Märchen
Anna sucht den Nordpol - ein Weihnachtsmärchen

Bis zum Nordpol ist es für Anna ein weiter Weg.
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  • hochgeladen von Kurt Wolter

Vorsichtig zog Anna die Tür hinter sich zu. Niemand sollte hören, dass sie das Haus verließ. Ihre Eltern und Geschwister schliefen um diese Nachtzeit sicher tief und fest. 12mal drang der helle Ton der Glocke des Turms der alten Dorfkirche zu ihr in die Schlafkammer. Sonst nahm sie den Klang gar nicht wahr. Aber diese Nacht hatte sie darauf gewartet.

Es ging auf Weihnachten zu, und vor ein paar Tagen, zum 1. Advent, hatte ihnen, den Geschwistern, ihr Vater eine Weihnachtsgeschichte vorgelesen. Vom Weihnachtsmann, dem Christkind und den vielen Engelchen, die im Weihnachtsland am Nordpol die Geschenke für die vielen, vielen Kinder zuordnen und verpacken. Das hatte sie so aufgewühlt, dass sie immer wieder darüber nachdenken musste. Und auf die Frage, wo denn der Nordpol mit dem Weihnachtsland sei, bekam sie von niemanden eine wirklich klare Antwort, obwohl sie nicht nur ihre Eltern gefragt hatte, sondern alle möglichen Erwachsenen. Also musste sie der Sache selbst auf den Grund gehen.

Da es kalt war und fror und sogar Schnee lag, was für die letzten Jahre schon ungewöhnlich war, hatte sie sich warm eingepackt, zumal es am Nordpol ganz besonders kalt sein sollte. Ihren grobmaschigen Wollpullover mit dem bunten Norwegermuster übergestreift, die dicke Jacke darüber, den langen Schal um den Hals geschlungen und die rote Mütze mit der Bommel daran aufgesetzt, die sie sich tief über die Ohren gezogen hatte. In die Fäustlinge mit dem flauschigen Fell darin geschlüpft und zum Schluss in die Winterstiefel mit den rutschfesten Sohlen hineingestiegen. So, meinte Anna, sei sie bestens für den Nordpol gerüstet und gegen die Kälte gut gewappnet. Ihren Eltern hatte sie einen kurzen Brief auf den Tisch gelegt, in dem sie mit viel Mühe - hatte sie doch in der Schule gerade erst das Schreiben gelernt - ausgeführt hatte, dass sie die Weihnachtswerkstatt am Nordpol besuchen wolle und dieses weihnachtliche Wunderland nun mit eigenen Augen sehen wolle. Sie werde aber bald zurückkommen - und sie sollten sich keine Sorgen machen.

Doch wo sollte es nun langgehen? Anna wusste zwar, dass der Nordpol im Norden liegt. Schließlich hieß er ja so. Doch wo war Norden? Also stapfte sie erstmal durch den Schnee zum Kirchhof, dem Mittelpunkt des Dorfes. Am Tage und besonders in der Dämmerung sah es mit dem alten Fachwerkgebälk und den kleinen beleuchteten Fenstern ringsherum immer sehr gemütlich und heimelig aus. Aber nun waren sämtliche Lichter erloschen. Die Welt schlief. Doch nicht die ganze Welt. Anna blieb vor dem hohen Kirchturm stehen und reckte den Hals in den Nacken. Dort, hoch oben auf der Spitze, der goldene Wetterhahn, der schlief nie. Immer zeigte er den Wind an und das in allen nur erdenklichen Himmelsrichtungen. Zu jeder Tages- und Nachtzeit, egal ob im Sommer oder im Winter. Damit kannte er sich aus wie niemand anderes. Und so rief Anna hinauf: „Lieber Wetterhahn. Ich möchte zum Nordpol. Wo ist denn Norden?“
Der Wetterhahn drehte sich aus dem Wind, guckte verdutzt zu ihr hinunter und rief: „Wenn du nach Norden willst, dann musst du den Weg durch die Felder nehmen, der anschließend durch den Wald führt und dann immer weiter und weiter. Dann kannst du die Nordrichtung gar nicht verfehlen.“
„Ich danke dir, lieber Wetterhahn, du hast mir sehr geholfen", rief Anna hinauf. "Und wenn ich zurückkomme, werde ich dir vom Nordpol berichten."
Der Wetterhahn schaute ihr verwundert hinterher, rief ihr noch "gut Glück" nach und drehte sich dann wieder in den Wind.

