Erinnerungen an die DDR - Aus der Sicht eines Westlers

Es war einmal...Doch es war kein Märchen, sondern Realität. Und diese Realität hatte, wie alle Märchen auch, ihre bösen Seiten.
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Es gab einmal eine Zeit, und die ist jetzt fast ein Vierteljahrhundert her, da gab es nicht nur ein Deutschland, sondern es gab zwei deutsche Staaten: die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik. Mit dem Bestand dieser beiden Länder bin ich aufgewachsen, und es war für mich, im Gegensatz zu meinen Eltern und Großeltern, Normalität. Für mich und auch die anderen jungen Menschen meines Alters war das andere Deutschland, die DDR, ein fremdes Land. Ja, es war mir sogar fremder als Länder wie z.B. Frankreich, Holland oder England, obwohl in ihnen keine Deutschen lebten, sondern Franzosen, Holländer und Engländer. Aber mit diesen Ländern hatten wir etwas gemeinsam. Ein politisches und wirtschaftliches System. Anscheinend bedeutet das mehr, als die gemeinsame Abkunft, die gemeinsame Sprache oder sogar die gemeinsame Verwandtschaft.
Auch in der Schule lernten wir von diesem anderen Deutschland nicht sonderlich viel. Städtenamen wie Dresden, Rostock, Magdeburg oder Karl-Marx-Stadt, heute wieder Chemnitz, waren uns zwar geläufig. Wo sie aber lagen, das wussten wir kaum.
In meinen Augen gehörte die DDR eben zur Sowjetunion. Sie war einer ihrer Satellitenstaaten. Wir hingegen gehörten zu den USA und den Staaten Westeuropas. Zwar waren wir in dieses Staatensystem eingebunden, hatten jedoch Freiheiten und konnten im Großen und Ganzen das tun und machen, was wir wollten. Das war mit der DDR anders. Ihr wurde von der Sowjetunion klar diktiert, was sie zu tun und zu lassen hatte, auch wenn sie zum Schluss ihrer Existenz etwas mehr Freiraum erhielt. Doch am Ende wollte sie sogar noch kommunistischer sein als die Sowjetunion selber.
Die DDR war nicht nur in geographische Grenzen eingepfercht, sondern auch in gedankliche. Das machte den Unterschied zwischen uns aus. Wir hatten nach dem Zweiten Weltkrieg das Glück, von den westlichen Alliierten besetzt worden zu sein. Ostdeutschland hingegen hatte in unseren Augen und wohl auch aus dem Blickwinkel der meisten Bewohner der DDR das Pech, dass in ihre Zone die Russen einmarschierten. Doch daran war, trotz kleiner Fortschritte im Laufe der Jahrzehnte in den Beziehungen von West- und Ostdeutschland zueinander, vorerst nicht zu rütteln. Jeder musste oder durfte sich mit seinem Schicksal abfinden.
So verlief also mitten durch Deutschland eine Grenze, die nicht nur Deutschland, sondern einen Großteil der Welt in Ost und West aufteilte. Zwei Systeme standen sich an dieser Linie unerbittlich gegenüber, bis an die Zähne bewaffnet. Jeder dazu bereit den anderen, wenn es sein musste, durch einen gezielten Schlag seines riesigen Nuklearwaffenarsenals zu vernichten. Natürlich wissend, dass es einen selber dann auch mehr oder weniger vernichten würde.
Es gab sogar gefährliche Situationen zwischen den beiden Systemen. Etwa 20 an der Zahl sollen es gewesen sein, in denen die Welt am Abgrund stand. So wäre es im Jahr 1962 fast zu einem Atomkrieg gekommen, als die Sowjetunion ihre Atomraketen direkt vor der Haustür der USA auf Kuba stationierten und die Amerikaner ihre Flottenverbände dorthin in Bewegung setzten. Gott sei Dank konnte der nukleare Krieg, als die Sowjets einlenkten, obwohl ihrerseits die Amerikaner vor ihrer Haustür, in der Türkei, Atomraketen stationiert hatten, um Haaresbreite vermieden werden.
Ein anderes Mal - es war im Jahr 1963 - hatte ein sowjetischer Spionagesattelit den Anflug amerikanischer Atomraketen gemeldet. Doch der wachhabende sowjetische Offizier widersetzte sich dem Befehl den Knopf zu drücken und damit einen Automatismus einzuleiten, der den Gegenschlag ausgeführt hätte. Später wurde er deswegen zur Rechenschaft gezogen und bestraft. Doch er hat damit einen Atomkrieg verhindert. Ein Satellit hatte in der der Atmosphäre reflektierende Sonnenstrahlen fehlinterpretiert. Andere Beispiele, die einen Satelliten irreführten, die man kaum glauben mag, waren ein großer Schwarm Gänse oder ein aufgehender Vollmond.

Der Kalte Krieg, wie dieses sich Gegenüberstehen der beiden Systeme genannt wurde, in dem in der BRD von der Politik die Angst vor dem Osten geschürt wurde, in der DDR die Angst vor dem Westen, um das gigantische Aufrüsten vor der eigenen Bevölkerung zu legitemieren, was auch gelang, wobei die USA immer einen Schritt voraus war, so dass die Sowjets nachziehen mussten, zog sich über vier Jahrzehnte hin. Doch davon will ich an dieser Stelle nicht berichten. Darüber kann man in jedem Geschichtsbuch nachlesen. Ich will davon erzählen, wie ich die beiden deutschen Länder gesehen, erlebt und empfunden habe, und wie es dabei im ganz Alltäglichen zuging. Und das beschreibe ich aus meiner ganz persönlichen Sichtweise, und die muss nicht unbedingt stimmen. Andere haben es vielleicht anders gesehen und erlebt, und die Realität war vielleicht doch eine etwas andere. Sehr interessant wäre auch die Gegendarstellung eines ehemaligen DDR-Bürgers, wie er damals die BRD gesehen hat.

