Geschichten aus Ladakh: Tapferer Eseljunge

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Sintflutartiger Regen weckte mich gegen Mitternacht auf, ich schloss die Fenster. Das Schuetten hielt mehrere Stunden an, der Schlaf holte mich zurueck in die Traume. Erst am Morgen beim Fruehstueck erfuhren wir die schreckliche Nachricht wie einen Hammerschlag: Wolkenbrueche, Schlammlawinen und Sturzfluten hatten das schlimmste Unglueck verursacht, das Ladakh jemals heimgesucht hatte. Ueber 1000 Haueser zerstoert, Menschen getoetet oder vermisst, Strassen weg geschwaschen, Bruecken verschwunden, Strom, Telefon- und Internetleitungen funktionierten nicht mehr, Flughafen, Geschaefte und Restaurants geschlossen – ueber der Stadt hing eine toedliche Stille.

Ein Freund begleitete mich, als wir langsam die Changspa Road zum Main Market, der Stadmitte, wanderten. Keine Fahrzeuge, nur leise Fuesse, die auf der linken Seite der Strasse in Richtung “New Busstand”, den neuen Busbahnhof, trabten. Wir gehoerten zu dieser Gruppe. Auf der anderen Seite der Strasse kamen in einem bestaendigen Strom entsetzte Menschen zurueck, still, schockiert, abwesend.

Da ich keinerlei Vorstellung hatte von dem, was uns in Kuerze erwarten wuerde, traf mich der Anblick der Zerstoerung um so haerter, erschuetterte mich zutiefst. Wo vorher Haueser waren, nur noch Schutt, Schlamm, Felsen, zerfetztes Holz, Unrat, zerquetschte Fahrzeuge, auf dem Kopf liegende Busse: der neue Busstand, Garagenlaeden, Geschaefte, einfach verschwunden.
Drei kleinere Schaufelbagger gruben sich in die Schuttberge, Menschen schaufelten sich in den Ruinen zu den Verschuetteten vor, eine Kette von freiwilligen Helfern gaben Felsen, Schlamm in Schuesseln, Schutt weiter, alles wurde auf die nicht mehr erkennbare Strasse geworfen. Sie Kaempften sich vorwaerts, es konnten nur noch Leichen geborgen werden.

Ich fuehlte eine Pelzigkeit meinen Ruecken hoch kriechen, die mich wie ein schwerer Mantel umschloss, meine Schultern beugte und mein Gehirn zu einem mechanischen Roboter machte. Wir kletterten ueber die Truemmer und suchten unseren Weg zum Zimmer einer unserer Angestellten, Thugjay, um herauszufinden, ob sie und ihre Familie verschont geblieben waren.
Waehrend wir ueber Felsen und Truemmer stolperten, erkannten wir unsere vier deutschen Freiwilligen, die uns entgegenkamen. Sie winkten und waren froh, uns zu sehen. Sie hatten Thugjay bereits besucht und alles war in Ordnung. Als wir mitten auf der Strasse auf Tonnen von festem Schlamm standen und erzaehlten, kam Lama Padma (ein alter Bekannter aus unseren Anfangsjahren, er war auch schon in Guenzburg gewesen) aus einem der Haeuser, die nur geringfuegig betroffen waren, und lud uns zu einer Tasse starkem Scharztee ein, eine willkommene Staerkung. Im Erdgeschoss wurde geschaufelt und trocken gelegt, wir stiegen die schmutzigen Treppen nach oben. Die Leute hatten die ganze Nacht gearbeitet und waren muede, aber entschlossen, eine Art Normalzustand wieder herzustellen. Wir schauten seinem Bruder zu, der sich seine Tsampa-Mahlzeit zubereitete (Gerstenmehl wird so lange in Buttertee eingearbeitet, bis es einen festen Kloss gibt, der gegessen wird) und verabschiedeten uns endlich mit vielen “Jullays”.

Als wir aus dem Haus traten, sah ich ihn. Klein und unscheinbar, von oben bis unten mit Schlamm verschmiert, hoppelte der Eseljunge langsam die Strasse hoch, ziellos. Seine Mutter war verschwunden, auch er war von der Schlammwalze mitgerissen worden. Sein linkes Vorderbein war gebrochen, ein wuester Schnitt ueber seinem linken Auge, in dem Schlamm steckte, und Loecher in seinen Ohren - alles zeugte von seinem Drama. Die Pelzigkeit in meinem Herzen wich einer Flut von Mitgefuehl und als er anhielt, eilte ich an seine Seite, umarmte seinen schmutzigen Nacken, steichelte seine verklebte Nase. Er wehrte sich nicht, sondern lehnte seinen Kopf an meinen Arm, hilflos und unter Schock.

“We need to do something for him, can anybody help?” (Wir muessen was fuer ihn tun, kann jemand helfen?) rief ich in die Runde.

Je lauter ich rief, desto mehr Leute Leute sammelten sich um uns herum. In Ladakh werden Tiere nicht so gut behandelt, aber in diesem Moment schien es, als ob sie in dem kleinen Esel ein Ventil fuer ihre Gefuehle fanden, sie kamen mir zur Seite, brachten Flaschen voller Wasser, mit dem sie sein Gesicht und die Wunde wuschen und dabei versuchten, ihm zu trinken zu geben.
Ich fragte , ob irgendjemad ein Fahrzeug hatte, mit dem wir den Esel in das “Donkey Sanctuary” bringen konnten. Ich hatte diesen Ort im letzten Jahr besucht, dort werden kranke und alte Esel gesammelt und versorgt; ein Zufluchtsort fuer diese vernachlaessigten Tiere, von Spenden finanziert. Ich brachte ihnen damals viele Karotten mit, sie scharten sich gierig um mich, bedraengten mich. Ich hielt das solange aus, bis mich ein Esel in den Arm zwickte, weil ich nichts mehr hatte. Danach scheuchte ich sie weg und zog mich zurueck, ueber meine eigene Dummheit amuesiert. An diesen Zufluchtsort erinnerte ich mich nun.

