gleich etlichen Fenstern waren Papierlampignons befestigt. Papierschlangen hingen davon herunter. Auch in den Klassenräumen hingen überall Girlanden und Papierschlangen von der Decke herab, wie ich im Vorbeigehen mitbekam. Zwischen all dem waren Unmengen Zeichnungen und Bastelarbeiten von Kindern zu sehen.
Vom Ende des langen Flures zweigte links ein kleiner Nebenflur ab. Auf seiner linken Seite setzten sich die Fenster von vor dem Gang fort. Geradeaus, an seinem Ende, tat sich ein Saal auf.
Der Gang war noch relativ leer. Ich stellte mich schließlich in die Ecke zwischen Fensterwand und Saaleingang. Durch die geöffneten Türflügel fiel der Blick in den Saal hinein. Unzählige barocke Verzierungen befanden sich an seinen Wänden. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Art Festsaal des Gebäudes, schlussfolgerte ich.

Kapitel 20. 2. 3.: Eröffnung im historischen Festsaal

Eine halbe Stunde später verstummte mit einem Male der Lärm im anderen Flur. Stattdessen machte sich Beifall breit. Im nächsten Augenblick kam eine Unzahl kostümierter Kinder in Begleitung einer Lehrerin um die Ecke herum. Zahlreiche Erwachsene folgten ihnen.
Nachdem alle der Kinder im Festsaal angekommen waren, begann der Direktor seine Eröffnungsansprache: "Meine sehr verehrten Damen und Herren,
ich darf sie zu diesem Feste, dem Kindermaskenball in der Volksschule Retz, recht herzlich begrüßen.
Es ist mir eine Ehre, dass sich auch in diesem Jahr wieder einige Vertreter des öffentlichen Lebens in der Stadt bei uns eingefunden haben. An der Spitze möchte ich willkommen heißen unseren Herrn Bürgermeister Dipl.-Ing. Hofrat Adolf Schehr. Ich freue mich, dass er sich auch heute wieder bei uns sehen lässt und so seine Verbundenheit mit der Schule bestätigt. Gleichzeitig möchte ich mich auch dafür bedanken, dass er im Schulausschuss des Gemeinderates immer ein offenes Ohr dafür hat, wenn es darum geht, die Schule mit modernsten Unterrichtsmaterialien auszustatten. Auch wenn unsere Schule in einem sehr alten Gebäude untergebracht ist – wie Sie ja alle wissen, wurde das Gebäude hier in den Jahren 1698 bis 1701 durch den bekannten niederösterreichischen Barockarchitekten Jakob Prandtauer ursprünglich als Pfarrwirtschafts- und Zehenthof errichtet und diente im Verlauf seiner Geschichte dann noch verschiedensten Zwecken – so bemühen wir uns doch stets, was das Pädagogische betrifft, eine sehr moderne Schule zu sein."
Beifall. Während des Klatschens wurde mit irgendetwas Gongartigem gescheppert. Es war irgendein blechernes Musikinstrument, welches ich von meinem Standpunkt aus nicht erkennen konnte.
"Weiters darf ich unseren Schulobmann, Herrn Stadtrat Karl Gebhardt begrüßen."
Gong, Beifall.
"Auch unserem Schulnachbarn, Herrn Hauptschuldirektor Stadtrat Reinhard Gruber, darf ich danken, dass er zu uns gekommen ist."
Gong, Beifall.
"Ich begrüße sehr herzlich unseren Stadtpfarrer Geistlicher Rat Johannes Groll!"
Gong, Beifall.
"Begrüßen möchte ich ebenfalls die anwesenden Vertreter der örtlichen Geldinstitute, die die Schule auch im letzten Jahr wieder sehr großzügig unterstützt haben."
Gong, Beifall. "Als Vertreter der Volksbank darf ich willkommen heißen Herrn Prokuristen Franz Behdorf."
Gong, Beifall.
"Ich begrüße auch Herrn Kulturstadtrat Helmut Wiesmann von der Hypobank", ... Gong, Beifall, "... und den Geschäftsstellenleiter der Sparkasse, Herrn Richard Flammer, er ist zugleich auch als Kassier im Elternvereinsvorstand unserer Schule tätig."
Gong, Beifall. Als er aus den Zuschauern ringsum hervortrat, entdeckte ich ein paar Meter neben ihm auch seinen Vater, den Schuster Flammer aus der Lehengasse.
"Ich heiße alle Vertreter der örtlichen Wirtschaftsbetriebe willkommen und darf mich auf diesem Wege noch einmal sehr herzlich für die großzügigen Sachspenden für unsere Tombola bedanken."
Gong, Beifall.
"Daran anschließen möchte ich meinen Dank an die Eltern, die uns wie in jedem Jahr sehr reichlich mit selbstgebackenen Kuchen und Torten bedacht haben. Es zeigt dies einmal mehr die traditionell enge Verbundenheit zwischen unserer Bildungseinrichtung und den Eltern der Kinder, die hier unterrichtet werden!"
Gong, Beifall.
"Mein Dank gilt natürlich ebenso den Kolleginnen und Kollegen, die unter hohem persönlichem Einsatz die Vorbereitungsarbeiten geleitet haben. Sowie allen Gästen, die durch den Verzehr der zum Kauf angebotenen Speisen und Getränke wieder ein wenig unsere Schule unterstützen."
Gong, Beifall.
"Ein herzliches Willkommen und ein ebensolches Dankeschön der Freiwilligen Feuerwehr, die sich bei solchen Gelegenheiten immer wieder für Notfälle zur Verfügung stellt."
Gong, Beifall.
"Ich begrüße Herrn Altrogge von den 'Bezirksnachrichten Hollabrunn' und bitte um eine positive Berichterstattung. Ich glaube jedoch, diese Mühen, die sich unsere Kinder in den letzten Wochen mit allem hier gegeben haben, können gar nichts anderes nach sich ziehen."
Gong, Beifall.
"Und da ich eben schon die Kinder erwähnt habe: Zu guter Letzt zwar, aber dafür umso herzlicher möchte ich unsere jüngsten Gäste begrüßen. Liebe Kinder, es ist heute euer Fest. Eure Eltern dürfen sehen und bewundern, was die Schüler der Volksschule an wunderbaren Dekorationen geschaffen haben.
Abschließend bleibt mir noch übrig, allen Anwesenden gute Unterhaltung zu wünschen."
Ein letztes Mal erklang der Metall-Ton, gefolgt von besonders heftigem Applaus. Musik setzte ein. Die Kinder formierten sich daraufhin zu einer riesigen Schlange. So begannen sie sich durch den gesamten Raum zu bewegen und verließen schließlich in ihrer Formation den Saal. Die Erwachsenen folgten ihnen nach und nach.

