Ganz selten: Glocken in der Kirche von Kleinseelheim werden noch mit der Hand geläutet

Hans Heinrich Lauer beim Läuten der Zeitglocke
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In Kleinseelheim, der Ort liegt an der Strecke Marburg-Kirchhain (wenn man über die Lahnberge fährt), werden heute wie von alters her die Glocken noch mit der Hand geläutet.

Früher vor Beginn des technischen Zeitalters mussten alle Kirchenglocken mit einem langen Seil per Hand geläutet werden. Heute reicht dazu aus, dass der Küster auf einen Knopf drückt - das Läuten beginnt. Aber nicht so in Kleinseelheim. Dort sind die Mitglieder der Kirchengemeinde gefragt, meist richtig schwere Arbeit.

Das Läuten per Hand in dem mit gut 600 Einwohnern kleinen Ort bei Kirchhain dürfte im Kreis Marburg und vielleicht darüber hinaus einmalig sein - oder zumindest sehr selten. Die drei Glocken im Dachreiter von Kleinseelheim haben einen Durchmesser von 63 bis 84 cm. Die größte Glocke sollte ein Gewicht von mehr als 350 kg haben.

Eigentlich bin ich durch einen Zufall auf diese Besonderheit im Kreis Marburg gestoßen. Bei einem Klassentreffen habe ich kürzlich meinen Klassenkameraden Jörg Bersch getroffen. Dieser erzählte mir die Geschichte mit den Glocken von Kleinseelheim, die per Hand geläutet werden. Jörg war im Krieg aus Marburg von seinen Eltern aus der von Bomben bedrohten Stadt weggebracht worden - nach Kleinseelheim in einen Bauernhof.

Jetzt wohnt er im Norden von Deutschland. Bei einem Besuch in der alten Heimat wollte er die Stätte aufsuchen, wo er im Krieg in Sicherheit war. Und dabei hat er das Läuten der Glocken per Hand in der Kirche von Kleinseelheim mitbekommen. Jörg und seine Frau waren von diesem Erlebnis sehr begeistert. Und dies führte dazu, dass ich dieses in heutigen Zeiten außergewöhnliche Erlebnis ebenfalls erleben wollte.

Um das Glockenläuten per Hand von Kleinseelheim ranken sich mehrere Geschichten

Die größte Glocke, die in der Kirche von Kleinseelheim hängt, hat einen Durchmesser von 84 cm und wird mindestens 360 kg schwer sein. Die Zeitglocke, so genannt, weil sie jeden Tag um 10 Uhr und 17 Uhr geläutet wird, hat als zweigrößte Glocke einen Durchmesser von 71 cm mit einem Gewicht von etwa 200 kg. Und dann gibt es noch die Vaterunserglocke. Sie ist mit d=63 cm die kleinste der drei Glocken. Ihr Gewicht dürfte um die 150 kg betragen.

Jede Glocke hat ihre Geschichte. Bis zum Ersten Weltkrieg hingen im Turm wohl über Jahrhunderte drei Glocken. Aber das Deutsche Reich brauchte Metalle in dem unseligen Krieg, der länger andauerte als anfangs erwartet war. Vor allem Kupfer wurde im rohstoffarmen Reich benötigt für den Bau von U-Booten. Und ebenso war es im 2. Weltkrieg. Durch einen Erlass des Reichsministers des Inneren musste 1940 jede Gemeinde ihre Glocken melden mit Angabe von Größe und Gewicht. Nur eine Glocke sollte den Kirchen jeweils als Läuteglocke bleiben.

So geschah es auch in Kleinseelheim. Zwei der drei Glocken wurden von einem Betrieb der Kreishandwerkerschaft abgenommen und weggebracht. Nur die Zeitglocke blieb im Turm. Sie ist die älteste und wurde - so ist es auf der Glocke verzeichnet - im Jahr 1550 gegossen.

Es dauerte bis 1953, bis das Geläut von Kleinseelheim wieder vervollständigt wurde. Wie von vielen Kirchengemeinden, die ihre Glocken verloren hatten, wurde auch von Einwohnern aus Kleinseelheim in Hamburg auf dem Glockenfriedhof von Veddel nach den im Krieg abgegebenen Glocken gesucht - aber vergebens.

Dafür wurde eine andere Glocke von Hamburg mitgebracht und im Turm aufgehängt. Die noch fehlende dritte Glocke wurde bei der Glockengießerei Rincker in Sinn/Dillkreis in Auftrag gegeben. Rincker ist eines der ältesten Unternehmen, die heute noch in diesem Handwerk tätig sind. Die Glocke wurde 1953 dort gegossen und schließlich in Kleinseelheim aufgehängt. Sie dient als Vaterunserglocke.

