Gegen die Feindbilder in unseren Köpfen

1946 kam mein Vater aus der Kriegsgefangenschaft heim.

Ein russischer Arzt rettete ihm das Leben. Zwei Familienväter waren es, die sich nach gegenseitig nackter Gewalt dort begegneten und erkannten, dass sie keine Feinde sind, sondern beide Opfer eines Krieges, den sie nicht wollten und doch erdulden mussten. Ich wurde 1947 geboren und verdanke also indirekt diesem russischen Arzt meine Existenz, der damals dafür sorgte, dass Emil heimkehren konnte. Ich lebe, weil zwei Menschen ihr Feindbild aufgegeben hatten und im Gegenüber ihren Nächsten erkannten.

Diese Geschichte erzählte mir mein Vater immer wieder, wenn es um das Thema Krieg oder auch Schuld ging. Sonst schwieg er dazu. Wenn ich fragte, dann sagte er, dass die Bilder zu schrecklich seien, die mit der Erinnerung aufkommen. Es gäbe keinen Grund, der sie rechtfertigen könne.

Meine Mutter erzählte mir, mein Vater sei ein anderer Mensch gewesen, als er aus dem Krieg heimkehrte. Und sie sprach von den Ängsten der Frauen und Kinder, die auch in der Heimat täglich ums Überleben kämpfen mussten und nie sicher sein konnten, ob die Männer und Söhne wieder zurückkämen.

Meine Eltern erlitten zwei Weltkriege, in der Kindheit den Ersten und als Erwachsene den Zweiten. Und wir heute? Wir sitzen in den Rängen und schauen wie das Grauen weiter überall in der Welt wütet.

In diesen Tagen klopfen die Opfer der Gewalt an unsere Türen, ganz persönlich, ganz real. Und wir schauen in ihre Gesichter, und wir könnten unsere Nächsten darin erblicken. So wie damals dieser russische Arzt meinen Vater nicht als Feind, sondern als seinen Nächsten erkannte.

Emil kehrt heim

Es ist Februar 1946. Die schwarze Dampflok schnauft und zischt unter der Last der vielen Wagons, die ihr in sonderbarer Zusammenstellung folgen. Als habe man von verschiedenen Zügen einzelne Wagen herausgenommen und sie wahllos hinter diese Lokomotive gehangen. Den Schluss bilden mehrere Gepäckwagen mit jeweils nur einem Fenster. Der Zug ist voll, übervoll. Hinter den Fensterscheiben sind viele Gesichter, die ernst und stumm nach draußen schauen. Die in den Gepäckwagen sieht man nicht.

Emil sitzt in der Mitte des Zuges auf einem Fensterplatz und sieht hinaus. Es ist ein 3. Klasse Wagon der Reichsbahn mit Holzbänken und in der Mitte einem Durchgang, der jetzt aber auch mit heimkehrenden Soldaten belegt ist. Graue Uniformen, schmutzig, abgewetzt und teilweise zerrissen, ohne Rangabzeichen, und auch die eine oder andere zivile Hose und Jacke umhüllen die meist hageren Gestalten mit Gesichtern, die das Lachen vergessen zu haben scheinen.

Odessa, Minsk, Warschau, Berlin, Hannover, Friedland. Bis Berlin reiste Emil in Güterwagons, die für die Landser aus russischer Kriegsgefangenschaft teils mit dünnem Stroh ausgelegt waren, teils aber auch nur den nackten Bretterboden aufwiesen. In der Ecke stand ein Eimer, aber nicht immer.

Drei Wochen, vielleicht auch vier, dauerte für Emil diese Heimreise. Durch Minsk kam er zweimal. Einmal als Hauptgefreiter des deutschen Heeres, dann als Heimkehrer aus russischer Kriegsgefangenschaft, in die er im Winter 1944/45 geraten war.

*

Er wollte diesen Krieg nicht. Doch im Frühjahr 1940 musste er seine Postuniform gegen den grauen Rock der Wehrmacht tauschen. Seine Frau blieb mit der damals 15-jährigen Tochter zurück und übernahm seinen Dienst als Briefträgerin. Einen Heimaturlaub hatte er zu Weihnachten 1941. Seitdem bekam er gelegentlich einen Brief und 1942 auch die Mitteilung, dass seine Frau in der Heimat die zweite Tochter zur Welt gebracht habe! Beide seien wohlauf, doch Heimaturlaub könne er nicht bekommen.

Die Kriegsgefangenschaft brachte ihm die Erlösung aus einem Wahnsinn, in dem längst nicht mehr klar war, wer Freund und wer Feind sein sollte. Das Sterben um ihn herum wurde im Laufe der Jahre zu einem abgestumpften Alltag, in dem nicht einmal mehr das Überleben wirklich erstrebenswert schien. Einmal bekam er Granatsplitter ins Bein und wurde für ein paar Tage in ein Feldlazarett verlegt. Damals betrachtete er oft das kleine Foto, das seine Frau mit der ersten Tochter zeigte. In diesen Nächten malte er sich aus, dass seine zweite Tochter sicher noch viel schöner sei als diese Beiden auf dem Bild. Emil weinte dann still und schmeckte die salzigen Tränen. Bevor er davon zu träumen begann, rückte eines nachts unter dem teuflischen Klang der Stalinorgeln und der anderen schweren Geschütze die Front näher, und das Lazarett wurde aufgelöst. Emil kam zurück zu seiner Truppe. Kurz darauf geriet er in russische Gefangenschaft.