Kapitel 20. 2. 4.: Gang durch alle Zimmer

Ich beschloss, mir zunächst einmal sämtliche Zimmerdekorationen anzusehen. Ich begann gleich mit dem letzten Raum am Kopfende des Flures. Wie im Flur war auch im Inneren der Räume nahezu jede Ecke mit Mal- und Bastelarbeiten gestaltet worden. Sogar die barocken Deckengemälde traten vor den Arbeiten der Kinder ein wenig in den Hintergrund.
Es war unmöglich, alles anzusehen, was die Kinder gemacht hatten, wie ich gleich darauf feststellte. Dazu hielten sich zu viele Gäste im Raum auf. Erst nach ein paar Augenblicken kam zwischen ihnen etwas Bewegung auf. Danach entdeckte ich an der Wand gegenüber gemalte und ausgeschnittene Tausend-und-eine-Nacht-Figuren.

Ich setzte den Rundgang wieder fort. Im zweiten Zimmer hingen an den Fenstern Fensterbilder mit Märchenmotiven. Auf Anhieb erkannte ich Frau Holle, Rotkäppchen und Dornröschen. Auf der Wand rings um die Tafel befanden sich unzählige aus buntem Papier gebastelte Clownsköpfe verteilt.

Ein Raum folgte, von dessen Türbalken kleine, aus Papier ausgeschnittene Katzen herabhingen. An den Wänden in seinem Inneren befanden sich neben vielem Anderen Clowns in allen Variationen. Auf den zweiten Blick entdeckte ich aus Papier geschnittene und auf Bildern gemalte Tropentiere.

