Bei Saas Fee im Schweizer Wallis reihen sich die Berggiganten aneinander – Nicht nur wer die magische 4000-Meter-Marke übersteigen möchte, ist dort am richtigen Ort

Wer traumhafte Bergkulissen mag, hat mit dem Saas-Tal, einem Seitental der Rhone, das richtige Ziel gefunden.
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  • Wer traumhafte Bergkulissen mag, hat mit dem Saas-Tal, einem Seitental der Rhone, das richtige Ziel gefunden.
  • hochgeladen von Kurt Wolter

Die Alpen haben jede Menge eindrucksvollster Berglandschaften zu bieten. Und immer wieder, wenn man in dieser vielseitigen Gebirgslandschaft unterwegs ist, ist Staunen angesagt. Staunen über die Großartigkeit dieser grandiosen Natur. Ob es nun an den bizarren Dolomitengipfeln ist, an den höchsten Bergen der Ostalpen, dem Piz Bernina und dem Piz Palü mit ihren eindrucksvollen Gletscherströmen, der himmelhohen Eiger-Nordwand, dem markanten Matterhorn, dem vielleicht formschönsten Berg der Erde, oder den glänzenden Firnflanken des Montblanc, dem Höhepunkt dieses Gebirges. Überall gibt es Anblicke, die jeder Berginteressierte kennt und die, wenn man sie in Natura erlebt, den eigenen Puls in die Höhe treiben.

Einen Anblick jedoch gibt es, der fasziniert ganz besonders. Er ist eines meiner persönlichen Berg-Highlights in den Alpen. Und dieses phantastische Panorama hat man vor Augen, wenn man in 2400 Meter Höhe bei Kreuzboden über dem Walliser Saas-Tal steht. Dort gibt es an der Zwischenstation der Seilbahn, die von Saas Grund nach Hohsaas hinaufgondelt, einen malerischen See, in den ein kleiner Wasserfall plätschert. Vom Ostufer des Sees, die türkisblaue Wasserfläche im Vordergrund und die beiden Viertausender Weißmies und Lagginhorn direkt im Rücken, blickt man auf die gegenüberliegenden Talhänge, über denen sich eine atemberaubende Szenerie aufbaut. Dort reihen sich im Halbkreis, einem gigantischen Amphitheater ähnlich, mächtige Bergflanken bis zu 3000 Meter Höhe über dem Talgrund aneinander. Ein Viertausender neben dem anderen. Von links sind es Allalinhorn, Alphubel und Dom, der mit 4545 Meter höchste Berg der Schweiz, der ganz auf Schweizer Boden liegt. Dann der Nadelgrat, der die Gipfel des Dürrenhorn, Hohlberghorn, Stecknadelhorn und Nadelhorn miteinander verbindet. Es ist eine gewaltige Mauer von Viertausendern, deren riesige Dimensionen man nicht wirklich einschätzen kann, fehlen in der Weite der Landschaft doch die Bezugspunkte dazu. Und tief unten, wie in einem Brennpunkt, auf den alle Bergflanken zuzulaufen scheinen, liegt 200 Meter über dem Talgrund der Ort Saas Fee, Ausgangspunkt vieler Besteigungen.

Natürlich ist es das eine, bei einer Wanderung auf diese eindrucksvolle Landschaft zu schauen. Doch natürlich möchte man als Bergsportinteressierter darin auch unterwegs sein, sich an dem einen oder anderem Berg ausprobieren. Und das ist für alle diejenigen von besonderem Reiz, die sich noch nicht an die wirklich schwierigen Gipfel wagen, die aber die magische Viertausender-Grenze überschreiten wollen. Unter diesen Bergen gibt es nämlich einige, die zwar nicht leicht zu ersteigen sind, die aber noch keine großen klettertechnischen Fähigkeiten voraussetzen. Natürlich muss man dafür hochalpine Erfahrung haben, auf steilem Firn mit Seilsicherung und Eispickel umgehen können. Schwindelfreiheit ist erforderlich und die Kondition muss passen, ist der Sauerstoffgehalt der Luft dort oben doch deutlich geringer, in den Hochlagen etwa 30 bis 40 Prozent. Mit etwas Akklimatisation und einigermaßen körperlicher Fitness ist das dann aber zu machen.

