Die Angst, frei zu sein

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Elisabeth Keller im Gespräch mit dem Autor und Lebensberater Hans Georg van Herste

EK Obwohl wir inzwischen im 21. Jahrhundert leben, kann von Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau noch immer keine Rede sein.

vH Ich werde manchmal das Gefühl nicht los, dass wir uns sogar rückwärts bewegen.

EK Wie kommen Sie darauf?

vH Ich kann mich noch gut an meine Schulzeit erinnern. Die Mädchen in unserer Klasse wollten damals die Welt aus den Angeln heben. Anfang der 1970er Jahre war klar, dass die Gleichberechtigung unbedingt her muss. Niemand wollte so spießig werden, wie unsere Eltern.
Wir halten alle fünf Jahre ein Klassentreffen ab und ich musste feststellen, dass von den guten Vorsätzen nicht viel übrig geblieben ist. Im Laufe der Jahre entwickelten sich fast alle in die Richtung, die sie zuvor vehement abgelehnt hatten.

EK Wie äußerte sich das?

vH Spätestens mit Anfang zwanzig hatten alle Mädchen einen mehr oder weniger gut situierten Freund oder Ehemann, auch die Lesben. Die meisten waren im Dorf geblieben und hatten einen typischen Frauenberuf erlernt. Obwohl einige hätten Abitur machen und studieren können, wurden sie Altenpflegerin oder Bürokauffrau. Etliche bekamen Kinder und mutierten vom kämpferischen Mädchen zur biederen Ehefrau, die man von der eigenen Mutter kaum noch unterscheiden konnte.
Früher lasen wir BRAVO und machten uns über die Frauen lustig, die Klatschzeitungen lasen. Heute lesen die ehemaligen Freiheitskämpferinnen genau diese Zeitschriften. Es ist ein Jammer.

EK Tun Sie etwas dagegen?

vH Ich habe mehrfach darüber gesprochen, wurde aber stets abgewürgt. Die meisten Mädchen aus unserer Klasse schämen sich insgeheim, nur geträumt, aber nicht wirklich etwas unternommen zu haben, und möchten lieber nicht daran erinnert werden. Sie erklären mir durch die Bank, sie seien glücklich mit ihrem jetzigen Leben, obwohl das Gegenteil aus ihren abgehärmten Gesichtern spricht. Wenn ich dann ins Feld führe, dass auch ich aus widrigen Verhältnissen nach oben gekommen bin, heißt es stets, ich sei schließlich ein Mann.

EK Was hat das mit dem Mann sein zu tun?

vH Das ist eine Ausrede, um ihre Feigheit und Bequemlichkeit zu kaschieren. Auf der anderen Seite sind sie mehr oder weniger offen neidisch auf mich – und natürlich auf die Frauen, die sich verwirklicht haben.
Vor einigen Jahren habe ich ein paar Frauen darauf hingewiesen, dass es möglich ist, im erlernten Beruf mehr zu verdienen, wenn man es richtig anpackt.

EK Wie soll das gehen?

vH Zum Ersten habe ich sie dazu aufgefordert, einen reellen Lohn für ihre Arbeit zu fordern. Die meisten haben abgelehnt. Sie hatten Angst, vom Chef ausgeschimpft oder gar gefeuert zu werden. Ein paar wenige haben es gewagt. Und siehe da, eine Gehaltserhöhung war immer drin. Einige haben nach einem Stellenwechsel sogar gut 50% mehr verdient.
Obendrein habe ich etlichen Frauen geraten, ihr Wissen für sich einzusetzen und sich selbstständig zu machen. Heute verdienen diese Frauen z. B. als Krankenschwestern oder Altenpflegerinnen ein Vielfaches von dem, was sie zuvor erhalten haben.

EK Und das funktioniert?

vH Sehr gut sogar. Eine selbstständige Krankenschwester muss natürlich flexibel sein. Es kann vorkommen, dass sie zwei Wochen in Kiel und dann wieder drei Wochen am Bodensee arbeiten muss.