Im nächsten Zimmer waren an den Fenstern Scherenschnitte und an den Wandteilen dazwischen gemalte und ausgeschnittene Vögel zu sehen.

Dem Raum schloss sich eine kleine Kammer mit nur einem Fenster an der Stirnseite an. Wein, Brause, Kuchen, Gebäck, Stangerln wurden darin gelagert. Dazwischen hielten sich zwei Lehrerinnen auf, welche gerade Stangerln belegten und Kuchen schnitten.

Ein Klassenzimmer weiter trat gerade ein Zauberer auf.

In einer Ecke rechts nach der Treppe verkauften die Frau von Stadtrat Gebhardt und noch zwei andere Lehrerinnen. Wurstsemmeln, Käsesemmeln, Kuchen, Torte, Kaffee, Limonade und Cola befanden sich auf dem Tisch.

Ich kam an einem Fenster in Richtung Westen an und sah hinaus. Die Aussicht davor fiel direkt auf den wolkenlosen, blauen Himmel. Gleich darunter auf den verschneiten Manhartsberg. Wieder darunter erstreckten sich die ebenfalls schneebedeckten, niedrigen Bauernhäuser der Altstadt.

Oben im zweiten Stock folgte gleich neben der Treppe schließlich ein Raum, in dem mal nicht so viel los war. Ein paar Lehrer hantierten an Regalen, sortierten etwas ein. An den Tischen in der Mitte saßen Kinder und malten irgendetwas.
Ich begann, mir die Dekorationen an den Wänden näher anzusehen. Gleich neben dem Eingang befanden sich vorgezeichnete und von Kindern ausgemalte Zirkusmotive. Lustig angezogene Schweine aus Papier folgten. Zwischen den Fenstern hingen Wasserfarbenbilder von Blumenblüten und Bilder von Pferden auf grüner Weide. Beides ebenfalls mit Wasserfarbe gemalt. Links und rechts von der Tafel waren aus Leintuch gebastelte Gespenster verteilt worden. Über die gesamte Türwand schließlich erstreckten sich Wasserfarbenbilder von Giraffen vor Gewitterhimmel mit Regenbogen. Danach wieder Clownsbilder.
Ich verließ das Zimmer gerade wieder, als der Direktor neben mir auftauchte. "Darf ich Sie auch mit an den Ehrentisch einladen? Es ist das Zimmer der 2a mit der Raumnummer 3 ganz am Ende des Flures, genau gegenüber zum Eingang vom Festsaal. Kuchen, Torte, Krapfen, Kaffee und Wein sind dort natürlich alle frei."
"Ist gut. Ich sehe mir nur noch die übrigen Räume an und komme dann runter."

Kapitel 20. 2. 5.: Am Ehrentisch

Der Direktor winkte mich umgehend an den Ehrentisch heran, als ich eine Weile später das genannte Zimmer betrat.
Gleich links neben der Tür saßen ein paar Männer von der Feuerwehr in ihren grünen Uniformen. Kinder liefen umher und wirbelten Papierschlangen durch die Luft. Am rechten Ende der Fenster stand ein als Fee angezogenes kleines Mädchen. Es hatte eine spitze Tüte voll Konfetti bei sich, aus dem es unaufhörlich die Jungen bewarf. Rings um die Tafel hatten die Kinder eine Art Minitheaterkulisse aufgebaut. Eine Ritterburg bei Nacht, um die Gespenster schwebten.
Am Ehrentisch entlang der Fensterreihe saßen bereits alle Ehrengäste, die der Direktor zuvor in seiner Ansprache begrüßt hatte: Bürgermeister Schehr, Stadtrat Wiesmann, Stadtrat Gebhardt, Pfarrer Groll, Stadtrat Gruber, Prokurist Behdorf und der Direktor selbst.