Dass es nicht ungefährlich ist, mussten wir dort gleich vor Ort erfahren. Zunächst hatten wir für unseren ersten Viertausender den Alphubel ins Visier genommen. Doch sollten die Verhältnisse zu diesem Zeitpunkt an seinen Flanken schwierig sein, und gerade in diesen Tagen waren daran mehrere Bergsteiger ums Leben gekommen. Das schreckte uns ab, so dass wir uns für einen anderen Gipfel entschieden. Aber der Nachbarberg, das 4027 Meter hohe Allalinhorn, bot mit seiner geschwungenen Kuppe vor einem strahlend blauen Himmel auch einen schönen Anblick. Es sollte von Saas Fee aus ein vermeintlich leichter Viertausender sein. Und so war es dann auch. Die Tour glich eher einer etwas schwierigeren Wanderung, auch wenn es im letzten Höhendrittel über Firn und Eis ging. Einige kleine Spalten mussten überstiegen werden, und mit einem Spaltensturz muss natürlich immer gerechnet werden. Doch solche machen nur einen geringen Teil aller Bergunfälle aus. Und so standen wir schließlich nach zweitägigem Aufstieg über Fels und gemäßigt steile Firnhänge (maximal 40 Grad) auf dem Gipfel, mit fantastischen 360-Grad-Rundblick auf Täschhorn, Dom, Matterhorn und andere bekannte Berge.

Der nächste Berg sollte dann schon schwieriger werden. Er liegt auf der entgegengesetzten Talseite über Saas Grund. Als wir am Abend eines wolkenfreien Tages in 3100 Meter Höhe bei Hohsaas auf die Flanke des Weißmies schauten, flößte uns die Aufstiegsroute über den Triftgletscher schon ziemlichen Respekt ein. Sie zieht sich durch einen, entgegengesetzt zum Allalinhorn, deutlich steileren Eisbruch. Wir waren gespannt und auch etwas nervös.
Wie so oft starteten wir in der Nacht vor anderen Gipfelaspiranten. Das hat den Vorteil, dass man vollkommen allein ist. Man hat tatsächlich noch ein Gefühl von Freiheit, Abenteuer und Einsamkeit in der Weite einer grandiosen Natur, fernab dem Treiben einer hektischen Welt. Das gibt einfach ein gutes Gefühl, und das ist es, was wir immer wieder suchen.
Als es hell wurde, mussten wir feststellen, dass sich über Nacht einige Wolken gebildet hatten. Und eine davon hatte sich leider am Gipfel festgesetzt. So stiegen wir dann die letzten 200 Höhenmeter durch dichten Nebel, die Luft voller flirrender Eiskristalle. Sie überzogen unsere gesamte Kleidung. So kam es, dass wir von der im Bergführer angekündigten fantastischen Aussicht auf die norditalienische Tiefebene in 4023 Meter Höhe nichts sahen. Auch nicht das goldene Dach des Mailänder Doms. Wir blickten nur gegen eine graue Nebelwand. Das war allerdings das einzige Mal von vielen, vielen Bergtouren, die auf einem Gipfel im diffusen Grau enden sollte. Ansonsten hatten wir immer freie Sicht. Aber es war trotzdem eine eindrucksvolle Tour.