Dieses schreibe ich auf, damit es nicht in Vergessenheit gerät. Denn wie schnell gewöhnt man sich an eine neue Situation, und die alte ist bald in weite Ferne gerückt. So wie noch bis vor 24 Jahren zwei deutsche Länder Normalität waren, so ist es heute ein vereintes deutsches Land, und Städtenamen wie Leipzig oder Rostock sind mir genauso vertraut wie Köln oder Hamburg.

Das andere Deutschland

Was kam mir nun an der DDR, die wir Ostzone nannten, anders vor als in unserem Land. Ich habe oft überlegt, ob sich die Menschen dort wie Eingesperrte fühlen würden, oder ob sie ein Gefühl von Freiheit hatten, so wie wir. Schließlich konnten sie nicht nach Italien oder Österreich in den Urlaub fahren. Immerhin durften sie ihre östlichen Nachbarn besuchen. So waren ihre Reiseländer Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn und auch die sowjetische Hauptstadt Moskau. Normalerweise machten die DDR-Bürger allerdings im eigenen Land Urlaub, in den beliebten Heimen des FDGB, des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, oder die Kinder und Jugendlichen in den FDJ-Heimen der Freien Deutschen Jugend.
Nun konnten sie nicht so ohne weiteres dorthin fahren, wohin sie vielleicht wollten. Ich weiß nicht, ob sie diesbezüglich Wünsche äußern konnten. Aber meines Wissens wurde ihnen ihr Urlaubsziel zugeteilt. Häufig lagen die Urlaubsorte im Grenzbereich und so gab es dort zusätzliche Auflagen. Wie wir nach der Wende beim Ostseeurlaub auf dem Darß erfuhren, durften die Urlauber abends ab einer bestimmten Zeit den Strand nicht mehr betreten. Die Fluchtgefahr wäre zu groß gewesen. Luftmatratzen oder andere Schwimmhilfen durften nicht mit an den Strand genommen werden. Trotzdem gelang etlichen Flüchtlingen die Flucht über das Meer. Ihr Einfallsreichtum kannte dabei keine Grenzen. Sie versuchten die großen Schifffahrtsrouten oder die dänischen Inseln zu erreichen. So mancher Fluchtversuch wurde dabei vereitelt und auch so mancher Flüchtling fand dabei den Tod. Hatten die DDR-Bürger jedoch das Rentenalter erreicht, so durften sie ungehindert ausreisen. Blieben sie im Westen, so sparte der eigene Staat die Rente.
In späteren Jahren gab es jedoch auch Erleichterungen. Allerdings durch Milliardenkredite der reichen Bundesrepublik teuer erkauft. Zu bestimmten Anlässen durften auch jüngere Menschen ihr Land verlassen, z.B. bei Todesfällen naher Verwandter. Die DDR hatte dabei natürlich immer ein Faustpfand in der Hinterhand. Es konnten ja nie ganze Familien ausreisen, sondern immer nur Einzelpersonen. Und wer hätte schon seine Familie im Stich gelassen. Das waren nur einige wenige. Das konnte in Kauf genommen werden.
Auch wir bekamen Besuch aus der Ostzone. In den Siebzigerjahren kam eine Tante aus Blankenburg zu uns. Wie staunte sie, als sie zum ersten Mal in den Westen kam. Und so ging es wohl allen DDR-Bürgern. Natürlich sahen sie Westfernsehen, vielleicht bis auf die Dresdener, die durch ihre geografische Lage im Tal der Ahnungslosen lebten. Und sie sahen es, obwohl es in den früheren Jahren verboten war, genauso wie das Hören des Westradios. Trotzdem taten es alle, die es empfangen konnten. So hatten die DDR-Bürger also schon Einblicke in die westliche Welt. Doch was sie bei einem Besuch in der Bundesrepublik dann sahen, das hatten sie dann wohl doch nicht so erwartet. Jedenfalls bei unseren Verwandten war es so. Die Vielfalt der ordentlich renovierten Häuser. Breite, glatt asphaltierte Straßen mit dichtem Verkehr. Die vielen Autos an den Straßenrändern. Jeder konnte sich ein Auto sofort und nach Belieben kaufen und musste keine 12 oder 16 Jahre darauf warten. Jeder hatte ein Telefon. Und natürlich die Einkaufmöglichkeiten. Schokolade fünfmal so billig wie im eigenen Land. Südfrüchte zu jeder Jahreszeit. Fleisch in Hülle und Fülle, nachdem man nicht anstehen musste. Kaffee und Kakao zu günstigen Preisen und unendlich viele andere Sachen, die es drüben nur in den Intershop-Läden gegen harte Westwährung zu kaufen gab. Und so viele Dinge gab es drüben überhaupt nicht. Das alles musste den DDR-Bürgern wie im Paradies erscheinen. Nun sahen sie alles das, was sie sonst nur aus den Weihnachtspaketen und der Westwerbung im Fernsehen kannten und noch viel mehr.

