DARWIN-Jahr: Evolutionsbiologe Axel MEYER in Gießen über DARWIN und die moderne Biologie

Ringvorlesungs-Reihe COLLEGIUM GISSENUM unter dem Thema „DARWIN in den Wissenschaften".
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Auch in Gießen feiert man den 200. Geburtstag des Evolutionsforschers Charles DARWIN sowie das Erscheinungsjahr von dessen berühmtester Veröffentlichung „On the origin of species" („Über die Entstehung der Arten"). Es jährt sich zum 150. Mal. Das Zentrum für Philosophie und Grundlagen der Wissenschaften der Justus-Liebig-Universität (JLU) nimmt dies zum Anlass, seine gemeinsam mit dem Präsidenten der JLU veranstaltete Ringvorlesungs-Reihe COLLEGIUM GISSENUM unter das Thema „DARWIN in den Wissenschaften" zu stellen. Vorträge, die sich weniger an ein Fachpublikum als an die breite Öffentlichkeit richten, finden seit dem 28. April, im zweiwöchigen Rhythmus jeweils ab 18.15 Uhr im Margarete-Bieber-Saal (Ludwigstraße 34) statt. Der Eintritt ist frei. „Vor Charles DARWIN bestand die Biologie nur aus Naturkunde. Erst er hat sie revolutioniert und durch ihn wurde sie zu einer Wissenschaft", sagt Prof. Eckart VOLAND, der am Gießener Zentrum die Professur für Philosophie der Biowissenschaften innehat und für die Auswahl der Themen und Referenten verantwortlich zeichnet. „Der Mensch - Nichts als Natur? Die Humana im Spiegel der Wissenschaft" ist das Motto der Ringvorlesung. Am 26. Mai widmete sich als „Star-Gast“ der Evolutionsbiologe Prof. Axel MEYER von der Universität Konstanz DARWINs BEITRAG zur MODERNEN BIOLOGIE: Ein lockerer Spaziergang durch Fachbegriffe und Prozesse der Evolution - allgemein verständlich und anschaulich präsentiert.

Aufgrund der Betonung von DARWINs Beitrag zur EVOLUTIONSTHEORIE werde, so Prof. VOLAND, häufig vergessen, dass der Naturforscher „auch über die Biologie hinaus von Bedeutung war" und in der Kritik von Vertretern unterschiedlicher Wissenschaftsgebiete stand. „Die einen lehnten ihn ab, weil er kirchliche Lehren über Bord warf", erinnert der Philosoph an die damalige Reaktion auf seine Thesen. Andere Bereiche hingegen nutzten den durch DARWIN propagierten „Struggle for life" („Kampf ums Dasein") für soziale Belange. Die Nationalsozialisten missbrauchten die Begriffe Sozialdarwinismus und Eugenik für eigene Zwecke. Selbst Karl MARX zählte zu DARWINs Bewunderern.

In der Ringvorlesung soll der Ausstrahlung von DARWIN Ideen in die einzelnen Fachwissenschaften, aber auch in gesellschaftliche und politische Bereiche hinein nachgespürt werden. Und so widmen sich die Vortragstermine verschiedenen Wissenschaftsgebieten.

Am 12. Mai hat der früher lange in Gießen tätige und inzwischen an der Universität Braunschweig beheimatete Philosoph Prof. Dr. Gerhard VOLLMER den Evolutionsforscher DARWIN als einen der Wegbereiter der „Evolutionären Erkenntnistheorie“ vorgestellt. „Alle Fragen der großen Philosophen bekamen durch DARWIN eine naturalistische Wendung", erläutert VOLAND im Pressegespräch hierzu. Zwei Wochen später, am 26. Mai, sprach der hochrangige Experte Prof. Axel MEYER von der Universität Konstanz über Darwins Beitrag zur modernen Biologie, über dessen interessanten Vortrag ich an dieser Stelle berichte.

Das menschliche Gehirn sei die komplexeste Struktur dieser Welt, und entsprechend schwierig ist seine Erforschung, betonte VOLAND zur Einführung in die Vorlesung. Nicht selten kapitulieren Philosophen und Wissenschaftler gleichermaßen vor dieser überaus komplizierten Sachlage und hängen der Überzeugung an, dass es dem menschlichen Gehirn wohl niemals gelingen werde, sich selbst zu verstehen. „Der Mensch besteht aus KÖRPER und GEIST" lehrte René DESCARTES und hat damit eine DUALe Sichtweise formuliert, die bis in die heutige Zeit nachwirkt. Der Körper des Menschen mag naturwissenschaftlich zu erforschen sein, aber sein Geist? „Wie soll es jemals möglich sein, das, was so ganz wesentlich zum Selbstverständnis des Menschen gehört, sein Bewusstsein, seine Rationalität, seine Freiheit, seine Symbolsprache, seine Gefühle und Affekte, seine Moral, sein Glauben, seine Kunst, eben die Essenz des Menschseins in den Labors der naturwissenschaftlichen Institute zu untersuchen?“ (http://www.uni-protokolle.de/nachrichten/id/153975... )

Prof. Dr. Eckart VOLAND gegenüber der Presse: Der Mensch sei eben mehr als bloße Natur und deshalb letztlich des wissenschaftlichen Zugangs entzogen. Andererseits hat die Wissenschaft seit DESCARTES' Zeiten die Grenzen des Wissens über den Menschen und das, was man seinen Geist nennt, hinausgeschoben. Bewusstseinsprozesse werden in Bildern festgehalten, Moral wird bei Affen gefunden, man spricht mit guten Gründen von einer "Biochemie der Gefühle", und Glaubensüberzeugungen resultieren aus biologisch entstandenen Schaltkreisen des Gehirns. Diesen Fragen wolle die Ringvorlesung mit Vorträgen auf den Grund gehen.