Etliche angebrochene Weinflaschen von Winzern aus dem Retzer Land standen auf dem Tisch vor mir. Ich goss mir als Erstes aus einem Glas Sauvignon Blanc vom Weingut Fürst in Kleinhöflein ein. Nebenbei bekam ich mit, wie am Nachbartisch Herr Pokorny, die Graue Eminenz der Heimatgeschichtsforschung in der Stadt, etwas über die Geschichte des Hauses erzählte: "1833 übernachtete hier im Gebäude Kaiser Franz mit seiner Gattin Karoline Auguste. Damals hieß das Gebäude k. k. Kameralschloß. Anlass war die Eröffnung und erste Befahrung der neuen 'Kommerzstraße' von Znaim nach Krems. Das Kaiserpaar überquerte sie damals in einem sechsspännigen Wagen an der Spitze eines großen Gefolges. Daran sieht man, wie wichtig in dieser Zeit der Handel mit der Znaimer Gegend gewesen sein muss, wenn der Kaiser persönlich zu dieser Eröffnung kam."
Geschichten dieser Art hatte ich ja schon öfter gehört, ging es mir durch den Sinn. Davon, dass die Beziehungen in die Gegend unmittelbar hinter der Grenze keineswegs so wie im Moment de facto nicht existierten. Sondern dass sie, sogar nachdem die Tschechoslowakei 1918 selbstständig geworden war, noch bis 1945 fast so selbstverständlich wie zu den umliegenden Orten im Inland waren. Erst der Kalte Krieg hatte alles kaputtgemacht.

Kapitel 20. 2. 6.: Abends

Die Reihen in der Garderobe waren schon weitestgehend leer, als ich sie in Richtung Vorraum verließ. Ich hatte inzwischen alle Artikel für die nächste Woche beenden können. Zu Hause brauchte ich sie nur noch auf der Schreibmaschine abschreiben, dachte ich.
Ich öffnete das Schultor und trat vor das Gebäude. Draußen war bereits die Nacht hereingebrochen.

Kapitel 20. 3.: Stadtfasching

15. Februar 1994

Kapitel 20. 3. 1.: Beginn am Anger

Die fahle Wintersonne hatte einen blassblauen Himmel über der Stadt entstehen lassen. Ich sah auf die Uhr. Wenige Minuten vor Um Zwei. Nur noch wenige Meter lag das Ende des Fußweges am Beginn der Angerwiese entfernt.
Ich blieb zunächst am Rande der Ansammlung stehen. Gleich neben mir lag das Kleinpflasterendstück der ansonsten grasbewachsenen Entwässerungsrinne quer über die Angerwiese. In eben jener Endstelle, welche mit der Fladnitzerstraße zusammenstieß, lagen noch ein paar zusammengekehrte Schneeberge. Inzwischen waren sie jedoch schon merklich zusammengeschmolzen.
Vor mir lag die kurze Verbindungsstraße zwischen der Fladnitzerstraße und der Langen Zeile. Auf ihr hatte sich vor dem alten Gemeindehaus bereits ein riesiger Auflauf gebildet. Ich hängte mir die Tasche über, die ich bis dahin an der Hand getragen hatte. Danach entnahm ich die Kamera, um mich wieder gleich als Erstes um die Bilder zu kümmern.
Die Straße vor dem Gemeindehaus war entlang des Randes zur Fladnitzerstraße mit einem Band abgesperrt worden. Vor ihm stand ein Schild mit der Aufschrift "Zufahrt Lange Zeile über Faschinggasse". Ich trat vor das Band und begann von außen Aufnahmen von den unmittelbar Dahinterstehenden zu machen.

Ich erreichte das andere Ende der Absperrung. Dort bemerkte ich den langen Holztisch entlang der Vorderfront des Gemeindehauses. Mitglieder des Dorferneuerungsvereins Altstadt Retz, die sich als Hühner verkleidet hatten, standen hinter ihm. Sie verkauften an dieser Stelle Kuchen, Torte und Kaffee.
Ich stieg unter dem Band hindurch, um auch vom Inneren des Geländes aus Bilder zu machen. Gleich in der Nähe entdeckte ich ein kleines Mädchen, das als Chinesin zurechtgemacht war. Ich zoomte es mit der Kamera heran und fotografierte es, ohne dass es es merkte.
Neben mir tauchte Direktor Reiß vom Schwarzen Kreuz (Hinweis für nichtösterreichische Leser: Nationale Organisation, die sich um Pflege und Erhalt von Kriegsgräbern kümmert. Nimmt die gleichen Aufgaben wahr wie zum Beispiel der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. in Deutschland.) in der Uniform eines Chauffeurs auf. Ein Stück weiter SPÖ-Ortsvorsitzender Pflügl als Mozart verkleidet. Am Beginn der Langen Zeile entdeckte ich inmitten der Verkleideten schließlich auch wieder Stadtamtsmitarbeiter Hermann Neumayr. Er war ebenfalls mit der Kamera unterwegs.