Wohl fast jeder Mensch im Westen, der Verwandte in der Ostzone hatte, schickte ihnen zu Weihnachten ein Paket. Da waren all die leckeren Sachen drin, die es drüben nicht zu kaufen gab. Wir können uns heute kaum vorstellen, wie sich unsere Verwandten darüber gefreut haben.
Allerdings wurden aus Kontrollgründen viele Pakete geöffnet und auf ihren Inhalt hin überprüft, denn es durften nicht alle Waren in den Osten geschickt werden. Alles was so liebevoll verpackt war, wurde dabei durcheinander geworfen. Auch erreichten viele Dinge ihren Empfänger nicht. Die DDR-Zöllner waren auch nur Menschen und wollten ihren Familien ebenfalls ein schönes Weihnachtsfest bieten. Was lag da näher, als aus den Millionen Paketen einiges zu entwenden.
Ich erinnere mich an ein Weihnachtsfest, an dem mein Großvater einen bitterbösen Brief von seiner Cousine aus Timmenrode erhalten hatte. Der Inhalt ihres Paketes war völlig durcheinander geraten und sie wollte später nicht glauben, dass es die DDR-Zöllner gewesen waren, die dieses heillose Durcheinander verursacht hatten.
Da die Post zur Weihnachtszeit völlig überlastet war und die Pakete diverse Tage unterwegs waren, mussten sie lange vor dem Fest aufgeben werden und man hoffte immer, dass ein Teil des Inhaltes nicht verdarb. Deshalb wurden Südfrüchte in unreifem Zustand verschickt.
Ich weiß gar nicht, ob es in der DDR einen zweiten Weihnachtstag gab. Da das Regime mit der Kirche nichts zu tun haben wollte, wurden einige kirchliche Feiertage abgeschafft.
Am Heiligabend stellten bei uns in Westdeutschland viele Menschen brennende Kerzen in ihre Fenster. Zum Gedenken an die Brüder und Schwestern in der Ostzone. Auch bei uns war das üblich.
So kamen also, wie sich jeder denken kann, die Verwandten von drüben gern in den Westen zu Besuch, auch wenn sie sich dabei vielleicht etwas ärmlich vorkamen. Um wie vieles anders war es jedoch, wenn wir in die Ostzone reisten. Doch davon will ich an späterer Stelle berichten. Zunächst lernte ich in meiner Kindheit das andere Deutschland nur aus dem Fernsehen kennen. Das waren die Bilder von Fluchtversuchen an der Grenze, vom Mauerbau in Berlin, vom Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht, von den großen Militärparaden am 1. Mai in Ostberlin, bei denen die gesamte Politprominenz auf der Ehrentribüne saß, und natürlich die immer wiederkehrenden Bilder des 17. Juni.
Damals versuchte sich ein Teil des DDR-Volkes gegen das eigene Regime aufzulehnen. Blutig wurde der Aufstand niedergeschlagen. Panzer rollten durch die Menge. Es gab viele Tote. Dieser Tag wurde in der Bundesrepublik zur Erinnerung an dieses schwarze Ereignis zum Feiertag erklärt.
Aber wir sahen die Bilder aus der DDR nicht nur im Westfernsehen. Wir konnten auch das Ostprogramm empfangen. Unser Vater stellte es manchmal an, und wir sahen es natürlich, wenn wir in der Ostzone zu Besuch waren.
Die DDR-Nachrichten, die Aktuelle Kamera, konnte man als solche kaum bezeichnen. Sie berichteten in erster Linie über die Erfüllung des Plansolls, von den Ernteeinsätzen auf den riesigen Feldern und den einfachen Fabrikarbeitern, die alles gaben, um die gesteckten Ziele zu erreichen und lobten und priesen ihr Land in den allerhöchsten Tönen. Dabei wusste jeder DDR-Bürger, dass die Zahlen des Plansolls nicht annähernd den Tatsachen entsprachen. Sie wurden, wo es nur ging, genauso manipuliert wie die Wahlergebnisse. Die eigentliche Weltpolitik wurde nur am Rande behandelt und auch das nur, wie alle Sendungen im DDR-Fernsehen, mit hinreichender Zensur.
Eine Sendung jedoch ist mir ganz besonders im Gedächtnis haften geblieben. Es war die Politsendung "Der Schwarze Kanal". Der DDR-Chefagitator Karl-Eduard von Schnitzler konnte darin nach Herzenslust über die Bundesrepublik herziehen. Und das tat er genüsslich und mit Inbrunst. Das er nach der Wende in Westdeutschland und damit im "Kapitalismus", den er doch so verurteilt hatte, sehr gut lebte, das ist eine andere Geschichte.
Es gab aber auch Sendungen, die wir Kinder im Ostzonenfernsehen sehr gern sahen. Dazu gehörte das Sandmännchen, das viel besser war als bei uns im Westen. Eine andere Sendung, die Sonnabendnachmittags ausgestrahlt wurde, war Meister Nadelöhr. Er war ein Schneider, der einige Puppen als Freunde hatte: die Ente Schnatterienchen, Pittiplatsch den Lieben, der immer irgendwelche Dummheiten ausheckte und einen Hund und einen Fuchs, deren Namen ich vergessen habe. Auch Professor Flimmerich, der Montagnachmittag gesendet wurde und der immer spannende Kinderfilme vorführte, sahen wir sehr gern. Damals hatten wir nämlich im Westen erst ein Fernsehprogramm, die ARD, und so kam uns das Ostzonenprogramm als Ergänzung sehr gelegen.

Später dann, in den achtziger Jahren, waren es DDR-Musikgruppen, die uns Westler begeisterten und die es bei uns in Westdeutschland in dieser Art noch nicht gab. Ob Pudhys, Karat oder City, wir waren Fans von diesen Bands. Den "Albatros", "Über sieben Brücken musst du gehn", "Alt wie ein Baum" oder "Am Fenster" live zu hören und zu erleben, waren für uns absolute Höhepunkte. Mehrere Male war ich in Konzerten dieser Gruppen.
Zwar ließ man diese nicht gern ausreisen, da immer die Gefahr bestand, dass sie in der BRD blieben. Doch andererseits brachten sie westliche Devisen ins Land, und die wurden bitter nötig gebraucht.

