Traumlandschaft Montblanc-Gebiet - Eine Grattour an der Aiguille Verte (Fotos: Markus und Kurt Wolter)

Unterwegs auf Traumpfaden.
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Die Alpen haben eine Menge allerschönster Berglandschaften zu bieten. Zu den eindrucksvollsten gehören sicher in den Ostalpen die Dolomiten, in den Westalpen bei Grindelwald das Dreigestirn von Eiger, Mönch und Jungfrau, das Amphitheater der Viertausender über Saas Fee, der vom Jungfraujoch herabströmende Aletschgletscher oder der Anblick des Matterhorns von den Wiesenhängen über Zermatt. Wer diese wunderbaren Landschaften mit eigenen Augen gesehen hat und darin unterwegs gewesen ist, egal ob zum Wandern oder zum Klettern, der ist wohl aus dem Staunen vor so viel Schönheit der Natur kaum herausgekommen.
Doch eine Berglandschaft in den Westalpen gibt es, zwischen dem Arvetal im Norden und dem Val Veni und Val Ferret im Süden gelegen, die stellt das alles noch in den Schatten. Natürlich ist es das Montblanc-Massiv, das Dach Europas. Nicht nur seiner ungeheuren Dimensionen wegen beeindruckt dieses Gebiet, das knapp an die 5000 Meter Höhe heranreicht. Sondern es ist seine Wildheit mit den gewaltigen Granitmassiven, den unzähligen spitzen Felsnadeln und den verborgenen Gletscherströmen, die es so fantastisch erscheinen lässt. Wer in dieser urwüchsigen Welt aus Granit und Eis unterwegs ist, der fühlt sich unserer technisierten Zivilisation vollkommen entrückt. Keine lärmende Stadt, kein Lichtmüll, kein hektisches Treiben. Nur grandiose Natur und Geräusche, wenn man die Seilbahnstation verlassen hat, die daraus kommen. Der Schrei einer Dohle, das Poltern des Steinschlages oder manchmal das Grollen einer Lawine.
Und natürlich hört man sein eigenes Hecheln. Denn die Luft dort oben ist dünn, und bei großen Anstrengungen, die unweigerlich bei diesen Hochtouren dazugehören, muss man nicht selten nach Sauerstoff ringen. Selbst das Klopfen des eigenen Herzens vernimmt man, und man spürt wie der Puls rast. Aber auch das ist es, was das Unterwegssein in größeren Höhen so reizvoll macht. Man merkt am eigenen Körper, dass die Verhältnisse anders sind, dass man dem Himmel näher ist. Und das ist ein gutes Gefühl.
Für ein solches sorgen auch die Glückshormone wie Dopamin, die das Gehirn freisetzt. Und Adrenalin führt in Extremsituationen zu Leistungssteigerung und voller Konzentration. Und die wird so manches Mal gebraucht, gibt es doch immer wieder nicht ganz ungefährliche Situationen zu überwinden, die, so vorsichtig man auch zu sein versucht, sich nie ganz vermeiden lassen.
Das zeigen auch die Unfallzahlen im Montblanc-Gebiet. Sind am Mount Everest bisher etwa 200 Bergsteiger ums Leben gekommen, so sind es im Montblanc-Gebiet geschätzte 6.000 bis 8.000. Und jedes Jahr wieder kommen etwa 40 weitere hinzu. Diese hohen Zahlen liegen natürlich daran, dass diese Gebirgsregion, auch wenn man dort oft in fast menschenleeren Gebieten unterwegs ist, eben nicht wie der Himalaya am Rande der Welt liegend, insgesamt stark frequentiert wird. So starten an manchen Schönwettertagen im Juli und August um die 300 Bergsteiger, um die glänzende Firnkuppe des Montblanc zu erreichen. Aber nur zu diesem höchsten Punkt hin kommt es zum Massenauflauf, und das auch nur am Normalweg. In den meisten anderen Gebieten begegnet man eher wenigen Menschen. Und nicht selten ist man vollkommen allein.
Doch sollte man diese wunderbare Natur der eventuellen Gefahr wegen meiden und auf großartigste Erlebnisse verzichten? Das muss jeder für sich selbst entscheiden. Und wer am Bergsteigen wirklich interessiert ist, für denjenigen stellt sich diese Frage nicht. Es sei denn, er hat bereits schlechte Erfahrungen gemacht.