Anna stapfte zwischen alten Fachwerkbauernhöfen, vor denen noch manch Misthaufen dampfte und vom Heulen eines Hundes begleitet, aus dem Dorf hinaus. Vor ihr trieb der Wind den Schnee über die offene Feldlandschaft. Aber der Weg war noch gut zu erkennen. Früher, wenn es einen richtigen Winter gab, soll er ganz zugeweht gewesen sein. So hatten es ihre Eltern erzählt. Dann hatten alle Kinder ihres Dorfes schulfrei und holten ihre Schlittschuhe oder Schlitten aus dem Schuppen, während die Kinder des Nachbardorfes, in dem sich die Schule befand, zu ihrem Leidwesen die Schulbank drücken mussten.

Nun aber kam sie gut voran. Der Himmel war bewölkt, und einige dünne Schneeflocken rieselten daraus herab. Sie setzen sich auf ihre Nase, so dass es kitzelte. Mit einem Fäustling wischte sie sie fort.
Nach einer Weile erreichte Anna den Wald. Nun wurde es noch finsterer. Zu beiden Seiten des Weges standen Tannen und Fichten. Wo der Weg entlangführte, bildeten sie eine Schneise. So konnte sie sich orientieren.
Jedes Jahr im Advent ging ihr Vater, mit ihnen, den Kindern, hierher ins Holz, um den Baum für das Fest auszusuchen und zu schlagen. Bald würde es wieder so weit sein. Sie freute sich jetzt schon auf den herrlichen Anblick in der glänzenden Weihnachtsstube. Keinen schöneren Tannenbaum als den ihren konnte es auf der ganzen Welt geben. Da war sie sich sicher. Ausgenommen im Weihnachtsland vielleicht. Und dort, mitten im dichtesten Wald, in einer kleinen Hütte, wohnte die alte Trude, die am Markttag am Kirchhof ihre gesammelten Kräuter und selbst gebundenen Reisigbesen verkaufte. Sie war den Kindern immer etwas unheimlich.

Aber dann gabelte sich der Weg. Welchen sollte sie nun nehmen, welcher führte nach Norden? Als sie so ratlos dastand, hörte sie von oben eine krächzende Stimme: „Kind, wo willst du denn hin?“
„Und das mitten in der Nacht?“, krächzte eine zweite Stimme.
Erstaunt hob Anna den Kopf. Auf dem Ast einer knorrigen Tanne saßen zwei schwarze Raben, die zu ihr herunterlugten.
„Ich will zum Nordpol, weiß aber nicht, welches der richtige Weg ist.“
„Das können wir dir sagen“, krächzte der eine Rabe. „Mit Himmelsrichtungen kennen wir Vögel uns aus.“
Und der zweite krächzte: “Der rechte Weg ist der Richtige, der führt nach Norden. Aber zum Nordpol ist es noch eine weite, weite Strecke.“
„Ich danke euch, liebe Raben. Ihr habt mir sehr geholfen.“
Während die Raben ungläubig von ihrem Ast guckten, nahm Anna den rechten Weg, der sie immer weiter in den finsteren Wald hineinführte. Etwas unheimlich war ihr dabei schon zumute, musste sie doch wieder an die alte Kräutertrude denken. Aber dann hatte sie das Bild des Nordpols, des Weihnachtsmanns, den sie dort hoffentlich treffen würde und den Engelchen vor Augen. Das gab ihr Mut.