Nach einer Weile des Herumlaufens und Fotografierens hatte ich Aufnahmen von Vampiren, Indianern, Teufeln, Hexen, Wikingern, Beduinen und einem Mönch auf dem Film.
Jemand in der Aufmachung eines venezianischen Faschingskostüms lief mit einem Tablett voll Krapfen umher. Die Identität der Person war aufgrund der dazugehörigen Maske nicht zu erkennen. Es lagen zwei Sorten Krapfen auf dem Tablett. Die mit Marmelade und die mit Creme gefüllten, welche von der Form her ein wenig an Big Macs erinnerten. Ich nahm mir einen mit Creme.

Kapitel 20. 3. 2.: Abholung des Faschingsprinzenpaares

Die Stadtkapelle begann entlang der einheitlichen, einstöckigen Bauernhäuser an der Platznordseite Aufstellung zu nehmen. Gleichzeitig fanden sich ein ganzes Stück dahinter auch die Mitglieder des "Windmühlenechos" zusammen. Sie standen dort, wo die Angerhäuser nahtlos in die rechte Seite der Langen Zeile übergingen. In der Mitte dazwischen bildete sich der Marsch der Kostümierten. Nur wenige Augenblicke später setzte sich der Zug auch schon in Bewegung. Ich nahm die Tasche und folgte ein Stück seitlich.
Unzählige Zuschauer standen zu beiden Seiten des Weges. Rechts zog der Anger mit den hölzernen Spielplatzgeräten vorbei. Zahlreiche Kinder waren auf sie geklettert, um von dort aus besser zusehen zu können. Das Haus von Peter Turrini (Hinweis für nichtösterreichische Leser: Österreichischer Lyrik-, Fernsehspiel- und Theaterschriftsteller.) erschien auf der linken Seite. Im gleichen Augenblick tauchte gegenüber auf dem Anger die kleine Holzbrücke über den Entwässerungsgraben auf. Ein ganzes Stück davor erschien der Obelisk, der an die große Überschwemmung von 1874 erinnerte.
Der Zug hatte den vorderen Teil des Angers erreicht. Mit ihm das Kaufhaus Ganswidl und die Statue des Heiligen Felix. Ein Stück dahinter das himbeerfarbene Bauernhaus mit dem Wandgemälde vom Heiligen Florian, daneben das Haus von Feuerwehrkommandant Beyer. Die Stadtkapelle postierte sich entlang beider Häuser und setzte im Stehen ihr Spiel fort.
Vier als Musketiere verkleidete Männer traten aus dem Publikum. Jeweils zu zweit nahmen sie links und rechts vor dem Tor des Anwesens von Winzer Stefan Fasching Aufstellung. Wie ich vom letzten Jahr wusste, verkörperte er mit seiner Frau Elfriede bereits seit vielen Jahren das Faschingsprinzenpaar.
Sechs eigenartige Gestalten folgten den Musketieren. Sie schlossen sich im vorderen Bereich des Weges mit einem eigenen Spalier an. Sie waren alle ungefähr gleich groß und trugen knittrige, gelblich-grüne Hemden. Diese reichten ihnen bis über die Köpfe. Offensichtlich bekamen sie durch künstliche Schultern Stabilität verliehen. Die Köpfe der Träger lagen völlig unterhalb der Hemden versteckt.
Kurz darauf öffnete sich das Tor. Der Hausherr und seine Gattin traten heraus, beide in Hofstaat. Tosender Applaus erklang. Die Musketiere streckten ihre Degen zum Spalier in die Luft. Das Prinzenpaar durchquerte daraufhin den kleinen Weg durch den mit Bäumen bewachsenen Grünstreifen vor dem Haus.
Ich machte mehrere Aufnahmen, bis die zwei ungefähr die Mitte des Weges erreicht hatten. Die Kamera hatte ich gleich ohne Verschluss um den Hals hängen lassen. Nebenbei bekam ich mit, wie Stadtrat Gruber zu moderieren begann. Nachdem er die Ehrengäste begrüßt hatte, brachte er zunächst erst einmal wieder den Stadtrat für Tourismus mit sämtlichen rollenden R's unter. Danach erzählte er den Anwesenden, dass sämtliche Erlöse von den Ständen für den Bau eines neuen Tageszentrums auf dem Gelände des Caritas-Areals verwendet werden. In ihm sollten moderne und zeitgerechte Behindertenwerkstätten entstehen.

