Ein makaberes Wiedersehen - Licht am Ende der Hoffnung

Trotz Begrenzung wuselten die Menschen rücksichtslos mit den voll beladenen Einkaufswagen durch die Gänge, als würden sie gehetzt und es morgen nichts mehr gäbe!
Einen bekam ich in die Hacken geschoben und drehte mich wütend um. Doch statt einer Entschuldigung sagte der ältere Herr mit der randlosen Brille: "Hallo Klaus! Ich hoffe, ich habe dich nicht verletzt!"  Es folgte ein Kichern.

Er kam mir nicht bekannt vor und ich antwortete, immer noch geladen: "Wer sind Sie?
Woher kennen Sie meinen Vornamen?!"

"Aber Klaus, ich bin doch Antonius! Denk mal zurück: Sechste Klasse Volksschule, Lehrer Hülsemann, von uns immer Hülse genannt."

Sofort wusste ich, wer er war. Diesen Schulkameraden mit dem seltsamen Namen hatte ich nicht vergessen. "Mensch, Antonius, woran hast du mich erkannt?"

"Ich weiß es nicht genau, aber es könnte dein erstaunlich volles Lockenhaar, die flache Stirn und die spärlichen Augenbrauen sein. - Erstaunlich, nicht wahr, wo wir doch alle durch den Mund-Nasen-Schutz wie Maulwürfe aussehen!" Er kicherte wieder.

"Hast du auch zwanzig Minuten angestanden, um einen Rollwagen zu bekommen?" fragte ich ausweichend, da mir seine Charakterisierung unangenehm war.

"Ja, damit sparen sie den Türsteher ein.Es sind nur soviele in Umlauf, wie Kunden in den Laden dürfen. Die anderen Einkaufswagen haben sie ausgelagert."

"Eigentlich brauchte ich gar keinen und bin zuerst ohne Rollator durch den Eingang gelangt", antwortete ich. "Ich habe den Auftrag von meiner Frau bekommen, ein Meterbrot zu kaufen." Ich schmunzelte. "Aber ein Mitarbeiter scheuchte mich in die Schlange. Bei der Gelegenheit habe ich noch nach einem Buch gesucht. Inge und ich schenken uns schon seit Jahren zu Weihnachten ein Buch, dessen Titel der andere nicht kennt. Größere und originellere Geschenke sind für die Kinder und Enkelkinder vorgesehen. Ich habe gar nicht mitbekommen, dass sie auch die Büchereien downgelockt haben." Ich wartete vergeblich auf ein Lachen über meinen intelligenten Ausdruck. "Ich nehme ihr eine fünfrispige Orchidee mit und hoffe, dass sie nicht enttäuscht ist."

"Ein Buch hättest du doch ganz leicht über 'amazon' bestellen können!"

"Ich will den wie verrückt boomenden Internethandel nicht unterstützen!"

"Die haben hier doch auch Bücher."

"Ja, aber nur Taschenbücher. Zum Fest sollte es schon gebunden sein. Außerdem bieten die nur leichte Kost an. Autorinnen wie Gabi de Luxe, Hera Mind und Rosamunde Gilcher.
So ein Buch würde bei mir am Kopf landen!" Ich kicherte nicht, ich lachte.

Er antworte ganz ernst: "Die Namen sagen mir nichts! Ich habe sowieso keine Zeit für Bücher. Mein Mann teilt immer die 'Bild-Zeitung'  mit mir, da krieg ich alles wirklich Wichtige mit."

Es entstand eine Pause, bevor er fragte: "Bist du noch berufstätig?"

"Seit zwei Jahren nicht mehr - und du?"

"Ich habe ja die Tischlerei von meinem Vater übernommen und bin jetzt schwer im Geschäft."

"Wir dachten alle, dass du Opernsänger werden würdest. Du warst doch der Liebling unserer Musiklehrerin Fräulein Suhrbier. Niemand konnte so hoch singen wie du.
Ich erinnere mich noch daran, wie du Harald - oder war das Holger - geohrfeigt hast, weil er Kastrat zu dir gesagt hat."

"Unangenehme Dinge habe ich aus meinem Kopf verdrängt. Nach dem Stimmbruch war
alles vorbei und mein Vater, der ja auch Särge herstellte, war froh, dass ich bei einem
Kollegen von ihm eine Tischlerlehre machte. Nach seinem Tod habe ich den Betrieb übernommen, erweitert und verändert."

Sei froh!" antwortete ich spontan. "Die Opernhäuser sind geschlossen, die Sänger sind in Kurzarbeit, fahren Taxe oder desinfizieren Einkaufswagen. - Gestorben wird immer!"

"Deshalb bin ich froh, dass ich mich mit meinem Mann zusammengeschlossen habe. Der hat ein Beerdigungsinstitut geerbt und ist eigentlich Kunstmaler. Ich stelle jetzt überwiegend Urnen her, die Kevin individuell und originell bemalt."

"Donnerwetter!" platzte ich heraus. "Das ist ja, als hättet ihr 'Covid-19'  erahnt!"

"Das konnte niemand erahnen! Den Trend zur Feuerbestattung gibt es ja schon seit Jahren! Aber es findet auch niemand eine Lösung für Corona!  Selbst der Chef
vom Robert-Koch-Institut empfiehlt Kontakte zu meiden und zu Hause zu bleiben!"

"Ja, ich habe den letzten Appell von Professor Dr. Wieler gehört. Wenn auch für dein Geschäft abträglich, wäre es schön und vernünftig, auf ihn zu hören!"

"Keine Angst!", er hob die Hand, "Wir kommen schon auf unsere Kosten! Kevin und ich haben schon gelästert: 'Vermeiden Sie möglichst Kontakte und treffen Sie immer nur
die selben Tiere, damit sie nicht im Tierheim oder in der Abdeckerei landen!'" Er sah mich
Beifall heischend an.

"Ich finde das geschmacklos! Tierarzt, Allgemeinmediziner oder Virologe, alle sitzen mit uns im selben Boot und haben keine Lösung!"

"Aber Durchhalteparolen haben sie wie die Politiker: 'Licht am Ende des Tunnels' oder
'Die Hoffnung stirbt zuletzt'. Ist das nicht hilflos? Ich benutze wenigstens eine Kombination aus beiden Phrasen. Nach der Trauerfeier in der Kapelle drücke ich jedem die Hand, zeige mit der anderen auf die große brennende Kerze und sage: 'Das ist das Licht am Ende der Hoffnung!' Sofort sehen sie nicht mehr so traurig aus. Bei einigen versiegen sogar die Tränen!"

Mir war schon schlecht, jetzt wurde es immer makaberer! Ich sagte schroff: "Ich muss jetzt gehen! - Trotzdem frohe und ruhige Feiertage!"

Er lachte fies. "Froh, sogar fröhlich werden sie werden, aber ruhig bestimmt nicht.
Was meinst du, was da an Aufträgen noch hereinkommt?!"

Bürgerreporter:in:

Martin Ripp aus Bramfeld

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