Nur einmal im Jahr wurde es richtig laut: Ernst Voges erinnert sich an die Ohestraße

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Der rührige Verein „Netzwerk Archive Linden-Limmer“ lud am 17. August 2015 zu einem Vortragsabend "Ohestraße- gestern und heute" in das Café Siesta (Kulturzentrum FAUST) ein. Vereinsmitglied Wolfgang Becker hieß die Besucher willkommen und stellte die Referenten Ernst Voges, Christian Harder und Heiner Klenke vor.

„Hauptakteur“ Ernst Voges, hellwach und sehr erinnerungsfähig, ließ die alte Ohestraße, die einst, teilweise unbebaut, durch die Calenberger Ohe (niederdeutsch für Aue) vom Garnison-Lazarett Adolfstraße/Ecke Humboldtstraße bis zum Schützenhaus an der Leine führte, noch einmal auferstehen. Als Sohn des Kanzleiassistenten Georg Voges und dessen Ehefrau Ella, geb. Jörren, Ohestraße 13, erblickte er im Jahr 1924 das Licht der Welt. Breiten Raum nahmen die Erinnerungen an seine Jugendzeit ein. Da ist vom Hufschmied Bornemann die Rede. Senior Voges hat immer noch den hell klingenden Ton in den Ohren, der beim Aufschlagen des Schmiedehammers auf das auf dem Amboss liegende, noch glühende und dadurch weiche Metall des Hufeisens entsteht. Ansonsten war es eher ruhig im Quartier, doch halt, einmal im Jahr wurde die Stille jäh unterbrochen, die Schützen strömten in der ersten Juliwoche zum Schützenplatz. Die „Oheraner“ umsäumten die Straße oder jubelten den Schützen aus den Fenstern zu.
Sehr starke Erinnerungen hat Ernst Voges noch an die Essigfabrik Pieper, die Holzhandlung Hillegeist und an eine Lumpensortieranstalt (hier roch es häufig sehr unangenehm). Das folgende Detail erwähnte der Senior mit einem Schmunzeln: An heißen Sommertagen schauten Männer durch die Bretterwand-Astlöcher des Damenbades an der Ihme. Ob er wohl auch einen Blick riskiert hatte?
Guten Kontakt pflegte Voges zu den jüdischen Mitbürgern in der Straße, insbesondere zu den Kindern des Israelischen Kinderhorts im Haus Nr. 9.*

* > Leider hat die Ohestraße auch eine dunkle Seite. Jahrzehntelang jüdisches Quartier mit Bildungsanstalt für jüdische Lehrer und Israelitischen Kinderhort. Auch ein Verein zur Förderung des Gartenbau- und Handfertigkeit-Unterrichts in den jüdischen Volksschulen war am Platz (Haus Nr. 9). In Nr. 8 wohnte in den 1920-er und 30-er Jahren der Oberkantor Israel Alter, der sich mit seiner Familie im Jahr 1935 durch Flucht nach Südafrika der Nazi-Verfolgung entziehen konnte. Vermutlich waren die Nürnberger Rassegesetze, die im September 1935 erlassen wurden, für die Emigration der auslösende Faktor. Heute erinnern Stolpersteine vor dem Berufsbildungszentrum in der Ohestraße an das Geschehen. 1941 wurden die Häuser Ohestraße 8 und 9 in sogenannte Judenhäuser umfunktioniert. Hier warteten jüdische Mitbürger auf den Abtransport in die Vernichtungslager, so auch Henny Simon und Lore Oppenheimer, die am 15. Dezember 1941 die „Reise“ in das Getto Riga antreten mussten. Beide überlebten und wanderten in die U.S.A. aus.
In den letzten Kriegsjahren wurden in den ehemaligen Judenhäusern Kriegsgefangene, überwiegend Holländer, untergebracht. Nach dem Krieg siedelte sich dort bis ca. 1955 das „Jüdische Komitee Hannover“ an. Auch jüdische Flüchtlinge und Durchgangs-Reisende fanden in der ersten Hälfte der 1950-erJahre – neben den eigentlichen Bewohnern – vorübergehend Aufnahme.< Das Haus Ohestraße 13 erlitt in den Kriegsjahren einige Beschädigungen durch Brandbomben. Der letzte Abwurf am 25. März 1945 machte das Haus unbewohnbar. Schon bald ging es an die Schäden-Beseitigung. 1946 wurde das Haus mit Dachpappe regenfest gemacht. Ausführlich berichtet Ernst Voges über das Hochwasser im Februar 1946. Die Flut grub sich in die Erdgeschosswohnungen und Keller, man musste in den 1. Stock ausweichen. Dorthin kamen aber auch die Mieter aus den oberen Stockwerken. Es regnete durch, das Dach war noch nicht gedeckt. Das Wasser erfasste Teile der Calenberger Neustadt, die angrenzenden Stadtteile Linden, Limmer und Ricklingen, aber auch andere Bereiche im Stadtbild Hannovers. Überall schwammen Gegenstände umher. Besonders begehrt waren gefüllte Benzinkanister und Trümmerholz, so Voges. Ende der 1960-er/Anfang der 1970-er Jahre kam das Ende der alten Ohestraße. Die Häuser wurden zugunsten eines Berufsschulzentrums abgerissen. Auch Ernst Voges musste mit Familie weichen und schuf sich mit dem Erlös aus Haus- und Grundstücksverkauf ein neues Zuhause in Hannover-Kirchrode. Heute lebt er im Birkenhof Wohnstift Kirchrode. Langanhaltender Beifall belohnte den Vortragenden. Vereinsmitglied Heiner Klenke vervollständigte das Gehörte noch mit informativen Angaben aus hannoverschen Adressbüchern. Christian Harder, ehemaliger Stadtplaner, gab noch einen Ausblick in die Zukunft. Seit kurzer Zeit laufen auf dem städtischen Parkplatz zwischen Ohestraße/Ihme-Senke intensive Bauvorbereitungen. Es soll ein gemeinschaftliches Wohnquartier nach einem Entwurf (1. Preis) des Tübinger Architekturbüros Hähnig und Gemmeke entstehen. In einer 1. Phase soll die Ausschreibung der beiden Ankergrundstücke an Bauträger und Baugenossenschaften erfolgen, anschließend die Ausschreibung der Parzellen an private Baugruppen und Wohnungsbaugenossenschaften. Ehe Moderator Wolfgang Becker die Veranstaltung schloss, meldete sich noch eine ehemalige Bewohnerin des Hauses Ohestraße 11 zu Wort. Christa Heckel, geb. Klein, jetzt in Wunstorf lebend, berichtete, wie sie als Kind die Nachkriegsjahre in der Ohestraße erlebte. Gespielt wurde auf Trümmergrundstücken, auch mit jüdischen Flüchtlingskindern, die mit ihren Eltern bis Mitte der 1950-er Jahre in den Häusern Nr. 8/9 zeitweise Unterkunft fanden. Sehr unangenehm war für sie die Überbelegung der Wohnungen mit 2 oder 3 Parteien. So lebten im Haus Nr. 11 im Jahr 1950/51 27 Familien und Einzelpersonen im Vorderhaus und 16 Parteien im Hinterhaus.

Bürgerreporter:in:

Bernd Sperlich aus Hannover-Bothfeld

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