Während sich der Himmel langsam aufklarte und die ersten Sterne funkelten, erreichte Anna irgendwann das Ende des Waldes. In der Ferne sah sie die Lichter mehrerer Dörfer, deren Häuser sich fahl gegen den jetzt klaren Himmel abzeichneten. Nun konnte sie die nördliche Richtung selbst bestimmen. Sie erkannte den Polarstern, der genau über dem Nordpol stand. Ihr Vater hatte ihr erklärt, wie er zu finden war. Man brauchte nur die beiden letzten Sterne des Großen Wagens - und den kannte nun wirklich jeder - um das Sechsfache verlängern. Schon hatte man ihn gefunden. Um ihn drehte sich jeden Tag das gesamte Himmelsgewölbe mit all seinen Sternen. Und das waren so viele, dass man sie nicht zählen konnte.

Aber langsam wurden Annas Füße müde. Schon so lange war sie unterwegs. Das eine oder andere Mal hatte sie sich eine kleine Pause gegönnt und von den mitgenommenen Lebkuchen gegessen. Schließlich setzte sie sich auf einen umgefallenen Baumstamm, um zu verschnaufen. Plötzlich sah sie einen Schatten vorbeihuschen. „Hej du, warte, ich muss dich etwas fragen“, rief sie ihm nach. Der Schatten wandte sich um und kam zu ihr zurück. Es war ein Fuchs, der durch die kalte Winternacht strich.
„Ich bin die Anna, und ich möchte zum Nordpol. Wie weit ist es noch bis dorthin?“
Der Fuchs hob seinen buschigen Schwanz und antwortete: „Das kann ich dir nicht sagen, das könnten nur meine Vettern, die Polarfüchse, beantworten. Aber die wohnen weit, weit weg, hoch im Norden.“
Er machte eine nachdenkliche Pause, fuhr dann aber fort: „Aber einen Tipp kann ich dir geben. Noch ein gutes Stück weiter scharren Rentiere im Schnee, die an den darunter versteckten Moosen knabbern. Die können dir bestimmt Auskunft geben.“
„Ich danke dir, lieber Fuchs. Vielleicht kann ich auch mal etwas für dich tun.“
„Das kannst du schon jetzt.“ Er blickte sie verschmitzt an. „Du kannst mir sagen, wo es die fettesten Weihnachtsgänse gibt.“
Das konnte sie nun wirklich nicht, wusste sie doch, was der Fuchs mit ihnen vorhatte. Und so antwortete sie: „Im Wald habe ich ein totes Wildschwein gesehen. Daran kannst du dich über Weihnachten laben. Du brauchst meinen Fußspuren nur ein Stück zu folgen, dann wirst du es schon finden."

Anna war noch lange unterwegs, immer den Blick auf den hellen Polarstern gerichtet, der leicht zu finden war, da er in einer sternarmen Himmelsgegend stand. Und sie musste dabei an die drei heiligen Männer denken, die vor langer, langer Zeit ebenfalls einem Stern gefolgt waren. Auch an die Hirten auf den Feldern bei den Schafen, die damals zu ihm hinaufblickten und spürten, dass in dieser Nacht etwas Ungewöhnliches geschehen war.

Ab und zu löste sich aus dem Sternengefunkel über ihr eine Sternschnuppe, die eine leuchtende Spur über das Firmament zog und die Annas Gesicht für einen Augenblick erhellte. Sie wusste, dass es sich dabei um die Wünsche der vielen, vielen Kinder handelte, denn jede einzelne Schnuppe war ein Kinderwunsch. Und wer nur fest daran glaubte, für denjenigen ging der Wunsch auch in Erfüllung. Als sie eine besonders helle Sternschnuppe sah, äußerte sie ihren eigenen. Sie durfte ihn aber nicht aussprechen, denn sonst würde er nicht geschehen. So hielt sie ihn nur in ihren Gedanken fest.

