Als wir in Rössing einen Garten bekamen : Kindheitserinnerungen

Wie war das damals eigentlich, als wir in Rössing einen Garten bekamen?
Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann für mich eine neue Kindheit, eine angstfreie und unbeschwerte Zeit.
Wir wohnten seit Frühjahr 1945 in Rössing, in der (heutigen) Langen Straße, nahe dem Schlossteich. Wir kamen als Ausgebombte aus Hildesheim. Schon 1946 oder 47 bezogen wir eine Mietwohnung im Loderwinkel, wohnten im Hause Karl Othmer.

Eines Tages kam mein Vater (Heinrich Zeuner), oft mit dem Fahrrad in der näheren Umgebung unterwegs, mit der Nachricht heim, er habe einen Garten für uns bekommen. Der neue Gartenbesitzer nahm mich mit dorthin. Mit geliehenem Spaten und einer Harke ausgerüstet zogen wir los. In Richtung Sturmbrücke, dann die Beke entlang, heute wird diese Straße Am Rössingbach genannt. Unmittelbar vor der Bahnschranke, linker Hand, waren Parzellen auf einem Acker abgesteckt. Unser Stück befand sich ziemlich mitten auf dem Acker, direkt am Bahndamm nahe einer Telefonstation, die zur Signalanlage gehörte.
Die näheren Umstände, wie es meinem Vater gelang Gartenland zu pachten, erfuhr ich als Kind nicht. Wohl auch, weil meine Mutter sich wenig um Gartendinge scherte. Ihr ganzes Bestreben galt, wieder nach Hildesheim zurück zu kehren. Das Leben auf dem Dorfe war ihr fremd. Die Vorstellung in Rössing länger als unbedingt notwendig wohnen zu müssen, gar sesshaft werden zu sollen erfüllte sie mit Schrecken. Einen Garten zu bewirtschaften, sähen, pflanzen und dann die Ernte abzuwarten, passte wohl für jemanden, der sich in Rössing heimisch fühlen möchte und viele Jahre in dem Ort bleiben wollte; aber das widersprach ihren Absichten völlig.
Dass sie kräftig zupacken und mit ihrer Hände Arbeit auch für den Unterhalt der Familie sorgen konnte, bewies sie an anderer Stelle oft genug. Landwirtschaftliche Tätigkeiten gehörten nicht dazu, vielleicht mit einer Ausnahme an die ich mich erinnere. Sie pflückte gemeinsam mit anderen Frauen einmal für einen Bauern Erbsen. Mich nahm sie mit. Dort hockten bereits etliche Leute in einer Reihe, vor sich die kniehohen zu erntenden Pflanzen. Viele Frauen, einige Männer und Kinder pflückten die grünen Schoten in Körbe, Schüsseln, irgendwelche andere geeigneten Gefäße, die sie mitgebracht hatten oder die ihnen vielleicht auch vom Bauern zur Verfügung gestellt wurden. Jedenfalls pflügte jeder in sein Behältnis, trug es mehr oder weniger gefüllt zur Waage, die am Feldrand aufgestellt war. Dort wurde für jeden Pflücker die Menge registriert und danach wohl der Lohn berechnet. Ob es dafür Geld gab weiß ich nicht. Wahrscheinlich gab es eine Gegenleistung in einer begehrterer Währung, in Naturalien.

Jetzt, in dem ich dies schreibe, kommt mir in den Sinn, dass wir mehrmals Vorteile durch Bauer Kasten; Lange Straße, erhielten. Möglicherweise war es sein Erbsenfeld, denn der Kastensche Hof mit dem anschließenden Obst- und Gemüsegarten befand sich ganz in der Nähe jenes Erbsenfeldes. Es lag gegenüber der Stelle, wo die Clausstraße auf die Landstraße trifft.

Dorthin begleitete ich meine Mutter. Zum Pflücken war ich sicherlich wenig geeignet. Mein Eimerchen wollte und wollte nicht voll werden. Die frischen saftig-grünen, süßen Erbsen wandern häufiger in meinen Mund als in das dafür vorgesehene Behältnis. Das meiner Mutter trug ich gern zur Waage und wenn ich es leer wieder zurück brachte, war oft ein anderes bereits wieder voll.
Es gab offenbar so etwas, wie einen Wettbewerb unter den Pflückern, denn stolz erzählte meine Mutter, so-und-so-viel (Zentner und Pfund) habe sie an einem Tage geschafft.