An der deutsch-deutschen Grenze

Doch ich kannte die Ostzone damals nicht nur aus dem Fernsehen. Da meine Großmutter auf Gut Radau wohnte, in der Nähe von Bad Harzburg und damit Luftlinie nur fünf Kilometer von der Zonengrenze entfernt, hatten wir häufiger die Gelegenheit, sie aus allernächster Nähe zu betrachten. Wir fuhren dann mit dem Fahrrad nach Eckertal, dem bekanntesten Grenzübersichtspunkt im Raum Bad Harzburg. Von einem Aussichtsstand konnten wir über die Ecker nach Stapelburg hinübersehen, das kaum mehr als hundert Meter entfernt war.
Gleich im ersten Haus des Ortes wohnte eine Frau, deren Schwester in Eckertal lebte. Sie konnten sich also ohne weiteres sehen. Wollte jedoch die Frau aus Eckertal ihre Schwester besuchen, so musste sie über Duderstadt oder Marienborn zu ihr reisen. Eine Strecke von über 100 km. Ein Gegenbesuch war nicht möglich.
In Eckertal lebte auch eine Schwester unseres Großvaters. Ihr Garten führte bis an den Fluss. An einem heißen Sommertag zogen wir unsere Schuhe aus und wateten durch die flache Ecker bis zum anderen Ufer hinüber. Da die Bachmitte Grenze war, war ich auf diese Weise zum ersten Mal in meinem Leben in der Ostzone. Uns Kindern war dabei schon etwas unheimlich zumute, denn es hätte ja sein können, dass irgendwo im Gesträuch DDR-Grenzer lauerten.
Nach Eckertal kamen viele Touristen. Auch Holländer und Dänen, die gern im Harz Urlaub machten, da es in diesen Ländern bekanntlich keine Berge gibt. Auch sie wollten die Zonengrenze sehen. In einem Schaukasten wurden die Grenzsicherungsanlagen erläutert: Die eigentliche Grenzlinie war fast unsichtbar. Sie wurde durch kleine weiße Holzpfähle markiert, die etwa alle 50 Meter in den Boden gesetzt waren. Für uns war es ein Leichtes, einen Schritt darüber zu tun. Und mit unseren Fahrrädern fuhren wir den Feldweg entlang, der parallel zu dieser Linie entlangführte. Das war schon irgendwie eigenartig.
Etwa drei Meter hinter dieser Grenze standen schwarz-rot-gold gestrichene Betonpfähle mit dem DDR-Emblem darauf, das Hammer, Zirkel und Ährenkranz zeigte. Ca. 30 Meter weiter kam der erste Grenzzaun. In früheren Jahren bestand er aus Stacheldraht. In den sechziger Jahren wurde er durch einen engmaschigen, etwa vier Meter hohen Metallzaun ersetzt. Nur wenige Meter weiter stand ein zweiter solcher Zaun. Auf dessen uns entgegengesetzten Seite waren zeitweise Selbstschussanlagen angebracht. Wollte ein Flüchtling den Zaun überwinden, wurde dieser Mechanismus durch Berührung eines Drahtes in Gang gesetzt. Scharfkantige Metallstücke wurden mit streuender Wirkung abgeschossen. Erst durch Druck der Bundesrepublik, indem diese drohte dringend benötigte Kredite zu verweigern, wurden diese wieder abgebaut.
An manchen Grenzabschnitten gab es auch scharf abgerichtete Schäferhunde, die an langen Laufleinen einen Abschnitt bewachten. Wiederum dahinter kam eine breite, kahle Fläche, die mit unzähligen Minen bestückt war. Sie konnte von den Wachtürmen, die in einem Abstand von etwa 500 Metern standen, gut eingesehen werden. Zusätzlich gab es Bunker. Nachts wurden manche Grenzabschnitte mit Scheinwerfern beleuchtet. Wir konnten einen dieser Abschnitte von unserem Haus auf Gut Radau aus sehen. Er lag vor Abbenrode.
Ein ganzes Stück hinter dieser Hauptgrenze kam die Vorgrenze. Sie bestand wiederum aus einem hohen Zaun. Viele Flüchtlinge wähnten sich bereits im Westen, wenn sie dieses Hindernis überwunden hatten. Doch die größten Schwierigkeiten lagen noch vor ihnen.
Natürlich wurde alles von Grenzsoldaten überwacht. Die Türme waren ständig besetzt. Wie oft haben wir die Soldaten mit dem Fernglas beobachtet, wenn sie ihrerseits mit einem Feldstecher zu uns herüber schauten. Ständig gingen regelmäßige Patrouillen die Grenze entlang. Sie bestanden immer aus zwei Soldaten, damit einer den anderen überwachen konnte. Natürlich mit Gewehren, um jederzeit auf Flüchtlinge schießen zu können. Dann gab es noch Patrouillen von Offizieren, die auf unserer Seite die Grenze völlig unregelmäßig abschritten, sodass sie nicht berechenbar waren. Selber bin ich solchen NVA-Offizieren einmal begegnet, die auf der Westseite der Grenzanlagen, einem etwa 50 Meter breiten Streifen, direkt an der Grenze standen, die ja nicht viel mehr als eine gedachte Linie war und die nur durch in größeren Abständen stehende kleine weiße Pfähle markiert war, und sich mit Polizisten des Bundesgrenzschutzes wie mit Kollegen unterhielten. Es müssen Hundertfünzigprozentige gewesen sein, denn ein Schritt hätte für sie genügt, um in der BRD zu sein.