Kapitel 20. 3. 3.: Erste Station: Volksbank

Nach und nach formierte sich wieder der Zug. Schließlich verließ er den Anger über die Zufahrt zur Fladnitzerstraße. Gegenüber auf der anderen Straßenseite hatte sich inzwischen eine Unzahl an Zuschauern eingefunden. Sie begann bei der Abzweigung Angertorstraße und erstreckte sich von dort an ohne erkennbares Ende in Richtung Stadtinneres.
Die Berggasse tauchte auf. In ihr auf der rechten Seite das langgezogene Bauernhaus mit der Jesus-Figur an der Fassade. Gleich danach das alte Hotel "Gartenpension". Nach dieser Straße zogen die Glaserei Reuter und das Club-Café "Kajak" vorbei. Der Zug bewegte sich nun nicht geradeaus weiter, sondern überquerte die Znaimerstraße in Richtung Volksbank. Zu dem Platz zwischen Volksbank, Taberngasse, ehemaliger Altstadtschule, Stohlgasse, "Goldenen Hirschen" und dem Kiosk der Gärtnerei Roggenschrot.
Links tat sich das in Richtung Ortsende abfallende Stück der Znaimerstraße auf. An seinem Beginn stand mitten auf der Fahrbahn ein Gendarm und hielt den Verkehr auf. Hinter ihm hatte sich entlang des Hauses von Stadtführer Pokorny und dem "Poseidon" danach ein kleiner Stau aufgebaut. Auch am Beginn der kreuzenden Pfarrgasse dazwischen stand ein Auto, welches auf die Znaimerstraße abbiegen wollte.
Die Spitze des Zuges erreichte den kleinen Platz. Dort kam die zweite Station des Umzuges in Sicht. Hinter mehreren Holztischen entlang der Vorderfront der Volksbank stand die Belegschaft vom "Poseidon". Dem Lokalnamen entsprechend hatten alle Seemannsuniformen an. Zusammen mit ein paar Angestellten von der Volksbank verkaufte man Krapfen, Glühwein und Guglhupf.
Ich begann mich in Richtung des Verkaufsstandes vorzuarbeiten. Unterwegs tauchte jemand mit einem Korb voll Semmeln auf. Es war die Sorte, in die Schinkenwürfel eingebacken worden waren. Ich nahm mir zwei.