Schließlich sah sie in der Ferne im Schnee etwas Dunkles. Als sie sich diesem näherte, erkannte sie unzählige Beine und Geweihe. Sie erreichte die Rentierherde, von der der Fuchs gesprochen hatte. Als Anna auf sie zutrat, drehten einige von ihnen den Kopf zu ihr herum und schauten sie verwundert mit großen Augen an, in denen das Sternenlicht glitzerte. Da es inzwischen bitterkalt geworden war, strömte warme Atemluft wie Dampf aus ihren Nüstern. Ein etwas größeres Tier mit mächtigen Geweihstangen und einer dunklen Stupsnase trat aus der Herde hervor und einen Schritt auf Anna zu. „Nanu, ein Menschenkind! Was willst du denn hier?“ Und auch die Nebenstehenden schauten sie fragend an.
„Ich bin die Anna, und ich möchte zum Nordpol und zum Weihnachtsmann.“
„Für Menschen ist der Nordpol nicht erreichbar, die dürfen dort nicht hin. Nur Wesen, die dem Himmel nahestehen haben zum Weihnachtsland Zutritt.“
„Aber ich stehe dem Himmel nahe, gehe ich doch oft zum Kindergottesdienst“, sagte Anna fast ein wenig empört. „Und ich möchte wissen, ob sich dort auch wirklich das Weihnachtsland befindet.“
„So, so“, verdrehte das Rentier die Augen. „Da kann ja jeder kommen.“ Und es schüttelte bedenklich den Kopf.
„Aber ich bin doch nicht jeder, ich bin doch die Anna, und manche von meinen Freundinnen und Freunden meinen, dass es das Weihnachtsland in Wirklichkeit gar nicht gäbe.“
„Dem muss ich nun wirklich widersprechen. Natürlich gibt es das Weihnachtsland. Ich selbst bin jedes Jahr zum Weihnachtsfest mit dem Weihnachtsmann und dem Christkind unterwegs, darf ich doch in seinem Schlittengespann mitlaufen, das die Geschenke zu den Kindern bringt. Das ist eine große Ehre für mich.“
Erstaunt schaute Anna in die großen dunklen und glänzenden Augen. „Ja, kannst du mir dann vielleicht helfen, zum Nordpol zu kommen? Es wäre sehr freundlich von dir. Ich wäre dir dafür besonders dankbar. Außerdem wäre es doch schade, wenn ich den weiten Weg bis zu euch umsonst gemacht hätte.“
Das Rentier schnaubte, und wieder trat Dampf aus seinen Nüstern hervor. Es drehte den Kopf zu seinen Gefährten erst zur einen Seite, dann zur anderen. Die nickten ihm aufmunternd zu. Dann wandte es sich wieder an die kleine Anna, die mit ihrer rotgefrorenen Nasenspitze in der klaren Winternacht vor ihm im Schnee stand und es fragend anschaute.
„Na gut, du hast mich überzeugt. Dann will ich mal eine Ausnahme machen und dir helfen, musst du doch zu Hause davon berichten, dass es das Weihnachtsland am Nordpol auch wirklich gibt. Du kannst mich übrigens Rudolph nennen, denn so ist mein Name.“
Freudig schaute Anna das Rentier an: „Das ist ja wunderbar, Rudolph, ich bin dir so unendlich dankbar.“
Anna machte einen Luftsprung vor Freude, nahm Rudolphs Kopf in beide Hände und drückte ihm einen Kuss auf die feuchte Schnauze.
„Na, na, ist ja schon gut“, sagte er ein wenig gerührt. In den nächsten Tagen hätte ich sowieso zum Nordpol aufbrechen müssen, nun geht es eben etwas eher los.“