Nur wenige Schritte sollten es auch für einen Bekannten von mir sein, der 1967 einen Fluchtversuch unternahm. Es war bei Hohegeiß im Harz. Als 21jähriger junger Mann war er mit einem Leutnant und einem zweiten Soldaten dazu eingeteilt, die Grenzpfosten mit dem DDR-Emblem, die jenseits der Befestigungsanlagen standen, zu kontrollieren, ob sie, was immer wieder geschah, vom Klassenfeind beschmiert oder beschädigt worden waren. Diese Gelegenheit nutzte er, rannte spontan los und hatte schon nach wenigen Metern die eigentliche Grenze hinter sich gelassen, die Sperranlagen im Rücken. Er rannte über die Bundesstraße 4 hinüber in den westdeutschen Wald hinein. Doch er wurde, ca. 150 Meter auf BRD-Gebiet, verfolgt. Als er hinter sich ein Knacken hörte, hielt er im Laufen inne und drehte sich um. Er sah seinen Leutnant, der seine Kalaschnikow hob, der mit dem zweiten Soldaten widerrechtlich BRD-Gebiet betreten hatte. Drei Schüsse von der Salve trafen ihn in der Brust, einer in einen Oberarm. Zwei schlugen durch. Trotzdem konnte er noch Widerstand leisten, wurde dann aber mit einem Gewehrkolben niedergestreckt und blutüberströmt und lebensgefährlich verletzt auf DDR-Gebiet zurückgetragen.
Nach langem Krankenhausaufenthalt, kam er anschließend für vier Jahre ins Zuchthaus Hohenschönhausen bei Berlin. Wie es da zuging, ist allgemein bekannt. Härteste körperliche Bedingungen und Psychofolter musste er über sich ergehen lassen. Man kann als Außenstehender vielleicht erahnen, wie unendlich lang da vier Jahre werden können. Dann wurde er von der Bundesrepublik freigekauft. So wie fast 34.000 andere auch, für die die BRD zunächst durchschnittlich 40.000 DM pro Gefangenen an die DDR überwies. Später wurden rund 96.000 DM daraus. Es war ein unwürdiges Geschacher um Menscheleben, auf das die DDR aber angewiesen war, benötigte sie doch dringendst Devisen. Immerhin die gigantische Summe von fast dreieinhalb Milliarden Mark nahm sie dadurch ein.
Die beiden ehemaligen DDR-Grenzer, die Wolfensteller völkerwiderrechtlich zurückgeholt hatten, wurden nach der Wende in einem Prozess zu Bewährungsstrafen verurteilt.

Eine andere Geschichte ist die eines Verwandten von mir. Von Magdeburg aus gelang ihm zusammen mit einem Freund 1962 bei Marienborn die Flucht, indem sie auf einen langsam fahrenden Zug der Amerikaner, der zwischen Westberlin und der Bundesrepublik pendelte, aufspringen konnten. Als mein Verwandter den Tritt erreicht hatte und die Tür aufreißen wollte, war die jedeoch verschlossen. Sein Freund hatte es jedoch an der Tür davor geschafft. Also sprang er wieder ab, rannte auf dem Schotter wie um sein Leben und erreichte schließlich mit allerletzter Kraft diese ebenso. Die GIs staunten nicht schlecht, als die beiden plötzlich im Abteil vor ihnen standen. Dann wurden sie gefragt, ob sie bei ihrer Flucht gesehen worden wären. Sie verneinten, obwohl sie sich nicht ganz sicher waren. Es war nämlich schon vorgekommen, dass ein Zug der Amerikaner viele Stunden festgehalten wurde, so lange, bis der Flüchtling ausgeliefert wurde. Doch die beiden hatten Glück. Niemand hatte sie bemerkt. Und dann erfuhren sie auch noch das für sie Unglaubliche, denn im ganzen Zug ließ sich nur eine einzige Tür von außen öffnen. Die Amis feierten sie wie Helden.

Trotz der fast unüberwindlichen Grenzbefestigungsanlagen gelang vielen DDR-Bürgern die Flucht. Ihrer Phantasie waren dabei keine Grenzen gesetzt. Die meisten überwanden bei Nacht die Sperranlagen. Einigen gelang es zusammengekrümmt in Pkws. Manche gruben Tunnel. Einmal gelang die Flucht mit einem Ballon, ein anderes Mal mit einem Flugzeug. Und dann gab es auch noch die Fluchthelfer aus dem Westen, die DDR-Bürger auf verschiedensten Wegen aus dem Land schleusten. Dass das auch für die Fluchthelfer selber von großer Gefahr war, zeigt die Kopie einer Stasi-Akte, die mir ein Leser dieses Berichtes, ein ehemaliger DDR-Bürger, zugesandt hat. In dieser wird in nüchternem Beamtendeutsch beschrieben, wie der Fluchthelfer Rudi Thurow, einst Unteroffizier der NVA, der desertiert und aus Ostberlin über die Mauer geflüchtet war, entführt werden sollte, um so seiner "gerechten" Strafe zugeführt werden zu können. Als dieses jedoch nicht gelang, wurde die Lequidierung beschlossen. In einer Parkanlage sollte Thurow im Schutz der Dunkelheit von einem professionellen Killerkommando der Stasi hinterrücks mit einem Hammer erschlagen werden. Dabei sollte der Tote so hergerichtet werden, dass es wie ein Raubmord aussah. Doch dieser Mordanschlag gelang, wegen vorbeikommender Passanten, ebenfalls nicht. 

Vielen Menschen gelang aus der DDR die Flucht. Doch viele andere schafften es auch nicht. Im günstigen Fall wurden sie festgenommen. Andere wurden schwer verletzt oder sogar erschossen. Die Gesamtzahl der Toten (ein Teil davon auch an der Ostsee und den Grenzen der anderen solzialistischen Nachbarländer) soll fast 1.300 betragen.