Kapitel 20. 3. 4.: Übergabe des Stadtschlüssels

Nach einer halben Stunde begann sich der Zug wieder zu formieren und setzte seinen Marsch über die Znaimerstraße in Richtung Innenstadt fort.
An der Kreuzung Windmühlgasse/Znaimerstraße/Kirchenstraße stand zur Linken und zur Rechten bereits wieder je ein Gendarm, der den Verkehr abriegelte. Links fiel der Blick in die Kirchenstraße hinab. Dort tauchte zwischen dem "Goldenen Hirschen" und der Stadtpfarrkirche die Volksschule auf. Ich erinnerte mich dabei wieder daran, wie ich am Sonntag zuvor über den Kindermaskenball berichtet hatte.
Rechts zog das Haus von Steuerberater Gassner an der Ecke zur Windmühlgasse vorbei. Aus jedem Fenster seines ersten Stockwerks hing eine anders aussehende Phantasie-Flagge.
Auf der linken Seite der Straße hatte sich wieder eine kleine Ansammlung von Zuschauern eingefunden. Sie begann an der Ecke zur Kirchenstraße. Von dort aus ging sie vorbei am Parkettgeschäft, vorbei an der Tür an Tür danebenliegenden Trafik. Ihr Ende fand sie schließlich bei der Durchgangspassage neben dem Znaimertor.
Abrupt stoppte der Zug ein erneutes Mal. Erst in diesem Augenblick fiel mir der eigentümliche Faschingsschmuck am Znaimertor auf. Zwei riesige, runde Augen und eine ebenfalls runde, rote Nase waren über dem Durchgang platziert worden. Beides auf Leintuch gemalt. Die Dinge hingen so über dem Durchgang, dass das Tor wie der Kopf eines Ungeheuers wirkte, das seinen Rachen aufsperrte.
Ich bewegte mich rasch seitwärts an den Umzugsteilnehmern vorbei, um zu sehen, was vor dem Tor stattfand. Nach ein paar Sekunden war ich an der Spitze des Zuges angekommen. Dort verließ gerade Stadtrat Gebhardt als Indianerhäuptling verkleidet den hinteren Teil seines Farbengeschäftes. Nach ein paar Schritten blieb er vor dem Torbogen stehen.
Wie ich in dem Augenblick erkannte, hatte man ihn symbolisch mit zwei Torflügeln aus dünnen Latten abgesperrt. Wenige Sekunden später trat Bürgermeister Schehr im Piratenkostüm vor das Tor. Er begann dort eine Rede zu halten, die jedoch im allgemeinen Lärm unterging.
Als er damit fertig war, reichte ihm jemand einen riesigen Pappschlüssel. Diesen gab er sogleich an den Faschingsprinzen weiter. Beide hielten zunächst eine Weile die Pose.
Donnernder Applaus erklang. Ich machte so viele Bilder, wie ich kriegen konnte.
Danach trat der Faschingsprinz an das Tor heran und schob zunächst den rechten Flügel zur Seite. Anschließend tat er das Gleiche mit dem linken.
Stadtrat Gebhardt, das Prinzenpaar und der Bürgermeister nahmen an der Spitze des Zuges Aufstellung. Die Stadtkapelle gleich dahinter begann darauf wieder zu spielen. Kurz darauf fiel auch das "Windmühlenecho" ganz am Ende in das Spiel mit ein, worauf der Zug seine Strecke fortsetzte.
Ich durchquerte als Erster das Tor. Danach rannte ich ein ganzes Stück nach vorn, um noch ein paar Aufnahmen von den Prominenten an der Spitze des Zuges zu machen. Auch jenseits des Tores hatte sich ebenfalls bereits eine Vielzahl von Zuschauern angesammelt. Die Innenseite des Tores hatte man auf die gleiche Weise wie die Außenfront als Gesicht gestaltet.

Kapitel 20. 3. 5.: Zweite Station: Znaimerstraße

Ohne dass ich es zunächst gemerkt hatte, war ich bereits an der zweiten Station angekommen. Zwei Tische sperrten quasi die Straße vor uns ab. Vom Café Wiklicky auf der einen Seite zum Lederwarengeschäft im Jugendstilhaus auf der anderen Seite. Herr Wiklicky erwartete mit seiner Frau und einer Kellnerin dahinter die Ankommenden mit Strudl, Kaffee und Glühwein.
Ich begann im Kopf bereits den Artikel zusammenzubauen: "Höhepunkt der diesjährigen Retzer Faschingssaison war wie immer der traditionelle Umzug, der, ausgehend vom Anger, über die Stationen Volksbank/"Poseidon", Café Wiklicky, Rathaus, Dreifaltigkeitssäule, Brunnen und Schloßplatz führte. In den frühen Nachmittagsstunden übergab Bürgermeister Hofrat Dipl.-Ing. Adolf Schehr den Schlüssel zur Stadt an das Faschingsprinzenpaar. Dargestellt von dem Retzer Winzer Stefan Fasching und seiner Frau Elfriede. Bis Mitternacht waren die Stadt- und Gemeinderäte entthront und nur die Fröhlichkeit regierte."
Ein Glück, dachte ich, dass die Artikel immer irgendwie von selbst im Kopf entstanden. Mehr noch, dass ich oftmals so schnell gar nicht schreiben konnte, wie die Sätze im Kopf explodierten. Sodass zuhause nur noch das Tippen blieb. Ansonsten wären die Schule, die Zeitung und die Mitarbeit im Weltladen arbeitsmäßig wahrscheinlich nicht zu bewältigen.