Die anderen Rentiere nickten bejahend mit den Köpfen.
„Ich bin bereit, Anna. Ich knie mich jetzt in den Schnee, dann kannst du auf meinen Rücken steigen und aufsitzen. Beug dich weit vornüber und halte dich an den Ansätzen meiner Geweihe fest, dann kannst du den kalten Fahrtwind besser ertragen.“
Anna tat wie ihr geheißen. Sie zog sich noch einmal die Mütze tief über die Ohren, schlang ihren Schal fest um den Hals und vors Gesicht, so dass nur noch ihren Augen hervorschauten, schwang sich auf den Rücken und war dann bereit für den großen Ritt. Sie war voller Vorfreude auf das, was da kommen würde.
Die anderen Rentiere nickten Rudolph noch einmal zu.
„Bis irgendwann“, riefen sie im Chor.
Dann setzte sich das große Rentier in Bewegung, so dass die Hufe nur so über den glitzernden Schnee flogen und diesen aufwirbelten. Als es eine gewisse Geschwindigkeit erreicht hatte, lösten sich die Hufe vom Boden und es ging in die Luft hinauf.
„Hui“, rief Anna, „das ist ja eine rasante Fahrt“, und sie umklammerte fest die Ansätze von Rudolphs Geweihen. Schnell gewannen sie an Höhe. Als Anna einen Blick zurückwarf, sah sie schon weit unten die zurückgelassenen Rentiere, die den Kopf angehoben hatten, um ihnen nachzuschauen. Es war ihr so, als wenn sie ihnen mit ihren mächtigen Geweihen nachwinken würden. So ging es schnellen Trabes über den Himmel. Tief unten die weite, fahle Schneelandschaft, und über ihnen die glitzernden Sterne, die nun größer wurden, da sie dem Firmament nähergekommen waren. Nach einer Weile stieg auch der Mond hinter den Bergen am Horizont empor, noch unter ihnen. Er begann seinen nächtlichen Lauf. Erstaunt blickte die rötliche Laterne mit ihrem großen vollen Gesicht dem Gespann zu. Und Anna rief ihn an: “Lieber Mond, das ist sehr freundlich von dir, dass du uns den Weg leuchtest.“ Rudolph musste darüber schmunzeln, denn natürlich kannte er diesen in- und auswendig und würde ihn auch in der finstersten Nacht finden.
So ging es über Berge und Täler, über Dörfer mit spitzen Kirchtürmen, über verschneite Felder, über verschneite Wiesen und Wälder. Manchmal war in der Tiefe ein zugefrorener See zu erkennen, auf dessen vereister Oberfläche das Mondlicht glänzte, manchmal schlängelte sich ein Fluss durch die Landschaft, auf dessen sprudelndem Wasser es glitzerte. Doch irgendwann hörte das besiedelte Gebiet auf. Unter ihnen tauchte eine Küstenlinie auf. Sie erreichten das weite Meer, das unendlich groß zu sein schien. Zunächst plätscherten tief unten noch die Wellen an dessen Oberfläche, und sie ließen die eine oder andere Insel hinter sich, gebildet durch bizarre vereiste Felsen. Aber dann sahen sie nur noch Wasser, soweit das Auge reichte. Rudolph schnaubte vor Freude: „Nun ist es nicht mehr allzu weit, Anna.“ Sie verstand gerade noch seine Worte, ehe sie der Fahrtwind verwehte.