Der dritte von vier Viertausendern, die wir im Saas Tal machen sollten, war das Lagginhorn, der Nachbarberg der Weißmies. Unser kleines Kuppelzelt hatten wir dabei in 3000 Meter Höhe auf dem Laggingletscher aufgestellt. Zum Sonnenuntergang sahen wir von dort oben nicht nur auf das oben beschriebene grandiose Panorama der Mischabelgruppe, sondern auch auf den nicht allzu weit entfernten Monte Rosa, den zweithöchsten Alpengipfel.
Um drei Uhr starteten wir bei hellem Mondschein über den Gletscher. Anschließend über eine brüchige Felsflanke zum Westgrat hinauf, der über Fels und Firn bis zum Gipfel führt. Die Tour war zunächst nicht schwierig, wurde aber auf den letzten 300 Höhenmetern anspruchsvoller. Dass jede Bergtour gefährlich sein kann, sollte sich nur wenige Jahre nach unserer Besteigung zeigen. Fünf Deutsche stürzten beim Abstieg kurz unterhalb des Gipfels 400 Meter tief auf den Laggingletscher ab. Alle kamen ums Leben. Ob es ein Mitreißunfall war oder sich vielleicht eine Eisplatte im Untergrund gelöst hatte, konnte nicht geklärt werden.
Bei uns jedoch ging alles glatt. Bei besten Verhältnissen standen wir am frühen Morgen in 4010 Meter Höhe auf dem Gipfel. Vielmehr kauerten wir uns neben dem Gipfelkreuz hinter einige Felsen, denn es wehte ein eisiger, schneidender Wind. Doch dieses Mal war die Aussicht frei. Monte Rosa mit seiner 2000 Meter hohen Ostwand, Matterhorn, Mischabelgruppe, das Berner Oberland mit seinen Viertausendern nahe des Aletschgletschers und noch viel mehr, lagen gestochen scharf unter einem tief blauen Himmel im Blickfeld. Nur nach Süden hin verdeckte weit unter uns ein brodelndes Wolkenmeer erneut den Blick auf die norditalienische Tiefebene und den nicht weit entfernten Lago Maggiore, an dem wir uns einige Tage danach von den Anstrengungen etwas erholen sollten. Wieder war es eine großartige Tour.

Und das sollte auch unsere vierte Tour im Saas Tal werden. Sie sollte uns als Höhepunkt in diesem Gebiet auf das 4327 Meter hohe Nadelhorn über Saas Fee führen. Nur diese Tour von den Vieren will ich etwas ausführlicher beschreiben. Dazu muss ich mich aber nicht 11 Jahre bis zum Jahr 2007 zurück erinnern, als mein Sohn Markus und ich sie durchführten. Gleich nach einem Urlaub schreibe ich alle Erlebnisse mit frischer Erinnerung auf. Und so brauch ich sie nun nur meinem Tourenbuch entnehmen.

Die Besteigung des Nadelhorns

Nach einer Eingehtour am Oberen Grindelwaldgletscher, einer ersten kleineren Prüfung, fühlen wir uns fit für größere Aufgaben und für Höheres. Nun soll es ernst werden und so richtig losgehen. Dazu führt uns die Fahrstraße durch die eindrucksvolle Granitplattenlandschaft des Grimselpasses ins Rhonetal hinunter. Vorbei an den rustikalen Walliser Dörfern mit ihren dunkelgebeizten Blockhäusern, die so ursprünglich wirken wie vor Jahrhunderten, das Saas Tal hinauf nach Saas Fee. Vor zwei Jahren waren wir das erste Mal dort. Wir fühlen uns sofort heimisch. Den Wagen auf dem Dach des großen Parkhauses am Ortseingang abgestellt, ist dieser doch autofrei und schon können wir starten. Und das in der Nachmittagshitze. Puh!