Kapitel 20. 3. 6.: Dritte Station: Rathaus

Über der Stadt war bereits der spätere Nachmittag hereingebrochen, als der Zug die dritte Station erreichte. Sie lag an der Seite des Rathauses neben dem Eingang zum Turm.
Hotelfachschüler boten ihre hausgemachten Kreationen an.

Kapitel 20. 3. 7.: Vierte Station: Dreifaltigkeitssäule

Ein paar Wolken hatten es bereits dämmrig werden lassen, als der Umzug an der vierten Station zu Füßen der Dreifaltigkeitssäule ankam. Sie wurde von der Belegschaft der Firma Förster und Inneneinrichtungsstudio-Besitzer Herrn Seitenstetter betrieben. Alle hatten sich als Vampire verkleidet.
Konfettis flogen durch die Luft, verteilten sich auf dem Boden. Streckenweise war der Boden von ihnen bereits übersät. Ein Mann lief mit einem Tablett umher und verteilte Glühwein. Ich nahm mir ein Glas.
Ein paar Meter vor mir tauchte dieser geheimnisvolle Anastasius Obermayr aus der II. B auf, den alle bloß "Äns" nannten. Auf eine fast mephistohafte Art, die durch seinen langen, schwarzen Mantel noch unterstrichen wurde, schritt er auf mich zu. "Sei gegrüßt!", sprach er mich mit theatralischer Stimme und einem für Österreicher ungewöhnlichem Hochdeutsch an. Mehr noch, er sprach fast akzentfreies Hochdeutsch. "Ich beobachte dich schon lange, seit deinen ersten Tagen hier in der Stadt. Du scheinst mir für gewisse Wahrheiten zugänglich zu sein. Ich werde bald wieder auf dich zukommen!"
Nach diesen Worten entschwand er wieder auf eine sehr geisterhafte Art in den Volksmassen auf dem Platz. Ich war etwas irritiert.

Kapitel 20. 3. 8.: Fünfte Station: Brunnen

Eine halbe Stunde später musste der Zug abermals nur wenige Schritte zurücklegen, um zur fünften Station zu gelangen. Sie lag am Rande der Hauptplatzinnenfläche gegenüber vom Sgraffitohaus. Herr Semmelhart von der Hypo-Bank stand in gestreifter Gefängnisuniform dahinter und verkaufte. Zusammen mit noch einem anderen Mann, den ich nicht kannte.

Kapitel 20. 3. 9.: Sechste Station: Schloßplatz

Die sechste Station war entlang der Vorderfront unseres Hauses aufgebaut worden. Frau Hoffmann aus der Druckerei, Schloßgasthauswirt Konecny im Harlekinkostüm und ein Kellner aus dem "Schmähbankerl" verkauften von dahinter aus. Nachdem alle Teilnehmer des Zuges eingetroffen waren, begann der Kellner quer über den Platz zu schreien: "Teufelsroller! Rollmops! Teufelsroller! Rollmops! ..."

Kapitel 20. 3. 10.: Die Winterverbrennung

Stadtrat Gruber hatte das Ende der Feier angekündigt. Dieses bestand wie immer in der zeremoniellen Verbrennung des Winters. Rasch bildete sich ein Kreis um den hölzernen Scheiterhaufen in der Mitte des gepflasterten Weges quer über den Platz. Bereits bei Ankunft des Zuges lag er da. Kurz darauf tat sich an der Ecke zur Wienerstraße eine Gasse auf. Die bekleidete Strohpuppe, die bereits während des gesamten Umzuges mit dabei war, wurde hereingetragen. Die Prozession endete vor dem Scheiterhaufen, auf dem man die Puppe platzierte.
Bald darauf stand der Berg lichterloh in Flammen. Zwei Volksschullehrerinnen holten von überall Kinder zusammen und begannen mit ihnen um die Flammen zu tanzen.

Die Abenddämmerung hatte bereits eingesetzt, als das Feuer schließlich heruntergebrannt war. Stadtrat Gruber kündigte an, dass es im Schloßgasthaus noch Tanz und Musik bis in die Abendstunden gäbe. Dies sei die letzte Gelegenheit, sich noch einmal zu amüsieren, bevor dann die lange Fastenzeit beginne.

Bürgerreporter:in:

Christoph Altrogge aus Kölleda

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