Bald überzog sich das weite Meer mit einer Eisschicht, aus der der eine oder andere Eisberg herausragte und in der ein Eisbär zu nächtlicher Stunde über die weiße Oberfläche tapste. Aus der Höhe wirkte er so winzig klein. Und schließlich erkannte Anna in der Ferne viele Lichter, über denen hoch oben am Firmament wie eine Markierung der Polarstern stand. Das war der Nordpol, und dort befand sich auch das Weihnachtsland.
Kurz darauf erreichten sie das nördlichste Gebiet der Erde, von dem alle Himmelsrichtungen nach Süden zeigten, und Rudolph setzte zur Landung an. Noch trabte er immer weiter nach unten laufend durch die Luft. Doch schließlich erreichten seine Hufe den Boden, wirbelten den Schnee auf und er bremste, so dass er im eisigen Untergrund noch ein ganzes Stück weiter rutschte. Dann kam er zum Stillstand. Sie waren am Ziel ihrer langen Himmelsfahrt angekommen.

Anna sprang von Rudolphs Rücken in den knirschenden Schnee hinunter. Sie stand vor einem großen Gebäude, das aus braunem Balkenwerk bestand. Es hatte viele erleuchtete Fenster mit Butzenscheiben, von deren Simsen lange Eiszapfen herunterhingen. Das Schindeldach war dick mit Schnee beladen. Aus den Schornsteinen zogen Rauchwolken senkrecht in den klaren Himmel zum Sternengefunkel empor. Kein Windhauch regte sich. Neben einem großen Eingangstor befand sich eine silberne Glocke, von der eine lange Kordel herabhing.
Anna sah Rudolph fragend an.
„Nun musst du selbst weitergehen. Ich werde mich zum Stall begeben, wo eine verdiente Fuhre Heu auf mich warten wird. Wir sehen uns später.“
Anna nickte.
Da stand sie nun ganz allein in der eisigen Winternacht. Ein wenig mulmig war ihr schon zumute. Was würde sie erwarten? Wie würde der Weihnachtsmann auf ihr Kommen reagieren? Darüber hatte sie sich bisher kaum Gedanken gemacht. Aber dann gab sie sich einen Ruck. Sie nahm die Kordel in die Hand, zog erst zögerlich und dann kräftig daran. Ein heller, durchdringender Klang ertönte, der den ganzen Nordpol zu erfüllen schien. Kurz darauf wurde das Tor geöffnet. Unter einem blondgelockten Haarschopf schauten Anna zwei große Augen erstaunt und ungläubig an. Zögernd und etwas unsicher sprach sie: „Ich bin die Anna, ich möchte zum Weihnachtsmann.“
Das Engelchen bewegte seine weißen Flügel, und das goldene Stirnband mit dem kleinen Sternchen in dessen Mitte rutschte ihm fast vor die Augen. Nachdem es endlich begriffen hatte, war es doch zu außergewöhnlich, dass ein Menschenkind am Nordpol im Weihnachtsland erschien, fand es seine Worte: „Dann komm bitte herein, Anna. Aber klopf dir erst den Schnee von den Schultern.“

Nun trat Anna ein, und sie machte noch größere Augen als das Engelchen zuvor. Überall in den Räumlichkeiten herrschte ein reger Betrieb. In jedem Winkel des Raumes waren Engelchen damit beschäftigt, Geschenke aus den Regalen herauszusuchen: Puppen, Teddybären, Lokomotiven, Feuerwehautos, Puppenwagen, Kasperfiguren und vieles mehr. Andere Engelchen verpackten die Geschenke in Weihnachtspapier und banden rote Schleifen darum. In einer Ecke stand ein riesiger Tannenbaum, in dessen silbernen Kugeln sich die ganze Weihnachtsstube spiegelte. Unzählige Lichter brannten daran. Und aus einem Nebenraum erklangen helle, glockenklare Stimmen. Ein Engelchor probte für das große Fest. Mittelpunkt des großen Raumes aber war ein Kamin, in dem ein flackerndes Feuer züngelte. Und davor saß in einem Lehnstuhl in einen roten Mantel gekleidet der Weihnachtsmann, einen Stapel Briefe in der Hand, die Wunschzettel der Kinder.

Als der Weihnachtsmann einen Windhauch spürte und das Feuer wild zu flackern begann, da das Tor geöffnet worden war, schaute er von seiner Betätigung auf. Und da stand, von einem Engelchen herbeigeführt, ein kleines Mädchen, das er natürlich kannte, denn er kannte alle Kinder dieser Welt.
„Na, das nenne ich aber mal eine Überraschung. Was machst du denn hier, Anna? Du gehörst doch in dein Bettchen und müsstest schlafen und von Weihnachten träumen.“
Vor Aufregung stand Anna mit klopfendem Herzen da, in das Gesicht mit dem langen weißen Bart und den roten Backen schauend.
„Ich wollte dich besuchen und das Weihnachtsland am Nordpol kennenlernen. Niemand von den Erwachsenen konnte mir sagen, wo es wirklich liegt. Deshalb habe ich mich auf den weiten Weg gemacht, um es zu suchen und zu erfahren, ob es dieses auch wirklich gibt.“
Streng sah der Weihnachtsmann die kleine Anna an: „Eigentlich ist das nicht erlaubt, denn nur wir Wesen des Weihnachtslandes dürfen dieses auch betreten. Menschen und besonders Menschenkinder haben hier nichts zu suchen.“ Und er legte mit diesen Worten die Feder aus der Hand, mit der er die Wunschzettel abhakte und runzelte die Stirn.
„Aber ich musste kommen, lieber Weihnachtsmann. Ich konnte nicht anders. Etwas Unerklärliches hat mich angetrieben.“
„So, so“, brummte er in seinen langen weißen Bart und schmunzelte dabei in sich hinein, ohne dass Anna es bemerken konnte.
„Jetzt bist du also hier, und nun will ich mal eine Ausnahme machen.“ Er blickte das neben Anna stehende Engelchen an: „Führe bitte die kleine Anna einmal überall herum, zeige ihr, wie es im Weihnachtsland zugeht und bring sie nachher nach Hause zurück. Du darfst auch mein Rentiergespann nehmen.“
Das Engelchen freute sich, fühlte es sich doch durch diesen ungewöhnlichen Auftrag geehrt.
Und Anna sagte: „Ich danke dir auch recht schön, lieber Weihnachtsmann.“
Sie wollte noch etwas sagen. Doch bevor sie noch fortfahren konnte, nahm das Engelchen sie an die Hand und führte sie, da sich der Weihnachtsmann wieder den Wunschzetteln zuwandte, hatte er doch jede Menge zu tun, in den weiten Raum hinein. Aber er hob noch einmal den Kopf und sah Anna schmunzelnd nach. So etwas hatte er sein Lebtag noch nicht erlebt, obwohl er soo alt war, dass man es sich kaum vorstellen konnte.