Zunächst durch den stark frequentierten Ort. Überall schieben die Touristenmassen entlang. Einige Wanderer, hauptsächlich Touristen, die nicht so aussehen, als könnten sie weiter als einige wenige Kilometer laufen. Sie bevölkern die unzähligen Geschäfte und Lokalitäten. Einige Bergsteiger sind auch darunter. Diese fallen jedoch eher als Exoten auf.
Hinter der Kirche erreichen wir den Ortsausgang. Endlich geht es wieder in die Natur hinaus. Nach so viel Sitzen im Auto tut Bewegung gut. Zunächst ein Stück durch den Wald. Danach wird es schnell lichter. Immerhin liegt Saas Fee schon 1800 Meter hoch. Weit über uns erkennen wir auf wildem Felsgeklüft unser Tagesziel, die Mischabelhütte. 1330 Meter müssen wir bis dort hinauf ansteigen. Das ist nicht gerade wenig. In der Nacht soll es dann noch einmal über 1000 Meter zum Gipfel des Nadelhorns hinaufgehen. Der Abstieg dann in einem Rutsch. Etwa 20 Stunden planen wir für die ganze Tour ein.
Die ganze Mischabelkette breitet sich wie ein gigantisches Amphitheater vor uns aus. Es ist ein Anblick, der das Herz eines jeden Berginteressierten höher schlagen lässt. Ein Viertausender reiht sich an den anderen. Ganz links die vergletscherten Gipfel von Allalinhorn und Alphubel. Danach schließen sich die grauen, steilen Wände von Täschhorn, Dom und die Gipfel des Nadelgrates an. Wegen der Steilheit des Geländes kann auf ihnen kein Schnee liegenbleiben. Einzig und allein das Täschhorn weist von dieser Ostseite eine schöne Firnflanke auf, die wie ein Konkavspiegel durchgebogen ist. Ganz anders ist der Charakter dieser Gipfel von der uns abgewandten Seite von Westen, vom Mattertal her. Dort zeigen die Giganten ihre vergletscherten Flanken, und von dort sind sie auch leichter zugänglich.
In vielen Kehren windet sich der Weg durch Wiesengelände immer höher hinauf. Vereinzelt trotzen einige Lärchen den harten Umweltbedingungen. Es sind die einzigen Bäume, die so robust und kälteresistend sind, dass sie bis in Polarregionen vordringen. Wie immer bin ich fasziniert von ihren dicken Stämmen mit der rotbraunen, stark eingerissenen Rinde und ihrem oft urwüchsigen Wuchs. Stark hebt sich das Grün ihrer Nadeln gegen den kräftig blauen Himmel ab. Außerdem macht es einfach Spaß die knorrige Rinde mit den Händen zu befühlen.
Noch weiter oben umgibt uns schließlich nur noch Wiesengelände mit bunten Blumen. Aufgrund der harten Bedingungen erheben sie sich nur noch knapp über den Boden. Nichts desto trotz sind sie von besonderer Schönheit. Nur vier Monate Blütezeit im Jahr stehen ihnen zur Verfügung. Der Rest sind für sie winterliche Verhältnisse.

Auf einem Buckel in ca. 2500 Meter Höhe legen wir eine Rast ein. Der Tiefblick geht auf Saas Fee hinunter. Die Häuser wirken wie Spielzeughäuser. Die Menschen sind so klein, dass sie gerade noch als winzige Punkte auszumachen sind. In unserer Nähe grasen etliche Schafe. Als ich ihr Mäen nachahme, kommen sie zu uns herüber und gruppieren sich um uns herum. Nur streicheln lassen möchten sie sich nicht so gern.
Der Weg wird steiler, das Wiesengelände endet. Es geht in den Fels hinein. Wie eine Riesenburg baut er sich wildzerklüftet vor uns auf. Zunächst leichte Kletterei, ein Absatz zum Gehen, wieder Kletterei, eine Leiter. So geht es im Wechsel weiter. Schließlich folgt nur noch Kletterei, meistens im ersten Schwierigkeitsgrad. Ab und zu eine Gratpassage, die sehr ausgesetzt ist. Aber für uns alles leicht zu machen. Dabei ist der ganze Weg für unsere Verhältnisse überversichert: Drahtseile, Eisenklammern und Leitern. Überall dort, wo es auch nur etwas schwieriger oder ausgesetzter wird. Ein wenig erinnert es an den Steig über dem Höllental, der sich über dem Zugspitzgletscher zu deren Gipfel hinaufzieht. Dafür gewinnen wir jedoch enorm schnell an Höhe. Die Tief- und Weitblicke werden immer großartiger. Der Nadelgrat rückt näher.

