Europa soll mehr sein als ein Markt

Europa ist in der Krise. Bei den anstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament könnten rechtspopulistische Parteien deutliche Stimmenzuwächse verzeichnen. Die Kritik am Demokratiedefizit der Europäischen Union nimmt zu.

Die EU leidet unter einem Mangel an Demokratie. Das hat verschiedene Gründe. Einer davon ist der nach aktueller Rechtslage kaum zu überwindende Vorrang der Wirtschaftsfreiheit gegenüber sozialen Anliegen.

Das Grundgesetz ist neutral.

Es ist auf keine bestimmte Wirtschaftsideologie festgelegt, es bevorzugt weder den Staat noch den Markt. Auf europäischer Ebene sieht das jedoch anders aus – was den Spielraum für soziale Politik erheblich einschränkt und zur Unzufriedenheit der Bürger mit der EU beitragen dürfte. Darauf macht WSI-Experte Daniel Seikel aufmerksam. Zwar gebe es auch eine Reihe anderer berechtigter Kritikpunkt an der EU, etwa die relative Machtlosigkeit des Parlaments oder die schwache demokratische Legitimation der Kommission. Doch ein „mindestens ebenso zentrales wie auch strukturelles Demokratieproblem“ sei die „Überkonstitutionalisierung des Binnenmarkts“.
Gemeint sind damit die vier Marktfreiheiten, die nach und nach Verfassungsrang angenommen haben – weniger durch politische Entscheidungen als vielmehr durch eine lange Reihe von „Rechtsschöpfungsakten“ des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), so Seikels Analyse. Das Wettbewerbsrecht und die Grundfreiheiten, also Monopol- und Kartellkontrolle, das Verbot staatlicher Beihilfen, das Vergaberecht sowie die uneingeschränkte Mobilität von Kapital, Gütern, Dienstleistungen und Personen, sind Herzstück des Binnenmarktrechts, schreibt Seikel. Diese Instrumente seien „von ihrem Wesen her auf Marktschaffung und damit gegen (staatliche) Maßnahmen zur Marktbegrenzung“ ausgerichtet. Im Laufe der Zeit hätten die Grundfreiheiten eine dominierende Stellung erreicht. Faktisch habe dies zu einer Unterordnung sozialer Rechte unter die Wirtschaftsfreiheit geführt. Und dies bewirke eine „Beschneidung des demokratischen Gestaltungsspielraums“.

Regulierungsgegner sind immer im Vorteil.

Wer etwa Gesetze zur Beschränkung transnationaler Lohnkonkurrenz erlassen wolle, werde vom EuGH regelmäßig zurückgepfiffen. Das habe sich etwa bei den Auseinandersetzungen um die Entsenderichtlinie gezeigt. Auch Tarifautonomie und Streikrecht seien in der Vergangenheit in Konflikt mit den Grundfreiheiten geraten. Einige Möglichkeiten für Unternehmen, die Mitbestimmung im Aufsichtsrat zu unterlaufen, sind eine Folge der EuGH-Interpretation der Niederlassungsfreiheit. Insgesamt ist der demokratische Wettbewerb um die „richtige“ Wirtschaftsordnung durch das Binnenmarktrecht laut Seikel stark, eingeschränkt. Zwischen Gegnern und Befürwortern regulierender Markteingriffe herrsche keine rechtliche „Waffengleichheit“. Die Vorherrschaft von Markt und Wettbewerb beenden Selbst wenn das EU-Parlament aufgewertet würde, hätte dies „nicht den Effekt, den es haben könnte“, solange dort nichts beschlossen werden könne, was die Dominanz der Grundfreiheiten beschränke, schreibt der WSI-Experte.

Am besten wäre
nach seiner Auffassung ein „konstitutioneller Neustart“ für die EU: eine Verfassung, die das Binnenmarktrecht eine Ebene niedriger ansiedelt und sicherstellt, dass die Politik die Oberhand behält. Eine alternative Lösung, die der Europäische Gewerkschaftsbund vorgeschlagen hat, wäre eine Ergänzung der europäischen Verträge um ein „soziales Fortschrittsprotokoll“, das den sozialen Rechten einen grundsätzlichen Vorrang vor den Grundfreiheiten einräumen würde. Als dritte Möglichkeit könnten wenigstens Ausnahmebereiche definiert werden, für die das Primat von Wettbewerbsrecht und Marktfreiheit nicht gilt. Darunter könnten etwa Tarifverhandlungen und Streiks fallen. Dies würde Europa voranbringen und die Akzeptanz der EU erhöhen, ist sich Seikel sicher.
Quelle: Daniel Seikel: Das übersehene Demokratiedefizit, WSI-Mitteilungen 2/2019

Bürgerreporter:in:

Siegfried Räbiger aus Oberhausen (NW)

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