Die sternenklare Nacht ging bereits ihrem Ende entgegen, als der Stallknecht die Rentiere, zu denen nach einer Stärkung auch Rudolph gehörte, in ihre Geschirre mit den vielen silbernen Schellen daran eingespannt hatte. Das Engelchen nahm die Zügel auf, und Anna setzte sich daneben auf den Kutschbock, eine wärmende Decke über die Knie gelegt. Ein letzter Blick zurück auf die erleuchteten Fenster des Weihnachtslandes, dann setzten sich die Rentiere in Bewegung, nahmen Geschwindigkeit auf und hui, ging es wieder in den Himmel hinauf, den Nordpol schnell hinter sich lassend, begleitet von einem rhythmischen Schellen. Ganz nah am Mond vorbei, der wiederum über das außergewöhnliche Geschehen ein erstauntes Gesicht machte. Die Fahrt über Eis, Meer und verschneites Land verging wie im Fluge, bis der goldene Wetterhahn wieder in Sicht kam, der sich verwundert zu dem weihnachtlichen Gespann umdrehte. Und schwupps, ehe sie sich versah, war Anna wieder zu Hause und lag in ihrem Zimmer in ihrem Bettchen, unter den warmen, kuschligen Federn.                            
                                            
Als es auf den Morgen zuging, wurde Anna langsam wach. Sie räkelte sich und blinzelte zum Fenster hinüber. Es war noch nicht hell geworden, aber vorsichtig zeigte sich das erste Violett und es war zu ahnen, dass bald ein neuer klarer Wintertag anbrechen würde. Noch stand der volle gelbe Mond am Himmel. Mit seinem runden, freundlichen Gesicht sah er durch die leicht vereisten Fensterscheiben zu Anna herein. Und es war ihr fast so, als wenn er lächeln würde. Die ganze Fahrt über hatte er ihnen wie eine große Laterne geleuchtet.

Anna schob ihr Federbett beiseite und richtete sich auf. Sie rieb sich den Sand aus den noch verschlafenen Augen. Was war das für eine Nacht gewesen?! Sie war am Nordpol und im Weihnachtsland, hatte den Weihnachtsmann persönlich gesprochen und die Engelchen kennengelernt. Ihr großer Wunsch war tatsächlich in Erfüllung gegangen. Aber ..., und sie überlegte, war das alles auch wirklich geschehen? Oder hatte sie es nur geträumt? Anna wusste es nicht, sie war sich nicht sicher. Doch was ist schon sicher in dieser Welt, die voller ungewöhnlicher Wunder ist. Ganz besonders aber in dieser wundersamen Weihnachtszeit.
Als Anna aufstehen wollte und die Füße auf den Boden setzte, um in ihre Pantoffeln zu schlüpfen, trat sie auf etwas rundes Festes. Sie hob es auf und betrachtete es. Es war eine kleine silberne Schelle.

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