Irgendwann erreichen wir über der Dreitausend-Meter-Marke eine Höhe. Das Felsgeklüft neigt sich zurück und geht in einen aufsteigenden, ausgetretenen Weg über. Das letzte Stück fällt uns dann doch etwas schwerer. Nach einigen kurzen Stopps zur Pulsberuhigung und zum Durchatmen reagieren die Muskeln doch jedes Mal etwas sauer. Aber alles kein Problem. Nach einigen Schritten geht es dann wieder.
Gegen acht Uhr erreichen wir nach etwa dreieinhalbstündigem Aufstieg die Mischabelhütte. Wir haben es geschafft. Sogleich zwei Matratzenlager in der Nebenhütte bestellt und bezugsfertig gemacht. Danach wieder auf die Plattform hinaus, wo wir unser Abendessen bei grandiosem Ausblick einnehmen. Dabei sind es nicht die Wände des Nadelgrates, die sich scheinbar direkt vor uns aufbauen, die eindrucksvoll wirken. Zu nah sind wir ihnen auf die Pelle gerückt. Die Berge wirken aus größerer Distanz schöner. Es ist eher der Blick auf Alphubel und Allalinhorn und die entgegengesetzte Talseite mit dem Fletschhorn, dem Lagginhorn und der Weißmies.
Als wir auf die andere Hüttenseite gehen, sinkt unsere Laune allerdings etwas Richtung Keller. Ein breiter, zerklüfteter Felsrücken schiebt sich den Hang hinauf. Scheinbar unendlich weit oben sehen wir eine Wetterstation, die auf unserem morgigem Weg liegen wird. Hat dieser Grat denn gar kein Ende? Leicht entkräftet und etwas ausgelaugt bietet er alles andere als einen schönen Anblick. Aber wir haben ja noch sechs Stunden zum Regenerieren. Bis dahin werden wir neue Kraft gesammelt haben. Die wird dann hoffentlich ausreichen. Um neun Uhr liegen wir auf unserem Matratzenlager und versuchen zu schlafen.