*

Der Zug rattert in den Kasseler Hauptbahnhof. Emil nimmt kaum noch die Zerstörungen der Bombennächte wahr. Seit Berlin sah das überall gleich aus. Jetzt würden sie sicher über Treysa-Wabern bald in Marburg sein – daheim. Obwohl in ihm unbekannte, verlorene Gefühle aufsteigen, kommt kein glückliches Lächeln in sein Gesicht. Wann hatte er zuletzt gelächelt? Vom Bahnsteig draußen hört er lautes Rufen. Im Zug ist es unruhig. Doch mit seinen Gedanken ist Emil noch immer in Russland, im Gefangenenlager bei Odessa.

Er hatte den Krieg überlebt. Doch in diesem Lager drohte er, wie viele andere zu verhungern oder an einer der zahlreichen Infektionskrankheiten zu sterben. Die Haut spannte über seinem geschundenen Körper, die Splitter im Bein eiterten einer nach dem anderen heraus, doch nicht alle.

Eines Tages wurde er zum Lagerarzt geführt; ein Offizier, der zwar besser ernährt schien, doch auch die langen Kriegsjahre in den Augen hatte. Müde forderte er Emil auf sich zu setzen, löste den schmutzigen Verband vom Unterschenkel und ersetzt ihn durch einen neuen. In gebrochenem Deutsch fragte er den deutschen Kriegsgefangenen nach seiner Familie. Emil fingerte eine kleine flache Blechdose aus der Brusttasche seiner Uniformjacke. Darin bewahrte er einen Rasierapparat und das Foto von Frau und Tochter auf, das er jetzt dem Russen reichte. Seinen Ehering hatte man ihm schon vor Monaten abgenommen. Lange versanken die Blicke des Arztes in das Foto, bis er aufschaute und an den Schreibtisch in der hinteren Ecke des Zimmers ging. Er forderte Emil auf, sich vor den Tisch auf den Stuhl zu setzen. Dann griff er in seine Jackentasche, holte sein Foto hervor und legte es zu Emils Foto auf den Tisch.
„Meine Frau, meine Tochter“, sagte er betont langsam und fast akzentfrei. Dabei lächelte er Emil an, und Emil lächelte zurück.

*

Mit einem Ruck setzt sich der Zug wieder in Bewegung. Über Emils Gesicht huscht ein erstes Lächeln in der Heimat. Wie nahe war er jetzt diesem russischen Ehemann und Vater, der ihm nach dieser Untersuchung einen Entlassungsschein ausstellte mit dem Vermerk einer hoch ansteckenden Magen-Darm-Infektion. Sie bewirkte, dass man Emil schnell nach Westen durchreichte.

Als der Heimkehrerzug durch Cölbe schnauft, zieht Emil das Fenster herunter und hält den Kopf in den kalten Fahrtwind. Wenig später sieht er hoch auf den Lahnbergen das Marburger Schloss, und im Tal grüßen ihm die Türme der Elisabethkirche entgegen. Marburg lebt noch.

Die Bremsen des Zuges kreischen schrill, und Emil wird mit hinausgeschoben auf den Bahnsteig. Dort steht er wie vom Unheil wieder ausgespuckt als ein Schatten in einer verschlissenen, ausgedienten Uniform. Seine Augen schauen aus tiefen Höhlen der Frau entgegen, die langsam auf ihn zugeht und fragt:
„Bist du es, Emil?“
„Ja Gretel, ich bin es wieder.“

Sie umfasst seinen dürren Körper, und er zieht sie zu sich heran, spürt ihren weichen Busen an seiner knochigen Brust und ihren von heftigem Schluchzen geschüttelten Körper. Aus seinen Augen fließen wieder Tränen, die salzig schmecken. Der Bahnsteig hat sich fast geleert, als sie sich voneinander lösen.

„Wo sind die Mädchen?“, fragt Emil.
„Ich habe sie zu Hause gelassen, weil ich nicht wusste, ob du dieses Mal wirklich dabei bist.“
„Lass uns gehen Gretel, ich will sie sehen“, sagt Emil, und das Lächeln in seinem Gesicht bleibt.

*

Emil konnte anfangs nur Haferschleim essen. Es dauerte viele Wochen, bis er wieder zu Kräften kam. Auch seine Arbeit als Briefträger konnte er bald wieder aufnehmen. Sie hatten nicht mehr damit gerechnet, doch nach einem Jahr gebar Gretel einen gesunden Jungen.

Bürgerreporter:in:

Gerhard Falk aus Dautphetal

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