Wir hatten uns für diesen Julitag mal keine große Tour ausgesucht. Mal nicht mitten in der Nacht aufstehen und bis zum frühen Abend unterwegs sein. Aber natürlich sollte sie durch eine fantastische Landschaft führen. Bei nur 300 Höhenmetern war in aller Ruhe und Langsamkeit Genussklettern angesagt. Als Ziel hatten wir uns dazu die Aiguille Verte im nördlichen Montblanc-Gebiet ausgesucht, die eine Höhe von etwas über 4100 Meter erreicht. Wir wollten diesen Bergriesen allerdings nicht besteigen, der zu den schwierigeren Viertausendern gehört, muss man dazu doch versierter sein als wir es sind (zumindest als ich es bin), sondern wollten nur zu einem Vorgipfel, die Petite Aig. Verte, 3512 Meter hoch, hinauf.
Unser Ausgangspunkt dazu war das Arvetal. Dort liegt nicht nur der weltbekannte Ort Chamonix, der sich selbst als Welthauptstadt des Bergsteigens versteht, sondern etwas nördlich davon das kleinere und ruhigere Argentiere. Von dort gondelt eine Seilbahn zur Aig. des Grands Montets in 3200 Meter Höhe hinauf. In wenigen Minuten überwindet man damit schon einmal mehr als 2000 Höhenmeter. Von sanften und grünen Wiesenhängen wird man in einer solch kurzen Zeit in eine hochalpine Landschaft katapultiert, die nur noch aus Eis und Granit besteht. Meistens gehen wir einen Berg von unten an und durchsteigen die verschiedenen Landschafts- und Vegetationszonen. Und so ist es schon irgendwie merkwürdig, von einer geborgenen Welt so schnell in eine vollkommen andere, lebensfeindliche hineinzukommen.

Dort oben in der dünnen Luft kamen wir also ungewohnt spät an diesem Morgen an. Gleich hinter der Seilbahnstation wurden die Steigeisen angelegt, das Seil geordnet, eingebunden, den dieses Mal leichten Rucksack geschultert, den Eispickel in die Faust genommen, und schon konnte die Tour beginnen.
Zunächst ging es flache Eishänge hinauf, die sich später zunehmend steiler aufschwangen. Mal eine Spalte übersprungen, dann weiter gestapft. Das Wetter war in Ordnung. Blauer Himmel und viele Wolken wechselten sich ab. Aber kein drohendes Gewitter in Sicht. Das beruhigte, waren wir doch zwei Jahre zuvor einmal am Montblanc du Tacul in 4000 Meter Höhe selber auf steilem Firnhang von einem solchen überrascht worden. Das muss man nicht unbedingt haben. Nur mit äußerster Anstrengung konnten wir uns damals in der Gletscherspalte des Bergschrundes in Sicherheit bringen. Doch an diesem Tag an der Aig. Verte zeigte sich das Wetter von seiner harmlosen Seite.
Nach einer Weile wurde der Hang so steil, dass wir die Zickzack-Variante wählen mussten, um ihn zu entschärfen. Abrutschen wollten wir an dieser Passage nicht unbedingt, denn es ging weit und tief hinunter.
Schließlich erreichten wir kurz vor dem beginnenden Felsgrat, unserem ersten Etappenziel, den Bergschrund. Ein solcher ist eine Begrenzung von dem Eis, das sich an dem darüber liegenden Grat oder Felsen festklammert, von dem des darunter langsam fließenden Gletschers. Ein Bruch entsteht an einer solchen Stelle, und über diesem wird das Eis steil, manchmal senkrecht. Auch bilden sich an der Bruchkante oft Höhlen. Und wenn es ganz dumm laufen sollte und es auch keine Leiter gibt, dann kann eine Tour schon beendet sein.
Hier nun war es, wenn auch nicht senkrecht, so doch extrem steil. Doch Markus hatte in weiser Voraussicht seine Eisgeräte dabei, mit denen ihm das Überwinden dieser Passage keine Schwierigkeiten machte. Die Spitzen der Hauen und die Frontalzacken der Steigeisen geben guten Halt. Und ich konnte anschließend, nachdem er festen Stand hatte, gesichert nachsteigen. Danach noch ein kleines, steiles Firnfeld hinauf, dann hatten wir den Fels erreicht und damit den Grat. Dieser sollte uns nun bis zum höchsten Punkt unserer Tour führen.
Ein Grat bietet immer eine besonders reizvolle Kletterei, hat man die Tiefblicke doch meist zu beiden Seiten. Oft ist er exponiert, und manchmal auch extrem schmal. So zum Beispiel am Rochefortgrat auf der Südseite des Montblanc-Massivs, den wir im Jahr zuvor gemacht hatten. Dort geht man im Firn bei atemberaubenden Tiefblicken tatsächlich auf des Messers Schneide. Mancher Wanderer kennt vielleicht auch den Felsgrat über die drei Watzmann-Gipfel oder mancher Bergsteiger den langen, anspruchsvollen Jubiläumsgrat an der Zugspitze. Derjenige weiß, wovon ich spreche und wie eindrucksvoll das sein kann. Auf dieser Tour jedoch war es ein moderater Grat. Zwar immer wieder eindrucksvollste Tiefblicke, mal zu der einen, mal zu der anderen Seite. Aber es war ein breiter Gratrücken, eben nicht schmal.