Der Aufstieg zum Gipfel

Für drei Uhr ist Wecken angesagt. Doch wir sind schon eine Weile früher auf den Beinen, sind doch die ersten schon gegen zwei Uhr aufgestanden. Bis um Mitternacht habe ich tatsächlich tief und fest geschlafen, was bei mir auf Berghütten selten vorkommt. Markus schläft generell und überall gut. Danach habe ich mich im Halbschlaf und lange wach liegend von einer Seite auf die andere gewälzt. Die ungewohnte Umgebung, die ungewohnten Geräusche. Der eine schnarcht, der andere muss aufs Klo. Die einen legen sich später hin, die anderen stehen früher auf. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen. Und dann ist auch noch die Luft zum Durchschneiden.
Nach einem Müsliriegel-Frühstück sind wir noch vor drei Uhr unterwegs. Kein Mond am Himmel, dafür ein glitzerndes Firmament. Die Temperaturen sind gemäßigt. Sicher einige Grade über null. Beim Steigen und einfachen Klettern sind wir dann sowieso schnell auf Betriebstemperatur. Der felsige Gratrücken strebt als schmales Band zwischen Firnfeldern empor, die wir wegen der Dunkelheit allerdings kaum wahrnehmen. Auch wenn uns die gestrige und vorgestrige Tour noch etwas in den Knochen stecken, so geht es doch wieder Erwarten ganz gut. Weit, weit vor und über uns tanzen einige wenige Lichter von Kopflampen. Andere folgen uns nach einer Weile. Sonst gehen wir zunächst allein.
Als wir das Ende des langen Felsrückens erreichen, beginnt es langsam hell zu werden. Vor uns sitzen einige Bergsteiger in der Hocke und legen die Steigeisen an. Wir machen es ihnen nach. Als Markus und ich über ein weites Firnfeld starten, sind wir wieder unter uns. Einige gehen weit voraus, andere folgen in größerem Abstand. Es hat doch mehr Reiz, das Gefühl von Einsamkeit in dieser weiten Landschaft zu haben. Andererseits hat man auch ein sichereres Gefühl, wenn man weiß, dass andere Bergsteiger in der Nähe sind, die im Notfall helfen könnten.
Zunächst geht es durch eine flache, weite Mulde, die dann stetig steiler werdend zum Windjoch hin ansteigt. Ich gehe voraus, Markus folgt mir in etwa 20 Meter Abstand. Das Seil verbindet uns. Gletscherspalten sehen wir allerdings nur sehr wenige in weiterer Entfernung. Ein einziges Mal müssen wir eine sichtbare, aber schmale Spalte überspringen. Zur Linken sehen wir auf die eindrucksvolle konkave Wand der Lenzspitze. Eine Seilschaft hat sich in die extrem steile und etwa 800 Meter hohe Flanke hinein gewagt. Sie nehmen die Direttissima. Anhand ihrer Kopflampen können wir sie immer wieder ausmachen, bis sie sich später bei zunehmender Helligkeit unseren Blicken entziehen. Beneidenswert, wenn man das Können und die Erfahrung für eine solche Tour hat. Bei diesen idealen Wetterbedingungen muss dieser anspruchsvolle Aufstieg eine wahre Freude sein.
Doch das ist es auch für uns. Kurz unter dem Windjoch noch eine Rast und eine Stärkung mit Müsliriegeln und Brötchen. Dann geht es die letzte Steigung in die leichte Senke hinauf. Wir erreichen den Grat. Ein kühlerer Wind fegt uns entgegen, der uns zumindest einen Teil der Strecke bis zum Gipfel begleiten soll. Doch ist er gut auszuhalten.
Eineinhalb Kilometer Gratwanderung bei einer durchschnittlichen Steigung von etwa 30 Grad liegen nun vor uns. Mal gehen wir etwas unter dem Gratrücken, mal fast oder sogar direkt auf ihm entlang. Dabei ist die in den Schnee ausgetretene Pfadspur nicht viel breiter als zwei Stiefel, die man nebeneinander setzt. Fast die ganze Strecke ist stark ausgesetzt. Zur Rechten geht es mehrere hundert Meter steil hinunter. Einen Ausrutscher darf man sich nicht erlauben. In Gedanken spiele ich einen solchen immer mal wieder durch, wie ich in einem solchen Fall versuchen müsste mich in Bauchlage zu drehen, um dann mit dem Pickel die bestmögliche Bremswirkung zu erzielen.
Als wir eine Passage genau auf einem schmalen Gratstück steigen und es zu beiden Seiten in die Tiefe geht, verabreden Markus und ich, bei einem möglichen Sturz am kurzen Seil – Markus trägt einige Schlingen in der Hand, die ihm etwas Zeit zum Reagieren verschaffen würden – über die entgegengesetzte Seite des Grates hinunter zu springen. Doch es ist alles kein Problem, auch wenn ich manchmal kaum in die Tiefe sehen mag. Konzentriert schauen wir auf den Weg.
Längst haben wir inzwischen die 4000-Meter-Marke überschritten. Ab und zu ein kurzer Fotostopp oder eine kleine Pause zum Luftholen. Die ist nämlich in dieser Höhe schon ziemlich dünn. Nie zuvor waren wir an einem Berg so hoch. Doch es läuft gut. Auch die Sonne steigt nun hinter dem Lagginhorn empor und taucht die Landschaft in ein warmes, rötliches Licht. Das sind die schönsten Momente eines Aufstieges.