Die öffentliche Vortragsreihe Collegium GISSENUM, in der aktuelle Fragen der Forschung behandelt werden, existiert an der Justus-Liebig-Universität Gießen bereits seit 1981. Wenn sich die Reihe auch weniger an ein Fachpublikum als an die breite Öffentlichkeit richtet, konnte man bei der Diskussion zum Vortrag Axel MEYERs im voll besetzten Margarete-Bieber-Saal sehen, dass auch Fachleute Interesse daran hatten, MEYER einmal LIFE kennen zu lernen, ihm Fragen zu stellen. Vielleicht hatten sich mehrere Besucher der Vorlesung im WEB vorab über MEYERs Arbeiten (VOLAND: „hochrangige Publikationen“) unterrichtet:

MEYER ist ja kein Unbekannter, was auch VOLAND einführend in den Vortrag des Konstanzer Forschers deutlich machte. MEYER, geboren am 4. August 1960, sei einer der renommiertesten, preisgekrönten und meist zitierten Evolutionsbiologen Europas. Der Professor am Lehrstuhl für Zoologie und Evolutionsbiologie der Universität Konstanz habe viel publiziert, z. B. im Fachmagazin „Nature“. Das Magazin „CICERO" führte den Zoologen 2007 auf der Liste der 500 wichtigsten Intellektuellen Deutschlands. Den Geheimnissen der Evolution spürt er vor allem in Fisch-Arten nach - in erster Linie anhand der BUNTBARSCHE in afrikanischen Seen. Zudem widmet er sich zunehmend der molekularen Entwicklungsbiologie. Blättert man in der Homepage des Evolutionsbiologen, kommt man auch auf die Beschreibung in „Cicero“ darüber wer „superstar evolutionary biologist“ ist; den Platz 14 nimmt MEYER ein: „(…) Then, of course, there are more examples that demonstrate the real diversity of evolutionary biology research: Axel Meyer (14th) is an expert in fish speciation (…)”.

Dass MEYER - zur Zeit Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin – populärwissenschaftlich auch in der FAZ und im Handelsblatt publiziert, zeigen auch Homepage-Links. In FAZ.Net ist zu lesen: MEYER, Axel (2008): „Evo Devo“-Forschung: Danken wir den Fischen mit fünf Fingern. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.12.2008. Einige Besucher des Vortags in Gießen hatten vielleicht auch MEYERs Audio CD „Algenraspler, Schneckenknacker, Schuppenfresser: Axel Meyer über den evolutionären Erfolg der Buntbarsche [Audiobook]“ gehört. „spektrum direkt“ empfahl am 17. Dezember 2008: „Wer beim Thema Fisch eher an Filet denkt als an komplexes Verhalten, Selektion, Anpassungsmechanismen und Darwin, der dürfte nach den 79 Minuten O-Ton Meyer seine Meinung wohl geändert haben. Denn: Axel Meyer kann gut erzählen. Er hat eine angenehme Stimme, moduliert, und eh man sich versieht, hat man anhand von kleinen, bunten Fischen einen lockeren Spaziergang durch Fachbegriffe und Prozesse der Evolution hinter sich - allgemein verständlich und anschaulich präsentiert.“
Der Konstanzer Zoologe gab in der Gießener Vorlesung ebenfalls einen allgemeinen Abriss der Evolutionstheorie seit Charles DARWIN, um sich im zweiten Haupt-Teil dann dem besonderen Fall der evolutionären Entwicklung der BUNTBARSCHE zu widmen. Buntbarsche gehören mit über 3000 Arten zu den artenreichsten Gruppen im Tierreich. Allein die Untergruppe der Pädophagen - derjenigen Buntbarsche, die sich vom Nachwuchs anderer Buntbarsche ernähren - bildet mit 1800 Arten etwa sieben Prozent aller der im Tierreich vorkommenden Arten. Pädophagen haben verschiedene Techniken entwickelt, sich des fremden Nachwuchses zu bemächtigen. Selbst sogenannte Maulbrüter - Buntbarsche, die ihre Nachkommen im Maul mit sich tragen - saugen sie aus oder bringen sie dazu, ihren Nachwuchs auszuspucken, indem sie die Weibchen von unten rammen. Axel Meyer erzählte in Gießen hiervon: „geschwind und beschwingt“ – wie im laut SZ „hervorragend gestalteten supposé-Hörbuch“. (Ebenda mit fotographischem Anschauungsmaterial „von geradezu synästhetischer Farbenvielfalt“ (SZ v. 08.12.2008)).
Einen lockeren Spaziergang durch Fachbegriffe und Prozesse der Evolution erlebten die Giessener GISSENUM-BesucherInnen: allgemein verständlich und anschaulich präsentiert berichtete MEYER über „Darwins Geheimnis der Geheimnisse“ - „Was Darwin noch nicht wusste zur Entstehung neuer Arten“. Anhand von Text-Passagen aus DARWINs Schlüssel-Werk „The Origin of Species“ befasste sich der Evolutionsbiologe damit, was DARWIN über „natürliche Selektion“ ausgesagt hat. MEYER stellte heraus, dass die Evolution in zwei große Kategorien eingeteilt werden kann: (1) „MIKROEVOLUTION“ – die Evolution von Adaptionen durch natürliche Selektion, (2) MAKROEVOLUTION“ – die Entstehung neuer Arten. MEYER projizierte zur Erläuterung hierbei auch ein Video über morphologische Veränderungen bei Hunde-Rassen, die durch „künstliche Auslese“ relativ schnell über Züchtung entstanden sind. (Gegensatz: natürliche Auslese.)

Zur Rolle der natürlichen Selektion in der Speziation sagte der Autor: „Sie könnte eine Brücke zwischen Mikro- und Makromutation schlagen, wenn sie denn zur Artbildung beiträgt.“ DARWIN über ARTBILDUNG: DARWIN bezeichnete Arten als nichts mehr als „well marked varieties“, die durch divergente Selektion hervorgebracht werden und die die besten Chancen zu überleben hatten. „Sein Focus war diversifizierende (disruptive) Selektion.“ Er glaubte, dass Artbildung auch ohne geogaphische Isolation möglich ist.

DARWIN hatte eine sehr einfache Erklärung für die ARTBILDUNG (Speziation): Eine Spezies verbreitete sich über eine großes Areal. Innerhalb dieses Gebietes gab es unterschiedliche Einflüsse der Umgebung und so wirkt auf die Individuen ein unterschiedlich großer Selektionsdruck. Dadurch entwickeln sich lokal unterschiedliche Spezies.
MEYER befasste sich im Vortrag auch damit, was der „Darwin des 20. Jahrhunderts“ – MAYR – dazu gesagt hat: Wichtig ist Ernst MAYRs Werk von 1942: SYSTEMATICS AND THE ORIGIN OF SPECIES – Kapitel 12: The Species in Evolution“. Nach MAYR sei DARWINs Buch „misnamed“, „because it is a book on evolutionary changes in general and the factors that control them (selection, and so forth), but not a treatise on the origin of species”. DARWIN unterschied zwischen “species” und “variety” aber nur als Manifestation von deren Grad der „Unterschiedllichkeit” und legte keinen Wert auf Fortpflanzungs-Barrieren. MAYR über das „Biologische Artenkonzept“ (BSC): „ Eine Art ist eine Gruppe natürlicher Populationen, die sich untereinander kreuzen können und von anderen Gruppen reproduktiv isoliert sind.“

Auch nach Jerry COYNE & Allen ORR (2004) Arbeiten über „speciation“ und „species“ ist Darwin’s magnum opus „largely silent on the ’mystery of mysterie’s’ (i.e. speziation)” und “the little it does say about this mystery is seen by most modern evolutionists as muddled or wrong”. Arten sind demnach “REAL” in einer Art und Weise „that supraspecific taxa – including ranks like genera and families – are not“. Arten stellen Fortpflanzungs-Gemeinschaften (BSC) – „sexually reproducing organisms” – dar.