Diese Grenze nun und das Wissen darüber, hatten wir oft vor Augen. Nicht nur bei Eckertal. Auch bei Abbenrode oder oben im Harz. Sie bot einen schaurigen Anblick, aber war für uns Kinder auch irgendwie normal. Wir waren damit aufgewachsen und konnten uns kaum vorstellen, dass das da drüben einmal zu unserem Land gehört hatte.
Manchmal wanderten wir auch zur Wernigeröder Bank, einem Aussichtspunkt hoch über dem Eckertal gelegen. Von dort konnten wir weit in die Ostzone hinein blicken. Unten und nicht weit entfernt lag Ilsenburg mit seiner Hütte und den hohen, rauchenden Schornsteinen. Weiter hinten lag Wernigerode, die Bunte Stadt am Harz, wie sie Hermann Löns nannte. Sogar das Schloss konnten wir am Hang über der Stadt ausmachen. Und dann dachten wir an unsere Verwandten, die in Blankenburg und Timmenrode lebten, Orte, die von den Harzbergen verdeckt wurden.
Auch den Brocken hatten wir ständig vor Augen. Manchmal war er uns ganz nah. Etwa vom Torfhaus, vom Achtermann oder ganz besonders vom Wurmberg bei Braunlage. Doch er war selbst für DDR-Bürger unerreichbar. Die Sowjets hatten seinen Gipfel besetzt. Mit großen Horchanlagen lauschten sie von dort weit in den Westen hinein. Doch auch der Westen hatte auf einigen Harzbergen seine militärischen Horchstationen eingerichtet. Z.B. auf dem Stöberhai bei Bad Sachsa, dem Schalke bei Hahnenklee oder auf dem Wurmberg, unweit der Sprungschanze. Kurioserweise bekam dieser einhundert Meter hohe Horchturm der Amerikaner, vollgestopft mit allermodernster Elektronik, seinen Strom aus Schierke, also aus der Ostzone. Dafür war die Horchstation der Sowjets auf dem Brocken, die den Tarnnamen „Jenissej“ trug, mit der Technik der Firma Siemens ausgerüstet, die über den Umweg Frankreich bezogen wurde.
Mit Hilfe dieser technischen Anlagen, mit denen der ganze Grenzverlauf bestückt war, konnten sich also beide Seiten genauestens beobachten und belauschen. Keine Militärbewegung und kein eventueller Angriff mit Atomraketen wäre ihnen entgangen. Doch nicht nur beobachten konnten sie. Sie waren natürlich auch zum Erst- oder Gegenschlag bereit. Überall in Deutschland, ob West oder Ost, waren Atomraketen stationiert. Sicherlich nahe der Grenze. Ich weiß aber auch, dass auf Velmerstot, dem höchsten Berg des Teutoburger Waldes, Atomraketen ihren Standpunkt hatten.
Wenn ich heute so darüber nachdenke, dann ist es mir unverständlich, wie sich intelligente Wesen, die die Menschen sind oder doch zumindest sein wollen, so unvernünftig gegenüber stehen können. Ein Knopfdruck hätte gereicht, um das Leben auf der Erde zum Großteil auszulöschen.
Diese Grenze hatten wir nun ständig vor Augen, wenn wir in den Ferien auf Gut Radau waren. Doch damals, in meiner Kindheit, sahen wir Kinder das alles nicht so dramatisch. Für uns war es eben normal, dass Deutschland zweigeteilt war und wir betrachteten die Menschen da drüben gar nicht als richtige Deutsche. Das sollte sich jedoch ändern, als ich zum ersten Mal die Ostzone besuchte.