Nach dreieinhalb Stunden erreichen wir gegen halb Acht den steilen Gipfelfels. Er ist nicht ganz einfach zu nehmen, und mir ist schon ein wenig mulmig dabei, besonders, wenn ich an den Rückweg denke. An senkrecht im Schnee steckenden Felsplatten geht es hinauf. Schließlich noch über Blöcke, dann stehen wir fast auf dem höchsten Punkt. Der Gipfel mit dem Kreuz ist so klein, dass sich dort nur zwei, drei Bergsteiger aufhalten können. Nachdem er frei ist, steigen wir hinauf und lassen uns dabei von einer nachkommenden Seilschaft fotografieren. Das ist natürlich ein Muss. 4327 Meter befinden wir uns über dem Meeresspiegel. Etwa 300 Meter höher als bei unseren ersten beiden Viertausendern vor zwei Jahren.
Nachdem wir den Gipfel für Andere frei gemacht haben, blicken wir erst einmal ausgiebig in die Ferne. Im leichten Dunst sehen wir in südwestlicher Richtung in 30 Kilometer Entfernung das Matterhorn. Es präsentiert sich von seiner berühmtesten Ansicht. Links daneben die Monte Rosa Gruppe mit ihren vielen Gipfeln. Sie ist mit dem benachbarten Lyskamm ein gewaltiges Massiv, nur 200 Meter niedriger als der Montblanc. Ganz nah erhebt sich die eindrucksvolle, vergletscherte Nordflanke des Doms, der uns nur noch um 150 Meter überragt. Wird unsere nächste Tour wie geplant auf seinen Gipfel führen? (Wir sollten dann allerdings nach einem Besuch von Zermatt mit fantastischen Blick aufs Matterhorn darauf verzichten und zum Montblanc weiter fahren, an dem wir uns versuchen wollten.)
Lange halten wir es im Gipfelbereich nicht aus. Den Abstieg über das steile obere Gipfelgelände wollen wir zunächst hinter uns bringen, bevor wir es geruhsamer angehen lassen. An der steilsten Stelle sichern wir uns mit dem Seil. Doch alles geht einfacher als gedacht. Wieder auf dem Grat steigen wir jedoch sogleich weiter ab. Diesmal geht der Blick in die Tiefe und nicht auf den ansteigenden Grat, was psychologisch wesentlich einfacher ist. Doch haben wir in dieser Beziehung inzwischen einige Bergerfahrung gesammelt, besonders im vergangenen Jahr am schwierigen Ortler. Dadurch werden wir immer sicherer und auch die ausgesetztesten Passagen stellen kein Problem mehr da. Sicheren Schrittes und immer konzentriert überwinden wir auch sie.
Als wir das Windjoch erreichen, sind wir aber trotzdem froh, haben wir doch nun das gefährlichste Gelände hinter uns gebracht. Erst jetzt können wir uns über die gelungene Besteigung unseres bisher höchsten Gipfels so richtig freuen.
Der Rest des Weges ist dann zwar einfach, wird jedoch so richtig anstrengend. Die Sonne ist inzwischen so hoch gestiegen, dass sie den Firn aufweicht. Wir steigen durch eine sulzige Schicht hinab und brechen immer mal wieder tiefer ein. Das kostet viel Kraft. Zunächst noch steileres Gelände, dann geht es durch die weite Senke des Firnfeldes, das kein Ende nehmen will. Wie in Trance torkeln wir mehr als dass wir vernünftig gehen vor uns hin. Wir sind dabei so müde, dass wir im Gehen einschlafen könnten. Doch schließlich erreichen wir den Felsrücken und haben wieder festen Boden unter den Füßen. Aufatmen. Endlich die Steigeisen runter, den Eispickel am Rucksack verstaut. Auf den warmen Felsen ein Picknick. Danach fühlen wir uns wieder gestärkt und gut. Die Mischabelhütte erreichen wir relativ schnell. Wir halten uns jedoch nicht lange auf und steigen kurz darauf weiter ab. Die Kletterei durch das Felsgetrümmer zieht sich ziemlich in die Länge. Dabei kommen uns immer wieder Bergsteiger und auch eher Wanderer entgegen, deren Ziel die Hütte sein wird. Für sie ist dieses Gelände schon spannend und eine Herausforderung.
Wieder können wir durchatmen als wir das nächste Etappenziel erreichen, den Wanderweg unter den Felsen. Nun sind es nur noch 600 Meter bis Saas Fee hinunter. In sengender Mittagssonne schaffen wir auch das noch. Nach über 2300 Meter tiefem Abstieg bedürfen unsere qualmenden Füße erstmal eine Kühlung in einem kleinen Bach. Das tut enorm gut. Bald darauf erreichen wir durch das rege Treiben Saas Fees das Parkhaus. Wir machen drei Kreuze.
Nachdem wir jeder einen Liter Wasser in uns hinein geschüttet haben geht es uns wieder besser. Die Bäche unterwegs waren diesmal zu trübe, um daraus trinken zu können. Noch einmal geht der Blick hinauf zur weit oben liegenden Mischabelhütte und den darüber befindlichen Gipfelgrat. Jetzt staunen wir noch mehr über die Länge des Weges und fragen uns, wie man sich so etwas nur antun kann. Es ist kaum vorstellbar, dass wir noch vor fünf Stunden dort weit oben unter dem Himmelsgewölbe gestanden haben. Aber es war eine großartige Tour. Wir werden sie nicht vergessen.

Bürgerreporter:in:

Kurt Wolter aus Hannover-Bemerode-Kirchrode-Wülferode

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