Ernst MAYRs Meinung zu Arten und Artbildung seit etwa 1942 sieht nach MEYER so aus:

- Darwin verstand /erklärte Artbildung nicht, oder nicht richtig
- Arten sind „besonders“ und „real“, und unterscheiden sich qualitativ von „varieties“ (Unterarten, Morphen) oder höheren taxonomischen Einheiten (wie beispielsweise Gattung oder der Familie)
- Artbildung ist schwierig und passiert meistens nur in Allopatrie (quasi passiv, allein durch die Akkumulation von Mutationen)
- Arten sind „reproductiv isoliert“ (biologisches Artenkonzept –BSC)
- Arten entstehen als „Beiprodukt“ oft ohne natürliche Selektion

An instruktiven Bildbeispielen erläuterte MEYER z. B. sympatrische und allopatrische Artbildung. Hauptthema seines Vortrags war die Diversität der BUNTBARSCHE (Familie Cichlidae). Buntbarsche sind beliebte Aquarienfische, die sich aggressiv verhalten können. Die Formenvielfalt und Farbenvielfalt dieser exotischen Fische wurde ausführlich erörtert. (S.w.o. Hinweis zur Hör-CD.). Wie hier neue Arten durch sexuelle Selektion entstehen können?: Wichtig sind dabei die Stichworte Farb-Polymorphismen, Fixierung von Farbgenallelen durch selektive Partnerwahl, Unterbrechung des Genfluss, Populationsdifferenzierung. Sehr beeindruckend waren die Beispiele zur Diversität und Entstehung der Buntbarsche: zu links- und rechtsköpfigen Schuppenfressern, zur geographischen Verteilung der Habitattypen und Artenvielfalt, Stammbäumen und Prozessen der Artbildung (Seen: Lake Malawi, Tanganyika, Victoria in Ostafrika), zu Konvergenzen, Dimorphismus, Männchen mit Eiflecken an der Analflosse, Maul-Brüter (Befruchtung von Eiern im Maul der Weibchen). Auch die Frage, wie in Krater-Seen (leeren ökologischen Nischen) neue Arten entstehen, wurde diskutiert. Fische könnten z.B. hineinkommen über Fischadler und Pelikane, die Fische im Flug fallen lassen könnten. Buntbarsche im WEB: http://images.google.de/images?hl=de&um=1&q=buntba...

Die sich an den Vortrag anschließende DISKUSSION war vielfältig. MEYER, der einmal in Marburg an der Lahn studiert hat und sich als Freund der Synthetischen Theorie (MAYR u.a.mehr; s.w.unten) zu erkennen gab, sprach über EVO-DEVO-Forschung (vgl. hierzu auch (1)): Manches was MAYR geschrieben habe, sei heute überholt oder auch falsch gewesen, betonte der Evolutionsforscher aus der Sicht von heute.

Ich stellte ihm die Frage, zu welcher der drei Evolutionstheorien sich der Forscher denn hingezogen fühle: Synthetische Evolutionstheorie, Systemtheorie der Evolution oder Frankfurter Kritische Evolutionstheorie? Aus seinen Erfahrungen in den USA wusste der Evolutionsforscher zu berichten, dass die Frankfurter Theorie (GUTMANN u.a.) dort wenig Anklang gefunden habe. Ich ergänzte meine Frage: SELEKTION, betonte ich, sei ja immer ein SEKUNDÄRer Vorgang, die Veränderung müsse durch „innere Mechanismen“ primär ja erst einmal geschehen, bevor Auslese stattfinden kann. MEYER meinte in seiner Antwort, es gebe noch vieles zu erforschen, es gebe Constraints (Beschränkungen) und kam auf „EVO DEVO“ zu sprechen.

MEYER hat in seinem FAZ-Artikel klar formuliert:
Das Entstehen von genetischen Veränderungen sei zwar „völlig zufällig und unvorhersehbar“, aber „das Ergebnis der natürlichen Selektion ist es nicht“. AUSLESE finde auf der Basis der zufällig hergestellten Variation auf der Ebene der zwischen Individuen variierenden Phänotypen (Erscheinungsbilder) statt – „aber dies mit System, indem die Individuen, die mehr Nachfahren hinterlassen, genetisch in der nächsten Generation proportional stärker repräsentiert sein werden“. Selektion basiere dabei allein auf dem Phänotyp, die „Evolution ist blind für die zugrunde liegende Genetik“.
Zur Frage ob „EVO-DEVO“ (Evolutionäre Entwicklungsbiologie ) ein „alter Hut“ ist

Vom Genotyp (oder dem gesamten Genom) zum Phänotyp (Erscheinungsbild) eines Lebewesens ist es ein langer und komplizierter Weg. Aus einer befruchteten Eizelle (Zygote) muss embryologisch noch ein fortpflanzungsfähiger Organismus entstehen (vgl. hierzu meine Darstellung im Symmetriebuch Kapitel 10.3.6. (2): „Geschlechtlichkeit als Mechanismus zur Auslösung formausprägender Symmetrisation“. Dieser Entwicklungsprozess ist oft noch eine „Black box“, die die Evolutionsbiologen lange nicht zu öffnen imstande waren, hebt Axel MEYER in seinem FAZ-Beitrag hervor (1). Der Weg vom Ei zum Erwachsenen sei historisch allein die Domäne von Entwicklungsbiologen - nicht Evolutionsbiologen - gewesen. In den letzten Jahrzehnten haben sich aber die Trennlinien zwischen Entwicklungs- und Evolutionsbiologie verwischt. So ist eine neue Disziplin entstanden, zwischen der Entwicklungs- und der Evolutionsbiologie eine Brücke schlagend: „EVO DEVO“ - ein Begriff aus dem Englischen für evolutionäre Entwicklungsbiologie.

Ich nehme an, würden Rupert RIEDL (Vertreter der Systemtheorie der Evolution) und Wolfgang Friedrich GUTMANN (Frankfurter Kritische Evolutionstheorie) heute noch leben, hätten beide Evolutionsforscher einiges zu dem FAZ-Feuilleton-Artikel über „EVO-DEVO“ von MEYER sagen können und wollen. Wenn „Evo Devo“-Forscher heute Fragen stellen, die sowohl mit Entwicklung als auch mit Evolution zu tun haben, so ist das früher schon so gewesen.