EK Das heißt, sie arbeitet als freiberufliche Springerin?

vH Ja. Es gibt eine ganze Reihe von Altenheimen und Krankenhäusern die unter dem selbst erzeugten Personalmangel leiden. Fällt dort dann eine Krankenschwester wegen Krankheit oder Schwangerschaft aus, muss auf Freiberuflerinnen zurückgegriffen werden, um den Laden am Laufen halten zu können. Die Honorare liegen aufgrund des Risikos und der Flexibilität natürlich weit über der Norm. Auf diese Weise kann sich eine freiberufliche Krankenschwester, gesetzt den Fall, sie ist gut in ihrem Job und hat keine Angst vor langen Schichten, schnell sanieren.

EK Und das geht so einfach?

vH Natürlich braucht es erst einmal eine kleine Portion Mut. Das sichere Einkommen fällt weg. Angst vor Neuem ist ebenfalls unangebracht, da man dauernd mit fremden Mitarbeitern zu tun hat. Man muss sich selbst kranken- und rentenversichern und natürlich selbst Steuern zahlen, also Aufgaben erledigen, die zuvor der Arbeitgeber übernommen hat. Aber es gibt ja Steuer- und Rentenberater, die einem auf den Weg helfen und viele Dinge für einen erledigen können.

EK Können Sie Beispiele nennen?

vH Meine Frau war früher ein eher ängstlicher Typ. Stück für Stück habe ich ihr das eine oder andere übertragen. Anfangs noch recht zögerlich, hat sie sich in die Materie eingearbeitet und schmeißt heute den Laden besser, als ich es je könnte. Ihr Selbstbewusstsein ist um Klassen gestiegen. Auf der anderen Seite ist sie viel gelassener geworden. Sie selbst sagt, dass sie es nie wieder anders haben will. Früher musste sie nach der Pfeife ihrer Chefinnen tanzen. Heute kann sie selbst bestimmen, was sie tut oder lässt.
Auch die Entwicklungen von Margaretha & Michaela Main können herangezogen werden. Auch sie gehörten eher zu den ängstlichen Frauen, die sich nicht viel zutrauten, vom Chef geliebt und gelobt werden wollten und für eine winzige Anerkennung unbezahlte Überstunden geleistet haben. Aber sie hatten den Mut, diesen Zustand zu ändern. Natürlich musste ich viele Gespräche mit ihnen führen, um ihnen klarzumachen, dass sie damit aufhören sollen, ihr Licht unter den Scheffel zu stellen, aber im Endeffekt haben sie es durchgezogen und würden nie wieder tauschen wollen.
Maria Wolff, damals noch Andreas, suchte mich vor vielen Jahren auf und erklärte, sie sei todunglücklich und käme im Leben nicht voran. Seit sie sich dazu entschlossen hat, als das zu leben, was sie eigentlich schon immer war, nämlich eine Frau, ist sie der glücklichste Mensch der Welt. Auch ihre Frau Meike, früher mit einem Mann verheiratet, ist um Klassen glücklicher, da sie nun offen ihre Homosexualität ausleben kann, die sie Jahrzehnte unterdrückte, um nicht ausgestoßen zu werden.

EK Worauf führen sie es zurück, dass nur sehr wenige Frauen diesen Weg gehen?

vH Viele Mädchen werden, im Gegensatz zu Jungen, immer noch dazu erzogen, lieb und nett zu sein, Konflikten aus dem Weg zu gehen, ausgleichend einzuwirken. Obendrein wird in den allermeisten Familien nach wie vor das klassische Bild vermittelt. Papa verdient das Geld, ist handwerklich geschickt und hat das Sagen. Mama ist die Schwache, die spurt, die, in den Augen der Gesellschaft, minderwertige Arbeiten übernimmt, also kocht, wäscht, bügelt und die Kinder erzieht. Auch in Kindergarten und Schule wird dieses Bild vermittelt. Oder haben Sie schon mal ein Schulbuch gesehen, in dem eine Frau das Auto repariert, der Vater bügelt oder gar zwei Frauen zusammenleben und eine Familie gründen?