Reisen in die Ostzone

Meine Eltern kamen aus dem Harzraum. Meine Mutter von Gut Radau, mein Vater war in Blankenburg geboren und hatte seine Kindheit in Nordhausen verlebt. Drei meiner Großeltern kamen aus dem östlichen Harzgebiet, also aus dem Gebiet der späteren DDR. So kam es also, dass wir viele Verwandte in der Ostzone hatten. Und was lag da näher, als sie immer mal wieder zu besuchen.
Ich hatte von meinen Eltern und Großeltern vieles über die Schönheiten des Ostharzes gehört, der viel mehr zu bieten hatte als unser Westharz: Die wunderschönen Fachwerkstädte Wernigerode, Blankenburg, Stollberg und Quedlinburg. Die Rübeländer Tropfsteinhöhlen. Die große Bodetalsperre. Das Selketal mit Burg Falkenstein, auf der Eicke von Repgow den Sachsenspiegel verfasste, das erste deutsche Rechtsbuch. Die Teufelsmauer und Burg Regenstein bei Blankenburg. Den Kyffhäuser mit dem Barbarossadenkmal und natürlich das Bodetal mit den berühmten Felsen von Rosstrappe und Hexentanzplatz, der wohl eindrucksvollsten und grandiosesten Landschaft des Harzes. All das sollte ich nun im Jahre 1967 - ich war damals 14 Jahr alt - zu sehen bekommen und ich freute mich riesig darauf.
Nun konnten wir natürlich nicht so ohne weiteres in die DDR einreisen. Um sich von der Bundesrepublik abzugrenzen und als eigenständiger Staat zur Geltung zu kommen, wurden die Einreiseformalitäten nicht leicht gemacht. Ein Reisepass war notwendig, ebenso ein Visum, das beantragt werden musste. Mein Onkel in Blankenburg erledigte das für uns.
Doch dann war es soweit. Natürlich war ich aufgeregt, denn ich hatte viel davon gehört, wie es an der Grenze zuging. Alles wurde gründlich untersucht. Manchmal wurden Reisende schikaniert. Auch meinem Großvater war es einmal so in hohem Alter ergangen. Zitternd vor Angst musste er sich in einem Nebenraum bis auf die Unterwäsche entkleiden.
Von Hannover ging die Fahrt mit dem Zug über Braunschweig und Helmstedt nach Marienborn. Dort befand sich der Grenzübergang. Es war nicht nur für mich aufregend. Ich denke, dass alle Mitreisenden angespannt waren.
Zunächst wurden unsere Pässe und Visa auf westdeutscher Seite vom Bundesgrenzschutz überprüft. Nachdem wir die Grenzbefestigungsanlagen passiert hatten, musste der Zug auf einem kleineren Bahnhof längere Zeit halten. Wir sahen aus dem Abteilfenster. Draußen patrouillierten DDR-Grenzer mit Schäferhunden. Der gesamte Zug wurde von allen Seiten genauestens untersucht. Ganz besonders von unten. Kein blinder Passagier sollte die Möglichkeit haben, sich dort zu verstecken. Besonders wurde darauf natürlich bei der Rückfahrt geachtet. Schließlich kamen DDR-Grenzer durch den Zug. Sie kontrollierten mit mürrischen Gesichtern Reisepass und Visum, sahen unter die Bänke und machten Stichproben im Gepäck. So mancher Koffer wurde durchwühlt. Manche Reisende mussten den Zug verlassen und wurden in einem Gebäude genauestens untersucht. Es war eine nervöse und angespannte Atmosphäre. Mehr oder weniger hatten wir alle ein schlechtes Gewissen. Vielleicht fanden sie doch etwas bei uns, das wir nicht hätten mitnehmen dürfen.
Als ich später mehrere Male mit dem Auto in die DDR reiste, wurde mein Auto sorgfältig durchsucht. Ich musste Kofferraum und Motorhaube öffnen und die Rückbank hochklappen. Mit Spiegeln wurde der Unterboden betrachtet. Die Liste wurde gelesen, in der ich alles aufgeführt hatte, was ich mitführte.
Einmal jedoch bemerkte ich erst kurz vor der Grenze, dass ich noch Musikcassetten im Auto hatte. Die durften nicht mitgenommen werden. Ein Teil versteckte ich unter den Fußmatten, eine andere in der Brusttasche meines Hemdes. Ich war der Meinung, dass es nicht auffallen würde, trug ich doch noch einen Pullover darüber. Doch ich täuschte mich. Natürlich war ich wegen dieser verbotenen Dinge besonders aufgeregt. Der Grenzer, der mich kontrollierte, zeigte zum Schluss auf meine Brusttasche. "Und was haben sie da drin?" Mir rutschte das Herz in die Hose. Ich zog die Kassette hervor. "Das nächste Mal lassen sie die aber zu Hause." Ich hatte Glück gehabt. Es hätte auch anders kommen können. Auch an diesem Ort gab es solche und solche Menschen.
Wie atmeten wir auf, wenn sich der Zug wieder in Bewegung setzte. Nun konnten wir uns entspannen. Mit dem Auto war bei mir jedoch immer eine leichte Anspannung da. Auf der Interzonenautobahn, die nach Berlin führte, musste man aufpassen. Die Geschwindigkeit von 100 km/h durfte man keinesfalls überschreiten. Westdeutsche wurden gern mit größeren Beträgen abkassiert. Sie brachten Devisen ins Land. Auch wurde von Volkspolizisten strengstens darauf geachtet, dass Berlinreisende die Transitstrecke nicht verließen. Ich hatte jedoch freie Fahrt, denn ich hatte ein Visum.
Die Autobahn wirkte etwas altmodischer als im Westen. Es war keine Asphalt-, sondern eine Betonplattendecke mit Absätzen darin. So war ein viel schnelleres Fahren auch gar nicht möglich. Außerdem war die Fahrbahn schmaler als bei uns. Standspuren gab es nicht.
Spätestens, wenn Magdeburg erreicht wurde, merkte man, dass man sich in einem ganz anderen Land befand. Die Straßen waren eng und holprig. Die Straßenbahnen veraltet. Natürlich die anderen Autos. Fast nur Trabanten, Trabis genannt. Aber auch Wartburgs und Ladas. Die Luft war äußerst schlecht. Die Zweitaktmotoren verbreiteten einen blauen Dunst und einen ziemlichen Gestank. Besonders schlimm war es bei Inversionswetterlage, wenn die Abgase nicht abziehen konnten.
Auch die Bauweise der Häuser war im Kern von Magdeburg anders als in westdeutschen Großstädten. Riesige Betonblöcke, durch Plattenbauweise errichtet. Sie galten in der DDR als modern. Für unseren Geschmack waren sie eher hässlich und auch eintönig, da sich Block an Block reihte. Dazwischen ein Denkmal von Lenin oder Karl Marx oder große Tafeln mit sozialistischen Sprüchen.