Zuhause gab es zu mittags Eintopf, Grüne Erbsen mit Griesklößen. Jedes getrennt mochte ich, besonders gern natürlich die Klöße, aber zusammen - nein - da konnte meine Mutter noch so oft betonen: "Es schmeckt doch gut!" Viele Menschen behaupteten das. So auch unsere Nachbarin, Frau Möller.
Als sie mich einmal gefragte, ob ich gern einen Teller Mittagsessen haben wolle, ging ich bereitwillig mit zu ihr. Ich setzte ich mich an den winzigen Esstisch am Küchenfenster und während sie am Herd stand, sagte sie, es gäbe heute etwas Besonderes: "Grüne Erbsen mit Grießklößen, das magst Du doch bestimmt gern." Ich nickte brav und schaute durch Fenster hinunter zum Hof. Dort am Fuß der großen Eiche hatte ich gerade eben noch, glücklich spielen dürfen. Nun saß ich hier an einem fremden Tisch. Vor einem bis zum Rand gefüllten Teller Eintopf. Ich teilte die dicken Grießklöße mit meinem Löffel in mundgerechte Happen, nahm aber von der dünnen Erbsensuppe nur sehr wenig. Der Teller wollte und wollte nicht leer werden. Inzwischen sah ich Gretel und Inge unten auf dem Hof spielen.
"Es schmeckt dir doch!?" sagt Frau Möller.
Auf mein "hm" kam sie mit dem Kochtopf und einer großen Kelle zum Tisch und im Nu war mein Teller wieder randvoll.

Es gab noch ein zweites Eintopfgericht, das ich nicht essen mochte; ja, mir den Magen umdrehen konnte. Birnen-und-Kartoffeln. Das gab es am 22. März 1945, unmittelbar vor dem verheerenden Bombenhagel, der auf uns niederfiel, danach aß ich das Gericht nie wieder. Obwohl meine Mutter es später noch das eine oder andere mal kochte.
In der schlechten Zeit, den ersten Nachkriegsjahren ging es schließlich darum genügend auf dem Tisch zu haben. Alle sollten satt werden. Mein Vater und mein Bruder waren tüchtige Esser und wenn ich mal gewagt hätte zu maulen: "Nee, das mag ich nicht." Hätte die Antwort gelautet: "Wer nicht mag, ist der Beste."
Das war eine wirksame Erziehungsmethode, die mein Vater sicherlich aus seinem dörflich armen Elternhaus kannte. Ein dominierendes "Es-wird-gegessen-was-auf-den-Tisch-kommt!" hätte nur meine Trotzhaltung beflügelt, und zusätzlich Bauchweh verursacht. Das wusste meine Mutter, deshalb hätte sie nie einen solchen Zwang auf mich ausgeübt. Das aber konnte die gutmeinde Frau Möller nicht ahnen.

Möllers waren keine Flüchtlinge sondern Einheimische. Sie bewohnten eine Wohnung im Dachgeschoss des Stallgebäudes, quasi direkt über dem Schwein, das sie im Herbst schlachten wollten.
Fast alle Bewohner auf dem Othmerschen Hof gingen täglich in diesen Stall, um Wasser zu holen. Bei dieser Gelegenheit, die Pumpe stand direkt neben dem gemauerten Schweinekoben, sah ich einmal Frau Möller vor einen riesigen dampfenden Kartoffentopf stehen. Es duftete herrlich nach frisch gekochten Pellkartoffeln. Es waren sogenannte Schweinekartoffeln, denn sie sollten unabgepellt, lediglich etwas zerstampft und mit Essensresten aus der Küche vermengt in den Futtertrog geschüttet werden.
Als ich glaubte Frau Möller hätte sich vom Kartoffeltopf abgewendet, stibitzte ich eine dicke gare Kartoffel und verschwand damit aus dem Stall. Sie war sehr heiß. Meinen ganzen Mut musste ich zusammen nehmen, um sie nicht fallen zu lassen. Frau Möller sollte ja nichts merken.
In der Hofecke, bei der Regentonne, hab' ich das goldgelbe Innere der Kartoffel dann gegessen, nicht ohne mir den Mund zu verbrennen. Die klebrigen Hände schnell im Regenwasser abgespült, lief ich zurück zum Stall, um vielleicht noch eine weitere Kartoffel erwischen zu können. Zu spät. Frau Möller hatte bereits Küchenabfälle in den Topf geschüttet und zerstampfte gerade alles. Ich stand wohl etwas verdattert da. Ob sie meine Stibitzerei bemerkt hatte? Ich fühlte, dass sie mich anders als sonst anschaute. Wischte sicherheitshalber mit meinem Hemdärmel über den Mund. Dann tat ich so, als wolle ich an der Pumpe trinken, tatsächlich wusch ich mir nur Reste des Kartoffelbreis ab.
Als sie mich bat, mit ihr gemeinsam, den Topf zum Schweinetrog zu tragen, fiel mir ein Stein vom Herzen. Sicherlich hörte Frau Möller ihn plumpsen.

Bürgerreporter:in:

Rolf Schulte aus Hildesheim

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