Die ursprünglichen Ideen Darwins wurden zwar in einer theoretischen Innovationsphase mit der „Synthetischen Theorie“ (MAYR u.a.m.) erweitert – sie erfuhren aber völlig neuartige Denkanstöße durch die Arbeiten der „Systemtheorie der Evolution“ und „Frankfurter Theorie der Evolution“. Hier wurden schon intensiv auch Fragen nach der Beziehung zwischen Entwicklung (Entwicklungsbiologie) und Evolution diskutiert.

Vor 20 Jahren (1989/ in Englisch 1998 – siehe (2)) habe auch ich mich intensiv in meinem Buch „Symmetrie als Entwicklungsprinzip in Natur und Kunst“ mit „Evo-Devo“ auseinandergesetzt; das „Schlagwort“ war aber noch nicht kreiert worden. Anstrengungen, die Formenvielfalt der Evolution zu erklären, machte ich mit 19 Autoren 1996 auch in der (heute vergriffenen) inter- und transdisziplinären Anthologie „Evolutionäre Symmetrietheorie (…)“. Lesbar für „EVO-DEVO“-Jünger. (3)

Zur sog. „Erweiterten synthetischen Evolutionstheorie“, der Frankfurter Evolutionstheorie (Kritische Evolutionstheorie) und Systemtheorie äußerte ich mich auch an anderer Stelle (4): Ungewohnt scheint mir die Verwendung des Terminus’ „erweiterte synthetische Evolutionstheorie“, der heute im Buch von U. KUTSCHERA „Evolutionsbiologie“ (2006) propagiert wird. Nach KUTSCHERAs Sicht („Die Evolution der Evolutionstheorie“, a.a.O. S. 32) hat sich die EST entwickelt aus dem Darwinismus (Darwin, Wallace): Dieser mutiert laut KUTSCHERA. über den Neodarwinismus (Wallace, Weismann) und die Synthetische Evolutionstheorie (Mayr, Huxley, Dobzhanky, Simpson, Rensch, Stebbins) zur ERWEITERTEN Synthetischen Theorie - mit 10 zitierten Rand-Disziplinen (darunter „Entwicklungsbiologie“, „Epigenetik“). AUSTERMANN (siehe (4)) hat über „Wissenschaftliche Alternativen, Ergänzungen und Kritik zur erweiterten synthetischen Evolutionstheorie“ berichtet und die „Die Frankfurter Evolutionstheorie (Kritische Evolutionstheorie)“ – in 3.6.1 (S. 44f.) – sowie „Die Systemtheorie“ – in 3.6.2 (S. 45f.) – vorgestellt. Während der führende Wissenschaftler der Frankfurter kritischen Theorie (der Konstruktions-Morphologie, der verstorbene Prof. Dr. F. W. GUTMANN) nicht zitiert wird (dafür GUDO 2006) kommt Prof. Dr. Rupert RIEDL mit einem Zitat aus seiner „Die Ordnung des Lebendigen. Systembedingungen der Evolution“ (von 1975) ebenda zu Wort.

Autor AUSTERMANN stellt richtig dar, dass der größte Unterschied zur synthetischen Theorie für die Frankfurter und Wiener Theorien „nicht die Umweltbedingungen“ sind, die „entscheidend für den Artenwandel“ sind. Die äußere SELEKTION als Evolutions-Mechanismus (für die Synthetische Theorie sehr bedeutsam) spielt zurecht in den alternativen Evolutions-Modellen eine sehr untergeordnete Rolle. TRANSMUTATION & TRANSFORMATION (so C.R. DARWIN zur Evolution) der Baupläne im Tier- und Pflanzenreich wird heute durch energiewandelnde „innere Konstruktionsmerkmale“, durch Ausbildung epigenetischer Systeme mit „innerer Selektion“ als Motoren der Evolution interpretiert. Diese sind nach RIEDL „in einem viel höheren Maße dem Zufall entzogen (…) als bislang angenommen wurde und dass dies die notwendige Folge einer Selektion wäre, welche nun nicht nur von Umweltbedingungen, sondern vorwiegend von den funktionellen Systembedingungen in der Organisation der Organismen selbst diktiert wird“. Der verstorbene RIEDL setzte auf ein „Erkennen vernetzter oder funktioneller Kausalität (…) wie sie allgemein zu fordern ist“; Konzept einer SYSTEMTHEORIE. (Zitat a.a.O. S. 45f.)

Ich bin fest davon überzeugt, dass sich die Evolutionsforscher GUTMANN & RIEDL (mit denen ich persönlich eng zusammengearbeitet habe; vgl. z. B. die Anthologie „Evolutionäre Symmetrietheorie“ (3)) heftig gewehrt hätten, dass ihre eigenständigen Theorien durch eine Theorie namens „Erweiterte Synthetische Evolutionstheorie“ (kurz „E.S.T.“) ungerecht subsumiert, d.h. untergeordnet, miteinbezogen zu werden. KUTSCHERAs Subsumtions-Versuch hätten die Forscher durch Gegen-Artikel erfolgreich abgewehrt. KUTSCHERAs Buch „Tatsache Evolution“ (München 2009) beweist, dass der kritisierte Terminus E.S.T. eine Erfindung des Kasseler Pflanzenphysiologen ist, der seit 2001 in seinen Büchern diese „evolvierte Version ‚DER Evolutionstheorie’“ auch als „Expanded Synthesis“ propagiert (S. 305 ff. a.a.O.); mit drei Untertheorien. Die E.S.T. sei „die Wissenschaftsdisziplin EVOLUTIONSBIOLOGIE“ (S. 306). „Arten-Transformation“ erkläre sich heute (2009) nach 3 großen Evolutions-„Faktoren/Triebkräften“: 1 „Symbiogenese“, 2. „natürliche Selektion“ und 3. „dynamische Erde“ (307); hieraus ergebe sich das „Synade-Modell, das der Autor propagiert (vgl. Abb. 10.5. a.a.O.); die Theorien von RIEDL & GUTMANN scheint U. KUTSCHERA nicht diskutieren zu wollen. AUSTERMANNs Feststellung, dass die Überlegungen der Systemtheorie (von RIEDL und WUKETITS) „in die erweiterte synthetische Theorie eingeflossen“ seien (S. 46), ist nicht nachvollziehbar.