Gleich zu Anfang ging es über diagonale, glatte Platten hinüber. Feine Risse befanden sich darin, in denen man mit den Fingerkuppen gut Halt finden konnte. Auch Balance war dabei gefragt. Danach wurde das Gelände wildzerklüftet. Granit vom Allerfeinsten. Kein loses Gestein, nichts Brüchiges, kein Schotter. Alles fest und solide. So ein Gelände wünscht man sich und macht einfach nur Spaß, und dabei kamen wir gut voran. Doch immer wieder waren Passagen dazwischen, die schwieriger waren, weswegen wir den Großteil der Strecke mit Seil unterwegs waren.
Doch dann kam eine Stelle, die hatte es insich. Ein paar Meter auf schmalsten Absatz. Dazu keine Griffe am Fels, nur eine glatte, senkrechte Wand. Und hinter uns ging es steil und tief hinunter. Doch mit der notwendigen Balance war auch das kein Problem. Wieder auf den Felsgrat hinauf, und weiter geklettert.
Und das war eine Freude, eben Genussklettern. Eine solche waren auch die Tiefblicke zu beiden Seiten. Nach links weit unter uns befand sich der Argentiere-Gletscher, dessen Eisstrom sich langgestreckt und leicht windend ins Arvetal hinunterzieht und erst 500 Meter über dessen Grund endet. Auf der anderen Seite erhoben sich die steilen Flanken der Aig. d´Cardonnet, der Aig d´Argentiere und anderer Berggiganten. Zwischen ihnen kommen die verschiedenen Hängegletscher herunter. Allerdings strömen sie nicht mehr bis nach unten, hat sie doch die Klimaerwärmung durch das Abschmelzen des Eises vom Hauptstrom des Argentiere-Gletschers abgeschnitten. Nach rechts sahen wir in das Gletscherbecken des Glacier de Talefre. Es waren an einigen ausgesetzten Stellen schwindelerregende und faszinierende Tiefblicke. Doch leider werden diese in Zukunft nicht mehr so spektakulär sein, werden doch die Gletscher vermutlich schon in den nächsten Jahrzehnten zum Großteil verschwinden. Dann wird die Landschaft bedeutend trostloser aussehen.
Schon ziemlich weit oben kam eine Stelle, da verließ mich zunächst der Mut. Doch Markus machte es mir vor. Auf dem Allerwertesten eine Schräge ohne Griffmöglichkeiten bis zu einer Felskante hinuntergerutscht. Danach ein Sprung zu einem Felsblock hinunter, zu dessen beiden Seiten es in die Tiefe ging. Doch es war eigentlich gar nicht so schlimm wie es aussah. Nun noch ein wenig Kletterei, eine einige Meter senkrechte Felswand hinunter, und dann waren wir am kleinen sich vor uns aufschwingenden Felsgipfel. Drei Stunden hatten wir von der Seilbahnstation für die 300 Höhenmeter benötigt.
Nach einem ausgedehnten Picknick in 3500 Metern Höhe machten wir uns dann wieder an den Abstieg. Bis auf die eine schwierige Passage mit dem schmalen Absatz, an dem auch nicht vernünftig gesichert werden konnte, verlief dieser problemlos.
Wieder unten an der Station, überstiegen wir die Brüstung der Aussichtsplattform und gelangten so auf einen vorgeschobenen Felssporn. Mit jeder Menge Luft zu drei Seiten waren die Tiefblicke atemberaubend. Sie gehören zu den schönsten, die wir je in den Alpen erlebt haben. Im Abgrund unter uns schob sich der Gletscherstrom des Argentiere ins Tal hinab. Nach rechts wurde er flankiert von den steilen Felsflanken des 4000 Meter hohen Droites. Nach links von diversen Gipfeln, die ebenfalls bis knapp an die 4000 heranreichen. Wow! Es ist eine gewaltige Szenerie. Sie wirkt wie aus einem Lehrbuch für Gletscherkunde. Wir konnten uns kaum sattsehen daran und haben diesen Anblick für immer in unser Gehirn eingebrannt.
Es war mal wieder eine großartige Tour gewesen. Sie beinhaltete alles, was man sich als Hobbybergsteiger so wünscht: Einen Gletscherzugang, einen steilen Bergschrund, herrlich festen und kompakten Fels, ausgesetzte Passagen mit Nervenkitzel und fantastische Aus- und Tiefblicke. Was will man mehr.
Wer gerne und nicht allzu schwierig klettern möchte, dem kann ich diese Tour empfehlen. Man kann sie mal zwischen den wirklich großen Touren einschieben, sich damit auch akklimatisieren für höhere Aufgaben. Doch diese Tour ist mehr als nur eine Akklimatisationstour. Sie macht einfach Freude, und man merkt dabei, dass es sich immer wieder lohnt, in den Bergen unterwegs zu sein. Man erfährt dabei Glücksgefühle und Gefühle der Zufriedenheit, die das doch eher eintönige Alltagsleben weit hinter einem lassen. Und das tut einfach gut.

Weitere attraktive Touren im Montblanc-Gebiet:

Atemberaubend - Der Rochefortgrat

Biwakieren am Mer de Glace - Unterwegs am drittgrößten Alpengletscher

Unterwegs am Montblanc Bei Saas Fee im Schweizer Wallis reihen sich die Berggiganten aneinander

Bürgerreporter:in:

Kurt Wolter aus Hannover-Bemerode-Kirchrode-Wülferode

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