Die einzigen Fahrzeuge, die den mittlerweile sehr staubigen Weg hoch fuhren, transportieren die ausgegrabenen Leichen ab. Trotzdem war es einem Beistehenden moeglich, einen dieser Jeepfahrer davon zu ueberzeugen, uns mit dem Esel wegzubringen. Wir legten das Tier auf eine Decke und trugen es zum Fahrzeug, stiegen auf die Ladeflaeche und knatterten los. Aber anstatt uns zum “Donkey Sanctuary” zu bringen, lud er uns kurzerhand in der Tierklinik ab. Ich wusste gar nicht, dass so eine Institution existierte. Aber leider war die winzige Klinik geschlossen, kein Arzt weit und breit, was sollten wir nun tun?

Einer unserer Begleiter schlug eine Scheibe ein, oeffnete das Fenster, kroch hinein und suchte nach notwendigen Medikamenten. Der Kashmiri Jafed, der dabei war, beruhigte mich und sagte, so ein Stueck Fensterscheibe kostet nur 20 Rupien, dafuer wuerde er aufkommen. Mit Desinfektionsloesung reinigten sie die Wunden des Esels und gaben ihm Injektionen gegen Schmerz und zusaetzlich Antibiotika. Ich hielt die ganze Zeit den Hals und Kopf des Tieres im Arm. Waehrend die jungen Maenner am Esel arbeiteten, gesellte sich ein kleiner Junge dazu, der Karotten brachte. Der Esel roch das Gemuese und sofort kehrten seine Lebensgeister zurueck. Leider fanden unsere Helfer heraus, dass sein Bein an der Innenschulter gebrochen war, die Knochenteile schauten heraus..., eine hoffnungslose Sache. Da gingen sie alle, nur mein Bekannter und Jafed blieben zurueck.

Was sollten wir nun machen?
Mit der Decke unter seinem Bauch banden wir ihn an einem Gestell fest, das sich in einem offenen Raum im Hof der Klinik befand. So konnte er auf seinen drei gesunden Beinen stehen und hatte Unterstuetzung durch die Decke. Nach den vielen Karotten und der Schmerzspritze schlief er zufrieden ein. Wir sprachen uns ab, in drei Stunden wuerden wir wieder kommen und nach ihm schauen, ihn fuettern.

Wind wirbelte graesslichen Staub auf, als wir, bepackt mit einer Tuete frischem Gras aus dem Hotelgarten und mehreren Kilos Karotten wieder in Richtung Tierklinik eilten. Als ich im noch frischen Schlamm des Vorgartens Hundespuren erkannte, erschrak ich, an diese Gefahr hatte ich nicht gedacht. Wilde Hunde laufen in Rudel in Leh herum , staendig auf der Suche nach Fressen. Der Esel war hilflos und blutete, eine passende Mahlzeit fuer das wartende Rudel.
Wir freuten uns, als wir unser Eselkind auf dem Boden des Raumes fanden, wohlbehalten. Er musste sich wohl aus Furcht vor den eindringenden Hunden aus den Decken gestrampelt und sich ordentlich gewehrt haben, denn sogar das Fenster war zertruemmert. Nun war der Kleine im Eselschlaraffenland, er frass und frass, wusste nicht, wovon er zuerst knabbern sollte, hatte Gras und Karotten im Maul. Er wieherte lustig, und als sich wieder ein Hund herein schlich, wollte er sich in einer Ecke des Raumes verdruecken, er hatte seinen Feind lange vor uns gespuert. Wir jagten die Hunde weg und ueberprueften das Gelaende. Es gab keine Moeglichkeit, den Raum zu sichern, die Hunde wuerden in der Nacht kommen.

Wir konnten den Esel nicht da lassen. Wieder ein Problem, was nun?
Mein Begleiter entdeckte auf der anderen Strassenseite einen Mann, der seine Kleidung wusch. Wir baten ihn, uns ins “Donkey Sancturay” zu fahren. Zehn Minuten spaeter tuckerten wir erneut ueber die zerstoerten Strassen, umgingen eingerissene Bruecken auf Umwegen, fanden endlich das weit entfernte Eselzentrum im Norden Lehs. Ich streichelte die ganze Zeit die Nase des kleinen Tieres, das heftig atmend im Kofferraum des Jeeps lag.

Als wir endlich das “Donkey Sanctuary”fanden, standen wir vor einem neuen Problem: Die Esel waren alle frei gelassen worden, weil das ganze Gelaende vollig ueberflutet worden war. Das ist das Ende, dachte ich. Wir luden den Esel aus, stellten ihn ins Gras, ein letztes Bild von ihm mit unserem Fahrer, dann verliessen wir ihn in der Hoffnung, dass die Hunde ihn nicht finden wuerden. Traurig und enttaeuscht fuhren wir heim.

Wir erfuhren erst spaeter, was danach geschah. Das Ehepaar, das fuer die Versorgung der Esel im Zentrum verantwortlich gewesen war, kehrte spaeter am Abend zurueck und fand den tapferen Kleinen. Sie trugen ihn in einen sicheren Raum und versorgten ihn vier Tage lang. Dort starb er friedlich an seinen Verletzungen, ein weiteres Opfer der schlimmsten Katastrophe, die Ladakh heimgesucht hatte. Der kleine Esel lebt in meinem Herzen weiter, und in den Bildern, die wir von ihm gemacht hatten.

Bürgerreporter:in:

Karola Wood aus Günzburg

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