Die Bedeutung der EMBRYOLOGIE für die Evolutionsforschung heute hat Axel MEYER in (1) klar herausgestellt. In den letzten Jahrzehnten haben sich die Trennlinien zwischen Entwicklungs- und Evolutionsbiologie verwischt. So ist eine neue Disziplin entstanden, zwischen der Entwicklungs- und der Evolutionsbiologie eine Brücke schlagend: „EVO DEVO“ - ein Begriff aus dem Englischen für evolutionäre Entwicklungsbiologie. In der Giessener Diskussion nach dem Vortrag wurden auf meine Fragen hin u.a. von MEYER auch PAX 6 und HOX-Gene angesprochen.

„Evo Devo“-Forscher stellen heute Fragen, die sowohl mit Entwicklung als auch mit Evolution zu tun haben. „Es wird gefragt, wie ähnliche Strukturen, beispielsweise Vordergliedmaßen oder Augen, sich in Arten verschiedener Tierstämme entwickelten. Sind die gleichen Gene zur gleichen Zeit angeschaltet? Hat die Evolution unabhängig und wiederholt unterschiedliche entwicklungsbiologische Prozesse hervorgebracht, um ähnliche Strukturen zu produzieren? Wie groß sind die genetischen und entwicklungsbiologischen Gemeinsamkeiten zwischen äußerlich oft sehr unterschiedlichen Tierstämmen?“ (MEYER in (1))

Es stellte sich heraus, dass das genetische Repertoire erstaunlich konstant und ähnlich geblieben ist - und dies über enorme evolutionäre Zeiträume hinweg. Erst heute leistet die neue Disziplin „Evo Devo“ ihren Beitrag zum tieferen Verständnis der Evolution. Experimentellen Ansätze zeigten, dass Genkaskaden, die im Embryo bestimmen, wo vorne und hinten und oben und unten ist, zwar evolutionär extrem konservativ, aber bei der Produktion von neuen Bauplänen entscheidend sind. Der Genetiker BATESON beobachtete, dass zuweilen ganze Körperteile eines Organismus von einer Generation zur nächsten die Form und Funktion eines anderen Körperteils annehmen können. Diese Form der drastischen Transformation nannte er „homeotische Mutationen“. Dass innovative Sprünge in der Evolution möglich, ja vielleicht sogar typisch sind, glaubt er. So vertrat er – so MEYER - die inzwischen wieder weniger umstrittene Vorstellung einer nicht-graduellen, saltatorischen, Evolution.

Inzwischen kenne man die genetische Basis einiger der BATESONschen homeotischen Transformationen, die grundsätzlich aus einer Libelle mit vier Flügeln eine Fliege mit nur zwei machen können. MEYER: „Solch drastische Veränderungen geschehen manchmal allein aufgrund einer einzigen Veränderung in einem einzigen Gen. Wie typisch allerdings diese Art von Mutationen und deren entwicklungsbiologische Konsequenzen für die Evolution von Innovationen sind, ist noch unklar. Klar ist heute, dass möglicherweise nur eine kleine Anzahl von Mutationen in entscheidenden Genen zum Teil große morphologische Veränderungen hervorrufen können.“

Diese Mutationen betreffen oft Gene, welche die Funktion anderer Gene kontrollieren. Eine Klasse solcher Transkriptionsfaktoren, die „Homeobox“-Gene, spielen in der Embryonalentwicklung eine ganz entscheidende Rollen. Die „Evo Devo“-Forschung habe gezeigt - so MEYER -, dass die Längsachse in allen Tieren durch solche HOX-Gene bestimmt wird, egal wie andersartig deren Bauplan auch aussehen mag. In den meisten Tierstämmen, so wissen wir heute, sind diese Gene in kompletten Clustern auf Chromsomen angeordnet. Der einmal entstandene Mechanismus konnte sich evolutionär nicht mehr groß verändern. Auch dies sprach MEYER seiner Antwort auf meine Fragen in Gießen an.

Experimente, bei denen artfremde Gene in das Genom einer anderen Art eingeschleust werden, offenbarten, dass PAX-6-Gene von Mäusen, die in der Entwicklung von Augen eine entscheidende Rolle spielen, auch in mutierten Taufliegen, denen ein entsprechendes Pax-6-Gen fehlt, wieder die Entwicklung von Augen bewirken können. Allerdings entwickelten Fliegen dann Fliegen-Augen und nicht Mäuse-Augen, denn Pax-6 ist zwar das Hauptkontroll-Gen, aber die nachgeordneten Erbanlagen enthalten den Bauplan für Fliegen- und nicht für Mäuseaugen. Mausversionen des Pax-6-Gens können also die Entwicklung von Fliegenaugen steuern. (Studien von Walter GEHRING aus Basel.) Diese Arbeiten zeigten somit, „dass auch anatomisch völlig verschiedene Augentypen, wie das Kameraauge von Wirbeltieren und das Facettenauge von Insekten, durch sehr ähnliche genetische Interaktionen programmierbar sind“, so MEYER.

Deratige „Evo Devo“-Studien zeigten, wie konservativ die Evolution auf dieser Ebene zu sein scheint. Diese vollkommen unerwartete Konservierung von Genen und deren Interaktionen war das wichtigste Ergebnis der jüngeren „Evo Devo“-Forschung. Nach MEYER erklärt sie „allerdings nicht, warum morphologisch so viel Variation entstehen konnte, obwohl auf der Ebene der Gene, ihrer Interaktionen und dem gesamten Genom soviel konserviert wurde“. Beispielsweise haben Menschen und Mäuse genau die gleichen neununddreißig Hox-Gene auf vier Chromosomen verteilt, trotz der äußerlich großen Unterschiede. Dieses RÄTSEL zu verstehen, markiere „die nächste Phase dieser Disziplin“.
Durch das Erörtern epigenetischer Faktoren versuchte ich Brücken zwischen „Lamarckismus“ und „Darwinismus“ zu bauen, die biologische Theoriebildung zur Evolution zu erweitern. Historisch gesehen kam es in der Weiterentwicklung von DARWINs Transformations-Theorie (Transmutationstheorie) zu heftigen Debatten zwischen Neodarwinisten und Neolamarckisten. Ein Streit, der nicht allein auf wissenschaftlicher, sondern auch auf gesellschaftspolitischer Ebene bis zur Mitte des 20. Jahrhundert ausgefochten worden ist. Die Auseinandersetzung wurde zugunsten des Darwinismus und nachfolgender heutiger Theorien entschieden: „Synthetische Theorie“ (Weismann, Huxley, Ernst Mayr; ST), „Systemtheorie der Evolution“ (Rupert Riedl, Wagner, Wuketits; STE) und „Kritische und organismus-zentrierte Evolutionstheore (Gutmann u. a.; Frankfurter Schule; FET).

