Deutschlands Gas-Dilemma: demokratische Werte oder kommerzieller Profit?

Die russisch-deutsche Pipeline Nord Stream 2 ist zu 95 % fertig und kann jederzeit vollständig fertiggestellt werden. Natürlich gibt es aufgrund der US-Sanktionen gegen die am Bau der Pipeline beteiligten Unternehmen immer noch Probleme mit der Versicherung und der Zertifizierung von NS2 (ohne die die Inbetriebnahme nicht möglich ist). Allerdings konzentrieren sich alle Akteure derzeit weniger auf die Sanktionen der USA, sondern auf die Position des offiziellen Berlins, das überzeugt ist, die skandalöse Pipeline trotzdem in Betrieb genommen sein soll.

Noch vor einem halben Jahr war die Haltung der BRD-Führung kategorisch und alternativlos, und Washington wurde von Berlin eine eklatante Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Europäischen Union vorgeworfen. In den letzten Monaten wurden die Äußerungen der Bundeskanzlerin und anderer Politiker vorsichtiger und versöhnlich-neutral. Kurz gesagt, Frau Merkel besteht darauf, dass die BRD weder ein politischer Verbündeter noch ein wirtschaftlicher Lobbyist für Russland ist, und dass NS2 ein rein rationales Projekt ist, das den Zielen der Versorgungsdiversifizierung der Energieträger der EU im Ganzen und Deutschlands im Besonderen entspricht.

Natürlich erwartete niemand eine solch eklatante Lüge von der führenden Politikerin des alten Kontinents, die seit 2012 die EU-Staats- und Regierungschefs von der Notwendigkeit überzeugt hat, Tausende Flüchtlingen aus Afrika und dem Nahen Osten bedingungslos zur sozialen Gewährleistung aufzunehmen. Dabei operierte Frau Merkel mit Kategorien wie humanitäre Werte, Schutz der demokratischen Grundlagen und Achtung der Menschenrechte und Freiheiten. Es ist bemerkenswert, dass der schärfste Dialog über die EU-Migrationspolitik zwischen Deutschland und den Ländern Mittel- und Osteuropas stattfand, die wegen finanziellen und wirtschaftlichen Probleme weigerten, Flüchtlinge aufzunehmen. Damals versuchten deutsche Politiker, ihre Europäische Kollegen zu beschämen, indem sie argumentierten, dass die EU-Mitgliedschaft nicht nur sorgfältige Haushaltsausgaben, sondern auch den Schutz menschlicher Werte und demokratischer Freiheiten bedeutet.

Als jedoch eine Debatte über die politische Unzweckmäßigkeit des Baus der NS2-Pipeline entsprang, vergaß die deutsche Regierung plötzlich den Diskurs über Demokratie und ihre Werte. Als Reaktion auf die Appelle Polens, der Slowakei, der baltischen Staaten, den Bau von NS2 aus schwerwiegenden Gründen nicht zu beginnen, versuchten deutsche Politiker, alle davon zu überzeugen, dass sie ausschließlich von engen wirtschaftlichen Kategorien befolgen und baten darum, sich solche abstrakten Fragen wie die Werte der westlichen Zivilisation und die Ablehnung des russischen Autoritarismus nicht zu erinnern.

Andere europäische Länder solche Argumente vorbringen:

das Projekt ist mit der allgemeinen Politik der Diversifizierung der Energiequellen für die EU unvereinbar, da bereits jetzt bis zu einem Drittel das Erdgas in die EU aus Russland liefert. Natürlich wird nach dem Start von NS2 der Anteil Russlands am EU-Gasmarkt noch weiter steigen;

das Projekt ist mit der Demonopolisierungspolitik unvereinbar. Das verstößt gegen EU-Recht, nämlich gegen das Dritte Energiepaket (gegen jegliche Monopole richtet);

das Projekt wird zu einer spürbaren Erhöhung der Lobbying-Kapazitäten von Gazprom in der EU führen;

das Projekt wird zu einer fühlbaren Steigerung der Gazprom Gewinne führen. Dabei ist zu bedenken, dass Gazprom in einem autoritären Land keine klassische Aktiengesellschaft ist, sondern eine "Handtaschenfirma" für den russischen Präsidenten und seine Clique. Dementsprechend wird das Gewinnwachstum von Gazprom nicht zur Versorgung entlegener Regionen Russlands (Ural, Sibirien, Ferner Osten) mit Gas führen, sondern zur Stärkung des persönlichen Regimes von Putin und zur Finanzierung seiner aggressiven Außenpolitik;

ausgehend vom vorherigen Punkt stärkt NS2 Russland und erhöht automatisch die Spannungen in einer Reihe von postsowjetischen Staaten: den baltischen Staaten, Weißrussland, der Ukraine (Krim, Donbass), Moldawien (Transnistrien), Aserbaidschan (Berg-Karabach), Georgien (Abchasien, Süd-Ossetien), Kasachstan (die nördlichen Regionen);

überhaupt stellt NS2 als Projekt des aggressiven neoimperialistischen Russlands eine Bedrohung für die EU-Außenpolitik sowie für die Sicherheitspolitik der NATO und der Europäischen Union dar. Vor diesem Hintergrund bezeichnete der ehemalige polnische Diplomatie Chef Radoslaw Sikorski das Moskau-Berlin-Abkommen an NS2 als "derzeitigen Molotow-Ribbentrop-Pakt".

