Laut ist out - Gedanken der Autorin Margaretha Main

Als Mädchen klemmten wir uns ein Stück Pappe unter den rechten, waagerechten Schutzblechhalter unserer Fahrräder, um zumindest die Illusion zu haben, motorisiert zu sein. An dieser Pappe wurde ein zweckentfremdetes Strohband befestigt, das oben um den rechten Griff des Lenkers gewickelt wurde. So konnten wir durch eine „Gasgriffdrehung“ das „Motorengeräusch“ verändern. Auch einige Jungs schauten sich diese Geräuschmaschine bei uns ab.
Während wir Mädchen spätestens mit Erreichen der Pubertät davon Abschied nahmen, fuhren einige Jungs mit der Pappe noch herum, nachdem sie die Pubertät längst hinter sich gelassen hatten. Es kann natürlich auch sein, dass ein paar dieser Bengel nie eine Pubertät erlebten. Noch heute trifft man diese Spezies überall an.
Auf ähnlich hohem geistigem Niveau bewegten sich schon in meiner Kinderzeit unsere Stubenfliegen. Ich konnte ihnen immer wieder erklären, dass sie auf meinem Marmeladenbrot nichts zu suchen hätten. Sie kapierten es einfach nicht und mussten hin und wieder ihre Begriffsstutzigkeit mit dem Leben bezahlen. Selbst durch, von mir aufgestellte, Verbotsschilder ließen sich die Fliegen kein Stück beeindrucken und mir schwante, dass sie gar nicht in der Lage waren, diese Schilder zu lesen.
Im Laufe der Jahrzehnte vermehrten sich zwei andere Spezies explosionsartig. Sowohl der gemeine vierrädrige GTI-, als auch der gemeine zweirädrige Brüll-Affe sahen und sehen bis heute nicht ein, dass ihr schändliches Treiben keinen wirklichen Vorteil für die Allgemeinheit bringt, sondern eher groben Unmut innerhalb der Bevölkerung auslöst.
Obwohl schon seit Jahrtausenden allgemein bekannt ist, dass man mangelnde Intelligenz und/oder zu klein geratene männliche Genitalien nicht durch Lautstärke oder sonstiges wildes Gebaren ausgleichen kann, frönen diese, oben erwähnten, Spezies weiterhin ihrem Laster. Rücksichtslose Fahrweise und einen Lärm erzeugend, der jeden startenden Jet mühelos in den Schatten stellt, erschrecken diese Lebewesen nicht nur alte Großmütterchen, sondern auch die Allgemeinbevölkerung.
Schon während der Domestizierungsphase, also in der Zeit, als der Mensch sich mit den Tieren anfreundete, um sie zu Nutztieren zu machen, kamen einige hoch intelligente Leute auf die Idee, bei besonders wilden Exemplaren die Kronjuwelen zu entfernen. Durch das nun fehlende Testosteron mutierten auch die wildesten Gesellen zu lammfrommen Wegbegleitern. War der gemeine Bulle noch lebensgefährlich für den Frühmenschen, so zog der Ochse klaglos und mit geradezu lieblicher Gelassenheit jeden noch so schweren Karren aus dem Dreck.
Vielleicht wäre es angebracht, den oben erwähnten Tipp an die aktuellen GTI- und Brüll-Affen weiterzureichen. Man könnte natürlich auch etwas kleiner anfangen und diesen Lebewesen den Vorschlag unterbreiten, statt sich die nächste 200-PS-Schleuder, die sie eh überfordert, zu kaufen, das Geld in eine fundierte psychologische Betreuung zu investieren. Soll ja bei einigen Leuten schon geholfen haben, die Dinge aus der richtigen Perspektive zu sehen.
Außer während meiner Ausbildungsphase zur Krankenschwester habe ich viele verschiedene Zweiräder gefahren, von der NSU Quickly über die Honda CB 750, diverse Enduros und Gold Wings bis zu meiner jetzigen, altersgerechten CTX 700 mit Doppelkupplungsgetriebe. Und ich habe während dieser Jahre immer wieder begriffen, dass Fahrspaß nichts mit 200 PS oder Krawall zu tun hat.
Vor vielen Jahren haben sich meine Ehefrau Mila und ich ein Haus gekauft. Ende der 1970er Jahre verlegten wir unser Schlafzimmer nach hinten. Nun mussten wir zwar auf den grandiosen Ausblick über unseren großen Gartens verzichten, konnten aber wieder ruhig schlafen, da der zunehmende Motorrad- und GTI-Lärm nicht mehr bis zu uns durchdringen konnte. Auch auf meinen vielen Lesereisen bevorzuge ich inzwischen Hotel-Zimmer, die zum Hof raus liegen, um wenigstens ein wenig Schlaf zu finden. Obendrein ist es schade, wenn man einen schönen Garten besitzt, den man an Wochenenden und Feiertagen kaum noch nutzen kann, weil kein vernünftiges Gespräch mehr möglich ist. Ich habe mich sogar mal an die Straße gestellt und eine dämpfende Handbewegung gemacht. Das Resultat war, dass mir der Vogel oder der Stinkefinger gezeigt wurde. Manche schalteten sogar noch zwei Gänge runter, um noch ein paar Phon draufzulegen.
Ich finde es schade, dass ein paar wenige Idioten eine ganze Innung blamieren und obendrein dafür sorgen, dass immer mehr schöne Motorradstrecken gesperrt werden. Ich finde solche Maßnahmen überhaupt nicht gut, kann aber die Anwohner total verstehen – leidvolle eigene Erfahrung.
Scheinbar leben wir in einer Welt, die sich inzwischen total von der meiner Jugendzweit unterscheidet. Ich kann mich noch genau daran erinnern, dass die Alten früher z. B. auf Familienfeiern immer stolz darauf waren, bis ins hohe Alter niemals einen Arzt aufgesucht zu haben. Man freute sich, unfallfrei von A nach B gefahren zu sein. Heute werde ich als Frau gefragt, „was, Sie haben noch beide Brüste?“ Und stolz fortgesetzt, „ich habe mir gleich beide entfernen lassen. Der Krebs lauert ja überall.“
„Was, Retha, du hast dich in den Serpentinen des Harzes nicht einmal hingepackt? Na, dann kannst du auch nicht ordentlich gefahren sein.“
Liebe GTI- und Brüll-Affen!
Ich erfreue mich jeden Tag meiner Gesundheit, zeige nicht stolz meine Narben herum, finde es blöd, wenn Leute stolz behaupten, sie wären früher in Mathe nicht gut gewesen und fahre seit Jahren völlig unfallfrei durch die Gegend und jeder Meter hat mir große Freude bereitet – auch ohne Unfall. Könnt ihr nicht verstehen? Stimmt, könnt ihr nicht.

Buchtipp
Retha auf Umwegen

Bürgerreporter:in:

Elisabeth Keller aus Gnarrenburg

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