Vertreter der FET (Gutmann, Grasshoff, Edlinger) und ST (Wuketits, Huber) haben in der Anthologie zum Thema „Evolutionäre Symmetrietheorie“ mit Essays Stellung bezogen und ihren eigenen Geltungsbereich der Theorien in der Evolutionsforschung erörtert, wodurch die bestehende „Synthetische Theorie der Evolution“ (ST) in entscheidendem Maße ergänzt werden. (3)

Die Systemtheorie der Evolution (STE) berücksichtigt, dass die Ausprägung von Merkmalen nicht allein durch die DNA-Sequenz eines Genes bedingt ist, sondern ein Ergebnis einer komplexen Wechselwirkung vieler Faktoren des Gesamtsystems Lebewesen im Zuge der Ontogenese. Dabei wirken nicht nur genetisch festgelegte Faktoren der direkten Erbinformation sowie der Steuerung durch Mechanismen der Gen-Regulation (RIEDL: „epigenetisches System“) und von Stoffgradienten innerhalb eines Organismus, sondern teilweise auch externe Faktoren wie die Temperatur oder die Einwirkung chemischer Stoffe während der Embryonalentwicklung. Die Summe der in der Embryogenese wirkenden Faktoren wird auch als „epigenetische Landschaft“ bezeichnet. Systemtheoretisch ergeben sich durch die Komplexität der ontogenetischen Entwicklung Entwicklungskanäle, die - ähnlich wie Attraktoren in der Chaostheorie - nicht ohne weiteres verlassen werden. Damit werden die Evolutionsbahnen teilweise dem reinen Zufall entzogen. (Vgl. hierzu auch Termini wie Konvergenz (analoge Organe), Biogenetisches Grundgesetz (HAECKEL), Präadaption, Koevolution/Symbiosen, Makroevolution.)
Die Frankfurter Evolutionstheorie (FET) bietet seit nunmehr fast 40 Jahren alternative und ergänzende Ansätze für die Evolutionsforschung. Sie wurde durch eine Arbeitsgruppe am Forschungsinstitut und Naturmuseum Senckenberg entwickelt und hat entscheidende Beiträge zur Rekonstruktion evolutionsgeschichtlicher Abläufe (Stammesgeschichte, Bauplan-Evolution) geliefert. Die hierzu entwickelte Methode der „Konstruktionsmorphologie“ eröffnet eine neue Betrachtungsweise für Lebewesen, die weit über die bisherigen Merkmalsbeschreibungen hinausgeht. Evolution wird als Ergebnis des kontinuierlichen organismischen Wandels verstanden. „Anpassungen ans Wasserleben" sind nach der FET nur im Rahmen von konstruktionellem Wandel zu verstehen, ausgehend von sehr unterschiedlichen Körperbauweisen. (3)

Lange fanden epigenetische Phänomene – vererbte Merkmale, die nicht in der DNA-Sequenz festgelegt sind – wenig Beachtung. Heute hat sich die EPIGENETIK zu einem kaum noch überschaubaren Forschungszweig entwickelt, der nicht nur von akademischem Interesse ist, sondern auch bei vielen Krankheiten von Mensch, Tier und Pflanze eine Rolle spielt, besonders auch bei der Krebs-Entstehung (vgl. sog. „Epimutationen“). Spanische Wissenschaftler haben entdeckt, warum sich genetisch identische eineiige Zwillinge manchmal recht stark voneinander unterscheiden: Obwohl sie identische Gene besitzen, sind einige Abschnitte der Erbsubstanz bei einem Zwilling aktiv und beim anderen inaktiv. Die Ursache dafür ist eine unterschiedliche Verteilung bestimmter Schaltelemente, mit denen Gene an- oder abgeschaltet werden; epigenetische Unterschiede. (Forschungsergebnisse des Mario FRAGA vom Nationalen Krebszentrum in Madrid; Online-Vorabveröffentlichung.)

LAMARCK, dessen Lehre im 20. Jahrhundert nach heftigsten Auseinandersetzungen endgültig beerdigt zu sein schien, scheint heute (teilweise) in der Evolutionsforschung rehabilitiert zu werden. Historisch gesehen ist LAMARCK (1809) die erste umfassende Evolutionstheorie zuzuschreiben. LAMARCK war nicht nur von der prinzipiellen Wandelbarkeit der Organismen überzeugt, sondern hat auch die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen verschiedenen Organismen-Gruppen nachzuvollziehen versucht und in „Evolutionslinien“ veranschaulicht. Eine kausale Erklärung der Evolution – heute LAMARCKISMUS genannt – hat ihn berühmt gemacht, was in der Schule jeder/jede im Biologieunterricht lernen muss: „Vererbung erworbener Eigenschaften“ (…). DARWINs Erklärungsmodell zur EVOLUTION (Transformationstheorie) wurde genau 50 Jahre später nach LAMARCK präsentiert. Im Darwin-Jahr ist also auch LAMARCK zu feiern! (Vgl. mein Artikel „EPIGENETIK und Systembiologie: Verknüpfung von Vererbung, Entwicklung und EVOLUTION. Zur Diskussion im DARWIN-Jahr 2009“ (5).

Hier stellte ich klar:
Obwohl die Epigenetik von vielen als eine „neue Disziplin im postgenomischen Zeitalter“ angesehen wird, ist dieses Konzept schon mehr als 60 Jahre alt. Es geht auf den britischen Biologen Conrad Hal WADDINGTON (1905 - 1975) zurück. Historisch betrachtet, konnten Embryologen lange Zeit nicht erklären - trotz vieler Erkenntnisse über die Embryonalentwicklung - warum Nachkommen ihren Eltern ähnlich sind. Zu klären war, ob eine schon 1651 vertretene Theorie der „Epigenese“, die von dem britische Arzt William Harvey begründet worden ist, tatsächlich zutrifft: Die Theorie besagt, dass ein Embryo in der Ei- oder Samenzelle nicht schon fertig ausgebildet vorliegt, sondern sich durch sukzessive Bildung neuer Strukturen entwickelt, was sich als richtig herausgestellt hat (Wolff 1796).