Glockenläuten per Hand ist eine anstrengende Tätigkeit

Tradition ist in Kleinseelheim täglich zu erleben. Die Zeitglocke wird jeden Tag zweimal geläutet. Um 10 Uhr ist seit etwa zehn Jahren Dr. Horst von Chmielewski in der Kirche zugange und läutet. Nach der Arbeit betritt Hans Heinrich Lauer kurz vor 17 Uhr von seinem Hof her kommend die Kirche und läutet mit dem Seil die Zeitglocke - wie er sagt - „eineinhalb Vaterunser lang“. Mit dieser Zeitangabe - es sind umgerechnet etwa fünf bis sechs Minuten - wird jedem klar, dass in Kleinseelheim noch in alten Maßstäben gerechnet wird und das Leben von früher zumindest in kleinen Dingen noch alltäglich ist.

Die Familie Lauer gehört zur Kirche von Kleinseelheim schon seit langer Zeit dazu. Die Mutter Margaretha Lauer wir bis zu ihrem Tod 2014 Küsterin und war auch beim Läuten aktiv mit im Einsatz. Ihr Sohn setzt nun die Tradition fort. Wie aus einer in die Kirchenwand eingelassenen Tafel hervorgeht, war ein direkter Vorfahr, Henn Lauer, Kastenmeister der Kirche vor langer Zeit gewesen.

Zum Gottesdienst an den Sonntagen, abwechselnd um 8.30 Uhr und 11 Uhr, werden alle drei Glocken gleichzeitig geläutet. Dazu sind oft die Konfirmanden eingeteilt. Aber es kommt auch vor, dass das Ehepaar Lauer zu zweit an allen drei Glockenseilen ziehen muss. Hans Heinrich Lauer hat dann die Aufgabe, an zwei Seilen gleichzeitig zu ziehen. Nach „Eineinhalb Vaterunser“ merken beide, dass Glockenläuten schwere Arbeit sein kann.

Das „Feiertagsläuten“ hat einen besonderen Ablauf

Tradition wird in Kleinseelheim groß geschrieben. Zu den besonderen Feiertagen, das sind 1. Weihnachtsfeiertag, Sylvester, Ostersonntag, Pfingstsonntag und Himmelfahrt, läuft das Kirchengeläut nach einem besonderen Ritual ab. Dann wird „rundgeläutet“, wie es kurz und treffen bezeichnet wird: Die drei Glocken werden nacheinander jeweils „eineinhalb Vaterunser“ lang einzeln geläutet mit je einer kurzen Pause dazwischen.

Begonnen wird mit der Zeitglocke und nach der großen Glocke wird die kleine Glocke geläutet. Zum Schluss der Runde werden alle drei zusammen geläutet. Dieser Ablauf in vier Teilen wird nacheinander dreimal ausgeführt. Nach dem Ende des sehr langen „Feiertagsläutens“ sind die Akteure von den Anstrengungen ziemlich „geschafft“, auch wenn am Läuten manchmal mehrere Personen beteiligt sind.

Geläutet wird auch, wenn jemand im Dorf gestorben ist. Wird die Leiche vom Trauerhaus zur Friedhofshalle gebracht, ist es Brauch, dass die gesamte Zeit während der Überführung die Zeitglocke geläutet wird. Hierbei muss - wie zu anderen Anlässen auch - oft Marlene Weber, die jetzige Küsterin des Dorfes, das Glockenseil schwingen. Sie kann jeweils kurzfristig benachrichtigt werden, Mit dem unangekündigten Läuten erhält jeder im Dorf Kenntnis von dem Trauerfall. Insgesamt können im Jahreslauf eine Reihe von Kleinseelheimern bei Läuten eingesetzt werden oder auch mal aushelfen. Zudem gehen öfters die Ehepartner beim traditionellen Läuten mit zur Hand.

Der Friedhof in Kleinseelheim wurde 1904 von der Kirche an den Ortsrand verlegt. Bis zu dieser Zeit wurden die Toten rund um die Kirche in dem mit einer Mauer umsäumten Bereich bestattet. Bei der Beerdigung werden - wie zum Gottesdienst - alle drei Glocken gemeinsam geläutet. Das gemeinsame Läuten aller Glocken wird als „einfaches Geläut“ bezeichnet - im Gegensatz zum großen „Feiertagsgeläut“. Auch bei der Konfirmation kommt es zum “einfachen Geläut“.

Wer auf dem Weg von Marburg nach Kirchhain an Kleinseelheim vorbeikommt, sollte dort zum Dorf abbiegen und der kleinen Kirche einen Besuch abstatten. Dass eine evangelische Kirche bunt ausgemalt ist, kommt selten vor. Die Kirche steht von 10 Uhr bis 17 Uhr offen. Und wenn der Besucher zur Läutezeit kommt, dann kann sich der Fremde auch beim Läuten versuchen. Vielleicht gelingt es dem Besucher, sich dem Rhythmus des Glockenschwingens anzugleichen.