Als Reaktion auf das Argument des hypothetischen Mangels von "blauem Brennstoff" für den deutschen Inlandsbedarf schlug der derzeitige polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki der BRD-Regierung vor, Gas aus den (bestehenden und potenziellen) Möglichkeiten Polens zu nutzen. Erstens ist die Rede von dem bereits in Betrieb befindliche Empfangsterminal für verflüssigtes Erdgas (LNG) im Ostseehafen von Swinemünde (Swinoujscie). Heute liefert es 5 Mrd. m³ pro Jahr, bald soll es auf 8,3 Mrd. m³ erweitert werden, und bei Bedarf kann die Regasifizierungskapazität auf 10 Mrd. m³ jährlich erhöht werden. Dieses Terminal empfängt seit mehreren Jahren erfolgreich Gas aus Norwegen, Katar, Trinidad und Tobago, Nigeria und den USA.

Zweitens baut Polen nun ein weiteres Gasterminal im Golf von Gdańsk (sog. FSRU - floating regasification unit) mit einer Kapazität von bis zu 2 Mrd. m3.

Drittens setzen Warschau und Kopenhagen die Verlegung der Baltic-Pipe-Pipeline auf dem Grund der Ostsee fort, die Gas aus den Lagerstätten auf dem norwegischen Schelf nach Dänemark und Polen bringen wird. Die Pipeline soll am 1. Oktober 2022 technisch in Betrieb genommen werden, die kommerziellen Lieferungen sollen am 1. Januar 2023 beginnen. Die jährliche Kapazität der Pipeline wird 10 Mrd. m³ betragen, und alle überschüssigen Gasmengen könnten nach Deutschland oder in die Tschechische Republik, die Slowakei und die Ukraine exportiert werden. Inzwischen hat die Europäische Kommission offiziell anerkannt, dass der Bau dieser Gaspipeline den Zielen der EU-Energiepolitik (Steigerung des Wettbewerbs, Integration der Gasmärkte, Erhöhung der Versorgungssicherheit, geringe Emissionen) entspricht und 266,8 Mio. € für das Projekt Baltic Pipe bereitgestellt.

Natürlich ist es unwahrscheinlich, dass Polen einen allzu großen Gasüberschuss hat, aber es könnte das Gas aus Polen sicherlich als eine Art Sicherheitsnetz für die deutschen Verbraucher nutzen. Und dann sind da noch die LNG-Terminals in der deutschen Nachbarschaft von Rotterdam in den Niederlanden und Klaipeda in Litauen. Immerhin hat Frau Merkel grünes Licht gegeben, dass Deutschland ein eigenes LNG-Terminal im Hamburger Hafen bauen kann. Es ist also kein Geheimnis, dass die Kapazitäten in Deutschland ausreichen, um die heimischen Verbraucher zu befriedigen, aber Deutschland möchte nicht nur verbrauchen, sondern auch Erdgas weiterverkaufen und an den Re-Exporten hohe Dividenden verdienen.

Doch deutsche Politiker ignorieren diese Argumente aus internationalen Plattformen geflissentlich und spulen wie Mantras über "wirtschaftliche Sachlichkeit", "Energiesicherheit" und das "souveräne Recht auf Innenpolitik" herunter. Die Gründe für dieses Verhalten des deutschen Establishments sind klar - sie wollen reicher und mächtiger werden. Nicht sehr laut (aber hinter den Kulissen geflüstert) wird bei internationalen Treffen gesagt, dass der Start von NS2 zu solchen Konsequenzen führen wird:

der Preis für den "blauen Brennstoff" innerhalb der BRD wird deutlich gesenkt, außerdem kann Deutschland eine große Menge an überschüssigem Gas verfügen;

Deutschland wird solche Gastransitländer wie die Ukraine und Weißrussland loswerden (und die Notwendigkeit, sie für das Gaspumpen zu bezahlen), und wird selbst zum Haupttransitland für andere EU-Staaten werden. Die Transitroute Russland-Ukraine/Belarus-Mittelosteuropa wird durch eine andere Route ersetzt: Russland-Deutschland-Mitteleuropa;

Deutschland und Österreich werden mit ihrem ausgedehnten Netz von Erdgasleitungen und dem umfangreich bauenden unterirdischen Gasspeichern zu einer zentralen Erdgasdrehscheibe der Europäischen Union, mit allen damit verbundenen Konsequenzen: direkte Gaspreiseregulierung innerhalb der EU, erhöhte wirtschaftliche und politische Macht und höhere Gewinne;

Deutsche Gasunternehmen werden nach dem Start von NS2 die niederländischen, polnischen und slowakischen Konkurrenten früher oder später aus dem EU-Markt verdrängen;

mit der schrittweisen Erhöhung der Energieabhängigkeit der EU-Länder von Gaslieferungen durch Deutschland wird die strategische Bedeutung Deutschlands als größte Volkswirtschaft und mächtiges politisches Zentrum des gesamten alten Kontinents zwangsläufig zunehmen.

So beugen sich deutsche Politiker in Wahrheit vor dem Altar des wirtschaftlichen Gewinns und opfern dafür Ziele und Werte der EU und der NATO und stellen die Stärke und Wirksamkeit der transatlantischen Beziehungen zwischen Europa und Nordamerika in Frage.

democratic-europe.eu

Bürgerreporter:in:

Tom Weber aus Bodolz

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