Später hat WADDINGTON zu erklären versucht, wie ein bestimmter Phänotyp zustande kommt. Der Biologe hat die Genetik in die Embryologie eingeführt und durch Zusammenziehung der Wörter „Epigenese“ und „Genetik“ den Begriff „EPIGENETIK“ geprägt. Häufig höre man, schreibt HORSTHEMKE (6), dass der Begriff „Epigenetik“ eingeführt worden sei, um damit eine Regulationsebene über (griechisch „epi“) der DNA zu bezeichnen. Obwohl diese Wort-Deutung einen wichtigen Aspekt der Epigenetik treffe, sei sie historisch falsch. Waddington fasste die Rolle der Epigenetik wie folgt zusammen: Nach Waddington bilden „feedback reactions from gene to gene, cytoplasm to gene, and cytoplasm to cytoplasm“ das epigenetische System einer Zelle.
Mit dieser Definition kann WADDINGTON auch als Begründer der „SYSTEMBIOLOGIE“ angesehen werden, die als neueste Entwicklung der Molekularbiologie gilt. Ein Fazit des Autors: „Epigenetik ist also im Prinzip das Studium der Gene während der Entwicklung und verknüpft damit Vererbung, Entwicklung und Evolution. Nach Waddington bestimmen Gene und Umwelt einen bestimmten Phänotyp vermittels des Epigenotyps. Das klassische Modell der Genotyp-Phänotyp-Unterscheidung muss deshalb um den Epigenotyp erweitert werden.“

Mit WADDINGTONs Systembiologie haben sich schon die Vertreter von aktuellen Evolutionstheorien auseinandergesetzt: Ernst MAYR (Hauptvertreter der „Synthetische Theorie“) zitierte Waddington im Zusammenhang mit Bestrebungen, die menschliche Ethik aus der Evolution abzuleiten: Genetik komme dabei eine gewisse Bedeutung zu. Unzweifelhaft sei natürliche Auslese ein „a posteriori bewertender Vorgang“ (nach der „Produktion erfolgreicher Genkombinationen“), der den gegenwärtigen Erfolg belohnt, aber niemals zukünftige Ziele setzt; schon Darwin habe dies erkannt. Evolutive Veränderungen seien keine teleonomischen Vorgänge; in Waddingtons Überlegungen spiele der Begriff des Zielgerichtetseins (des Finalistischen) aber eine Rolle. (5)

Nichtsdestotrotz habe Waddington Recht, wenn er auf das Ablaufen „teleonomischer Vorgänge“ (Mayr-Begriff) auf molekularer Ebene hingewiesen hat, Programme, die nicht das einfache Entfalten einer vollständigen präformierten Gestalt induzieren, sondern einen komplizierten Prozess steuern, der innere und äußere „Störungen“ berücksichtigen muss; Rückkopplungs-Mechanismen, homöostatische Einrichtungen für richtige Kanalisierung von Entwicklung. Siehe hierzu auch das Thema Evolution und Macht der früh-organismischen Prägung, von Lernen: WADDINGTON vertrat die These, dass das Wertesystem einer Person (das Erlernen ethischer Normen) weitgehend durch das bestimmt wird, was in der Kindheit in dieses offene Verhaltensprogramm eingebaut wird; hiermit hat er Recht.

Siehe heute auch aktuell zur revolutionären SPIEGEL-Zellen-Diskussion; bitte GOOGELN „werner hahn“ und „spiegelzellen“!; hierzu auch der Streit zwischen Axel MEYER & Joachim BAUER (WEB: http://brightsblog.wordpress.com/2008/12/07/dummes... UND http://brightsblog.wordpress.com/2008/12/21/dogmat...

Siehe zu Spiegelneuronen im WEB von mir: http://www.spektrumverlag.de/artikel/968491 UND http://www.gehirn-und-geist.de/artikel/968494

Wenn Waddingtons Überlegungen hierzu zutreffen, ergebe sich daraus, „dass eine ethisch-moralische Erziehung von größter Bedeutung ist“. MAYR zählte Waddington – wie sich selbst - zu den „Anhängern der synthetischen Theorie“, die „seit Jahrzehnten eine weit ganzheitlichere Auffassung des Genotyps vertreten als die Reduktionisten“ mit ihrer reduktionistisch-atomistischen Kozeption des Genotyps. Die Synthese-Forscher vertreten angesichts der Erkenntnisse über die große funktionale Mannigfaltigkeit der DNA/DNS die „These des Systemcharakters des Genotyps“, sagt MAYR Hier werde der Genotyp als ein „gut integriertes System, analog einem strukturierten und mit Organen ausgestatteten Organismus“ favorisiert. KIMURA und andere Genetiker stellten die (auch in Frage gestellte) Theorie zur Diskussion, dass die meisten Veränderungen der Gen-Häufigkeiten für die SELEKTION keinerlei Bedeutung hätten, sondern neutral seien. Die Existenz der natürlichen Auslese wurde von ihnen keineswegs völlig geleugnet, aber deren Bedeutung als Faktor des evolutionären Wandels des Genotyps gemindert.
Dass drastische Mutationen zu einem selektiv überlegenen Phänotyp führen, ist heute nach wie vor noch ungewiss. Besonders bei Pflanzen wird von Mutationen mit drastischen phänotypischen Auswirkungen berichtet; hierzu siehe mehr in (6) über Methoden des Erwerbs evolutionärer Neuerungen; Prinzip der Asymmetrisation/Symmetrisation. Dass sich Evolution wohl hauptsächlich „nur in sehr kleinen und langsamen Schritten“ – „durch die Bewahrung und Anhäufung unendlich kleiner ererbter Modifikationen“ (DARWIN) vollzieht ist anzunehmen; sie ist das am häufigsten praktizierte Prinzip in der biologischen Evolution. Die Systembiologie diskutiert heftig die Theorie makro-evolutionärer Fortschritte mit „genetischen Revolutionen“ (Mayr 1954). Das Thema MIKRO- und/der MAKRO-Evolution habe ich in meinem Symmetriebuch von 1989 mehrfach angeschnitten: in (2), S. 60, 76, 109 – fertile Groß-Mutationen, Sprungmutanten bei Pflanzen; nicht als Missbildungen – mit Fotobeweisen!.Siehe ebenda auch 10.3.5.1. „Licht als Mutabilität auslösendes Prinzip“.

Zu einem Neu-Überdenken des Evolutionsprozesses habe ich aufgerufen, so dass namhafte Vertreter der Evolutionstheorien im EST-Projekt miteinander diskutiert haben und erste Brücken gebaut worden sind (2)&(3).