Anhang mit weiteren Informationen zur Kirche und zum Dorf Kleinseelheim

Der Kirchenbau

Die Kirche von Kleinseelheim besteht in ihrer heutigen Gestalt seit dem Jahr 1665. Eine Inschrift an der Außenseite belegt dieses Datum. Doch bereits im Jahr 1350 soll es im Ort eine Pfarrkirche gegeben haben. 1905 wurde die Kirche mit einem Anbau im neubarocken Stil erweitert. Während einer Renovierung der Außenfassade Ende des 20. Jahrhunderts kamen romanische Fenster an der Südseite zutage. Sie belegen, dass Mauerreste der alten Pfarrkirche bis heute erhalten blieben.

Die Kirche wurde dem Jakobus geweiht. Dies kann bedeuten, dass die Kirche in früherer Zeit eine Pfarrkirche auf dem Weg nach Santiago de Compostela war. Aber auch heute wieder wird die Kirche von April bis Oktober wieder von Pilgern aufgesucht, die seit dem Elisabethjahr auf dem Weg von Eisenach nach Marburg wandern. Sie sind in der Kirche gern gesehene Gäste, eine ökumenische Bewegung. Die Kirchengemeinde Kleinseelheim war bis 2011 Teil des evangelisch-lutherischen Kirchspiels Großseelheim, Kleinseelheim, Schönbach. Seit Januar 2012 gehört Kleinseelheim zur Kirchengemeinde Großseelheim.

Die Kirche besitzt eine Heinemann-Orgel

Seit fast genau sechzig Jahren bedient Frau Pitz die Orgel in der Kirche zu Kleinseelheim. Schon mit zwölf Jahren hat sie zum ersten Mal die Orgel bedient und ist Organistin bis heute geblieben. Die Heinemann-Orgel stammt aus dem Jahr 1758 und wurde 1976 restauriert.

Der kupferne Wetterhahn dreht sich geschmeidig im Wind

Zu dem Hahn auf dem Kirchturm gehört auch eine besondere Geschichte. Von einer auswärtigen Firma war ein schmiedeeiserner Hahn gefertigt und auf dem Turm installiert worden. Doch er war zu schwer. Zudem drehte er sich nicht mit dem Wind. Ein Sturm setzt ihm zu und er verbog sich. Der schräge Hahn wurde abgehängt. Zehn Jahre ohne Hahn auf dem Turm ließen dem Landwirt Hans Heinrich Lauer, seine Mutter war zu dieser Zeit Küsterin, keine Ruhe.

Er wurde als Handwerker tätig. In der alten Familienbibel der Lauers fand sich eine etwa 200 Jahre alte Zeichnung des Kirchenhahns. Nach diesem Original schmiedete Hans Heinrich Lauer als Spende an die Kirche einen neuen Hahn aus Kupferblech. Dieser thront heute auf dem Dach der Kleinseelheimer Kirche und dreht sich problemlos geschmeidig im Wind.

Der Ort Kleinseelheim

Es heißt, dass die Gegend bereits um 1000 v. Chr. besiedelt war. Für „Seleheim“ gibt es eine Erstnennung aus dem Jahr 779. Gemeint waren damit offenbar die beiden Siedlungen Großseelheim und Kleinseelheim. Beide Gemeinden feierten aus diesem Anlass im Jahr 2004 ihr 1.225jähriges Bestehen. Erstmals urkundlich erwähnt wurde der Ort im Jahre 1248. Nahe am Ort vorbei muss im Mittelalter - von Marburg her - die ehemalige Köln-Leipziger Messestraße vorbei geführt haben.

Der Ort Kleinseelheim - im Jahr 1577 wird diese deutsche Bezeichnung erstmalig verwandt, vorher schon mit dem Begriff „minor“ - wurde mit Zugehörigkeit zum Landgrafen von Hessen nach der Reformation evangelisch. Eine Zählung von 1961 ergab: 623 evangelische und 32 römisch-katholische Einwohner. Seit dem 1. Februar 1971 wurde mit der Gebietsreform die bis dahin selbständige Gemeinde Kleinseelheim in die Stadt Kirchhain eingegliedert. Im Juni 2015 wurde für Kleinseelheim die Gesamteinwohnerzahl von 673 Einwohnern ermittelt.

Politisch gehörte Kleinseelheim sowohl zu kurhessischer als auch zu preußischer Zeit als selbständige Gemeinde mit einem Bürgermeister bis 1932 zum Kreis Kirchhain. Nach Auflösung des Kreises Kirchhain wurde Kleinseelheim Teil des Landkreises Marburg. Durch die Gebietsreform Anfang der 1970er-Jahre mit Bildung des Großkreises Marburg-Biedenkopf verlor der Ort die Selbständigkeit und wurde nach Kirchhain eingemeindet.

Ausführliche Informationen:

http://www.kleinseelheim.de/kirchl-einrichtungen/k...
https://de.wikipedia.org/wiki/Kleinseelheim
http://www.grosskleinschön.de/wissenswert/kleinsee...

In der Kirche liegt für Interessierte in einer bebilderten Broschüre eine ausführliche Beschreibung des Gotteshauses aus mit Literaturhinweisen (u. a. zum „Dorfbuch Seelheim“).

Bürgerreporter:in:

Karl-Heinz Gimbel aus Marburg

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