EK Und dieses Klischeeleben haben Sie aufgebrochen?

vH Leider viel zu selten. Selbst wenn ich konkrete Angebote mache, wird schnell abgewiegelt. Unter dem Motto, in Hessen kenne ich ja gar keinen Menschen oder meine Kinder sind noch klein und brauchen ihre Mutter, werden Ausreden gesucht. Wenn man genauer nachfragt, stellt sich heraus, dass die armen, kleinen Kinderlein schon neunzehn oder zwanzig Jahre alt sind.
Mutter will geliebt werden. Dafür muss sie funktionieren, muss den Kindern, die längst erwachsen sind, das Essen kochen und die Wäsche waschen. Und der Ehemann könnte es natürlich schlecht ertragen, wenn seine liebende Frau, die ihm die Pantoffeln holt, plötzlich außer Haus ist und mehr verdient, als er selbst. Und obendrein lauern natürlich überall reiche, gut aussehende Männer, die nichts weiter im Kopf haben, als ihnen ihr Eigentum wegzunehmen, nämlich ihre Frau.

EK Übertreiben Sie da nicht ein wenig?

vH Leider nicht. Ich habe schon Trennungen erlebt, weil die Frau plötzlich anfing, selbstständig zu werden, eigene Wünsche nicht nur zu äußern, sondern wahrzumachen.
Margaretha & Michaela Main können sich heute ein neues Motorrad und ein großes Auto leisten. Sie haben eingesehen, dass es viel schöner ist, wenn man sein Leben in die eigenen Hände nimmt und die Klischees hinter sich lässt. Ich weiß noch genau, wie oft ich die beiden darauf hingewiesen habe, dass Neid und Jammern nichts nützen, dass sie durchstarten müssen, um unabhängig und glücklich zu werden. Es hat gedauert, aber sie haben es getan. Und fragen Sie mal die beiden und auch die anderen durchgestarteten Frauen, ob sie es nochmal anders haben wollen. Sie werden ein ohrenbetäubendes Kopfschütteln ernten.

EK Was halten Sie von einer Frauenquote?

vH Viel, sehr viel sogar. Es gibt nach wie vor die gläserne Decke. Frauen werden nach wie vor übergangen. Und das muss sich ändern. Wenn die Männer nicht freiwillig auf das eine oder andere Privileg verzichten, muss der Gesetzgeber ran. Anstatt eine Frau in einer Führungsposition als Bereicherung zu sehen, wird eine Bedrohung wahrgenommen. Männerdomänen kommen nicht nur ins Wanken, nein, sie stürzen sogar ein. Viele Männer wollen ihre Pfründe sichern und berufen sich auf Aussagen, wie z. B. das war schon immer so. Das muss ein Ende haben.
Viele Beispiele zeigen klar, dass Frauen es nicht nur gut können, sondern oft sogar besser. Sie planen langfristiger und setzen nicht auf den schnellen Profit, der im Endeffekt nur die Firma ins Wanken bringt. Obendrein haben es Arbeitnehmer in Betrieben, die von Frauen geführt werden, besser und werden nicht ausschließlich als Arbeitsvieh angesehen, dass je nach Gutdünken hin und her geschubst wird.
Die Buchreihe „Starke Frauen“, die ich vor einiger Zeit ins Leben gerufen habe, zeigt deutlich auf, dass Frauen glücklich werden können, wenn sie aufhören, neidisch aufeinander zu sein, wenn sie selbst die Steine aus dem Weg räumen, die man ihnen vor die Füße wirft und daraus ihre eigene Brücke ins Glück bauen.

EK Viele Dank für das Gespräch. Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg mit Ihrem Frauenaufbau.

Infos:
www.van-herste.de
www.starke-frauen.org
www.margaretha-main.de

Bürgerreporter:in:

Elisabeth Keller aus Gnarrenburg

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