Als „konsistente Erweiterung der synthetischen Theorie“ (von MAYR u. a. – einer Form des „Neo-Darwinismus“) sieht sich das „Forschungsprogramm“ (mit Riedl, Wuketits u.a.), „das zu einer SYSTEMTHEORIE der Evolution führen soll“. Zum Paradigma der Systemtheorie erläutern Rupert Riedl & Peter Krall in einem Essay des Buches die „Synthetische Theorie“ zusammen mit der „Systemtheorie“; deren „Lösungen“ und „Prognosen („Die Evolutionstheorie im wissenschaftlichen Wandel“, S. 260 ff.). Zum Thema „INNERES SELEKTIONSPRINZIP“ (mit Phänomenen „innerer Ordnung“ und „alter Muster“, „geordneter Abläufe“ sowie der „Resistenz gegen Adaptierung“ und „systemimmanenter Ordnung“), „CONSTRAINTS“ und „epigenetischen Fallen“, dem „imitatorischen Epigenotypus“ und „stochastischen Prinzip“ ebenda mehr. Übrigens: Im Werk Rupert RIEDLs „Die Ordnung des Lebendigen. Systembedingungen der Evolution“ von 1975 – einem wichtigen Buch für alle an der Evolution Interessierte (auch KUNST-Menschen) – zeigt das „Autorenregister“ zu „Waddington, C.“ 19 Seiten-Hinweise; in RIEDLs „Die Strategie der Genesis. Naturgeschichte der realen Welt“ von 1985 gibt es 12 S.- Vermerke zu dem Biologen, der die Systembiologie und Epigenetik begründet hat.

In einem Kapitel des aktuellen Buches „Gott oder Darwin“ (7), das einen Bogen spannt, der eine konstruktive Auseinandersetzung von Schöpfung und Evolution ermöglichen soll, konstatiert Jochen OEHLER in seinem Essay „Zur Evolution der Evolutionstheorie“ (in 8.8.: „Variationen sind nicht alle adaptiv“):

„Erst in Ansätzen sind uns die innerorganismischen Prozesse mit ihren Selektionsebenen (Mehrschichten-Selektion) bekannt, die zur Bildung der Phänotypen während der Stammesgeschichte (Phylogenese) und in der Individualentwicklung (Ontogenese) zum erwachsenen Organismus führen. Ihre Bedeutung für die Erfassung der ganzheitlichen evolutionären Prozesse jedoch nimmt ständig zu.“

Erst heute werden sich Evolutionsforscher bewusst, dass nicht alle Veränderungen im Sinne der Anpassung zweckmäßig sind: Die „in der Zeit nach Darwin popularisierte, aber eben vereinfachende Meinung, jede Veränderung (Mutation) würde unmittelbar positiv oder negativ selektiert“, gebe „das Geschehen von Variation und Selektion nur unzureichend“ wieder. Von Darwin sei dieser „Reduktionismus sicher nicht beabsichtigt“ gewesen. Es gebe eben auch „Varietäten und Veränderungen, die nicht so unzweckmäßig sind, dass sie zum Aussterben der Art führen und daher durchaus erhalten bleiben können.“ Und: „Damit fällt es auch einfach, die beeindruckende Vielfalt in der Ausbildung äußerer Erscheinungsformen wie beispielsweise Blütenformen- und farben bei Pflanzen oder die farbfreudigen und verschwenderisch wirkenden Federkleider verschieden Vogelarten und vieles anderes zu erklären.“ Oehler hebt hervor: „Als Künstler beschreibt dies Werner Hahn anschaulich mit den Worten: Die belebte Natur verhält sich beim Formenschaffen wie ein Künstler, der sich vom nur Nützlichen nicht beschränken lässt (Hahn 1996). Bezug: Aufsatz „Evolutionäre Symmetrietheorie und Universale Evolutionstheorie“.

In Kap. 8.9. (S. 131) schreibt der Autor ebenda sehr richtig, es könne bei evolutionärem Wandel jeweils nichts „absolut Neues“ entstehen: nur aus dem Vorhandenen entstehe etwas Aufbauendes oder Abgewandeltes. Die DNA/DNS wisse nichts davon, was aus ihren Veränderungen werden könnte! (Siehe oben MEYER.) Schon gar nicht seien diese Veränderungen auf bestimmte Anpassungsleistungen orientiert. DAWKINS habe daher 1990 von der Metapher des „Blinden Uhrmachers“ gesprochen (1990).

LITERATUR - Anmerkungen

(1) MEYER, Axel (2008): „Evo Devo“-Forschung: Danken wir den Fischen mit fünf Fingern. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.12.2008.

(2) HAHN, Werner (1989): Symmetrie als Entwicklungsprinzip in Natur und Kunst. Königstein. Gladenbach: Art & Science, 1995.
(HAHN, Werner (1998): Symmetry as a developmental principle in nature and art. Singapore. Übersetzung des Originalwerkes von 1989, ergänzt durch ein 13. Kapitel – mit erweitertem Sach- und Personenregister sowie Literatur- und Abbildungsverzeichnis.)

(3) HAHN, Werner / WEIBEL, Peter (Hrsg.) (1996): Evolutionäre Symmetrietheorie: Selbstorganisation und dynamische Systeme. Stuttgart. (Anthologie mit Beiträgen von 19 Autoren.) (Kurz: EST.) Darin: HAHN, Werner: Evolutionäre Symmetrietheorie und Universale Evolutionstheorie. Evolution durch Symmetrie und Asymmetrie. (S. 255 bis 284 mit 11 mehrteiligen Abbildungen. Lesbar im www unter art-and-science-de.)

(4) HAHN, Werner (2009): DARWIN-Jahr: Stellenwert der EVOLUTIONSTHEORIE in der SCHULE erhöhen! Koexistenz & Dialog von Glauben & Wissenschaft. In: ZEIT Online v. 12.02.09.
Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine REZENSION des Bandes:

AUSTERMANN, Christian (2008): Die Evolutionstheorie im Spannungsfeld zwischen modernen Naturwissenschaften und religiösen Weltanschauungen. Marburger Schriften zur Lehrerbildung. Herausgegeben von Prof. Dr. Bernhard Dressler und Prof. Dr. Lothar A. Beck im Auftrag des Zentrums für Lehrerbildung der Philipps-Universität Marburg Band 1. Tectum Verlag Marburg 2008. Bei DIE ZEITOnline zu lesen in: http://kommentare.zeit.de/user/wernerhahn/beitrag/... (Ebenda auch erste Kommentare.)
Der Beitrag erschien auch am 13.02. in http://www.myheimat.de/gladenbach/beitrag/75162/da... (251 x gelesen bis heute).

(5) HAHN, Werner (2008): Zum Darwin-Jahr 2009: Transmutation/EVOLUTION und Epigenetik. Rehabilitierung von Lamarck? In: ZEIT Online Community v. 18.11.2008.

(6) HORSTHEMKE, Bernhard (2005): Was ist Epigenetik? In: Zeitschrift medizinischegenetik 3/2005. Anmerkung: Dank an „BALANUS“, der mir in ZEIT Online unter „Lamarck“ (vgl. (5)) den guten Literatur-Hinweis gegeben hat.

(7) KLOSE, Joachim / OEHLER, Jochen (2008): „Gott oder Darwin?“. Berlin 2008.

Bürgerreporter:in:

W. H. aus Gladenbach

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