Auch wenn es nicht schön war, so war es für mich doch sehr interessant. Es wirkte alles so fremd, so anders auf mich. Auch die Menschen mit ihrer anderen Kleidung, die aus unserer Sicht einfach aussah, trugen dazu bei. Auch kam es mir so vor, als würden sich die Menschen anders verhalten, sich anders bewegen, einen anderen Gesichtsausdruck haben. War es wirklich so oder bildete ich es mir nur ein? Natürlich sahen wir uns auch die Schaufensterauslagen in der Nähe des Bahnhofs an. In einer solchen Großstadt konnte man für DDR-Verhältnisse gut einkaufen. Auf uns wirkte das darin ausgestellte mehr als dürftig.
Als wir mit dem Zug kamen, holte uns mein Onkel von Magdeburg ab. Was war das für ein freudiges Wiedersehen. Ich hingegen sah den Cousin meines Vaters zum ersten Mal. Er war mir sofort sympathisch. Er war ein freundlicher und herzlicher Mensch.
Bevor wir weiter fuhren, mussten wir jedoch Mittagessen. Das ging am besten im Interconti-Hotel am Bahnhof. Wir konnten uns nun nicht einfach dorthin setzten, wo wir wollten. Wir mussten warten, bis uns ein Platzanweiser zu einem Tisch führte. Da es nicht sehr viele erstklassige Restaurants in der DDR gab, war der Andrang häufig groß. Oft musste man zur Mittagszeit lange warten, ehe ein Tisch frei wurde. Aber warten gehörte in der DDR zur Normalität und kaum einer regte sich darüber auf. Höchstes die Westler, die Besucher aus der Bundesrepublik.
Die Auswahl auf der Speisekarte war nicht sonderlich groß und so viel es uns auch leicht, etwas auszusuchen. Teure Gerichte gab es überhaupt nicht. Wir konnten uns mühelos das beste Essen leisten. Doch gut war es, nach dem was wir gewohnt waren, nicht. Das Fleisch war häufig zäh und auch der Rest ließ nicht selten zu wünschen übrig.
Bei Qualitäten und Quantitäten lagen zwischen Ost und West Welten. Das war nicht nur bei den Nahrungsmitteln so, sondern bei allen Dingen des täglichen Lebens. Während in der Bundesrepublik nur der erfolgreich sein konnte, der weiterentwickelte und fortschrittlich war, stand im Osten in dieser Beziehung fast alles still. Weiterentwicklung war in diesem System nicht oder kaum notwendig. Jeder hatte das Recht auf einen Arbeitsplatz und führte ein abgesichertes Leben ohne Risiko. Zweifellos waren das auch Vorteile. Aber eine Weiterentwicklung, wie in der freien Marktwirtschaft, konnte nicht stattfinden, und so blieb alles beim Alten.
Das merkten wir besonders, wenn wir nach Blankenburg kamen oder andere kleinere Städte kennenlernten. Dort war das Warenangebot auf den meisten Gebieten mangelhaft. Manchmal gab es lange Schlangen vor Geschäften, wenn etwas Besonderes angeboten wurde.
Andere Dinge, wie im Elektronikbereich, waren überaus teuer. Wiederum andere bekam man gar nicht oder nur durch Beziehungen oder Tausch. Dazu gehörte z.B. alles, was mit Hausbau oder Reparatur zu tun hatte. Das sah man ganz besonders im Straßenbild. Viele Häuser waren in allerschlechtestem Zustand. Der Putz bröckelte von den Wänden, das Mauerwerk lag frei. Oft waren es ganze Straßenzüge, die völlig heruntergekommen waren. Doch andererseits gab es auch Häuser, meist in privater Hand, die sahen ordentlich aus. Die vorherrschende Farbe der Hausfassaden war grau. Und so wirkten die meisten Städte auch grau und trist.
Ebenso wie mit vielen Häusern war es mit den Straßen. Sie waren zum Teil in einem erbärmlichen Zustand. Es gab unzählige tiefe Schlaglöcher. Oft hatte man beim Fahren das Gefühl, jeden Moment einen Achsenbruch zu erleiden, oder dass das Auto auseinanderfallen könnte. Auch das viele Kopfsteinpflaster machte ein höheres Tempo unmöglich. Oft ging es nicht schneller als im Schritttempo voran. In allen kleinen Dörfern gab es Kopfsteinpflaster. Zumindest die Hauptstraße hatte in der Fahrbahnmitte zwei glattere, schmalere Fahrstreifen von etwa 30 cm Breite, die man nur bei Gegenverkehr verlassen musste. Trotz dieser schlechten Straßenverhältnisse wunderte ich mich darüber, mit welch einer Geschwindigkeit die kleinen Trabis über unebenste Straßen fuhren. Sie mussten besonders robust sein. Ihre Karosserie bestand im Übrigen nicht aus Blech, sondern aus Plastik, das bei einem Unfall zersplitterte.
Auch mein Onkel hatte einen Trabanten. Es sah schon etwas komisch aus, wenn ich, der ich nicht gerade der Kleinste bin, neben dem Wagen stand. Aber alles passte. Auch wenn ein Trabi nicht komfortabel war, so hatte er sich doch als Fortbewegungsmittel bewährt, sich im Laufe der vier Jahrzehnte allerdings nicht verändert. Es gab aber auch andere Autos, die höherwertiger waren. Den Wartburg und den Lada, der in Russland gebaut wurde.
Doch wer konnte sich solch ein Auto schon leisten? Der Durchschnittsverdienst eines DDR-Bürgers war nicht besonders hoch. Wenn ich richtig informiert bin, lag er bei etwa 600 Mark, und ein Auto kostete viel Geld. So sah man im Straßenverkehr hauptsächlich Trabanten, die, nach meiner Schätzung, etwa 80 Prozent aller Autos ausmachten.
Wer ein Auto haben wollte, musste sich dafür frühzeitig anmelden. Die Wartezeit belief sich beim Trabi auf 12 Jahre. Das ist nicht gerade wenig. Für uns unvorstellbar. Für DDR-Bürger war das jedoch ganz normal. Deshalb staunte mein Onkel nicht schlecht, als ich zum ersten Mal mit dem Auto zu Besuch kam, einem VW-Käfer und ihm erzählte, dass er nur tausend Mark gekostet habe und ich ihn sogleich hatte mitnehmen können. Eigentlich war es eine ziemliche Klapperkiste. Doch verglichen mit einem Trabi war er groß. Mein Onkel bestaunte die Sitze, die Sicherheitsgurte, den Motor, die Schaltung, die sich nicht neben dem Lenkrad befand und alles andere. Für ihn war es ein luxuriöses Auto. Man kann sich vorstellen, wie sich DDR-Bürger nach Westwagen umgesehen haben, die auf ihren Straßen fuhren. Doch für sie war es ein unerreichbarer Traum, jemals ein solches Auto zu besitzen.
In allen Landesteilen der DDR konnte Westfernsehen nicht empfangen werden. Und in diesen Gebieten war die fortschrittliche Entwicklung des westlichen Nachbarlandes nicht ganz so bekannt. Doch wenn die Verwandten aus dem Westen mit ihren „Luxuskarossen“ zu Besuch kamen, dann konnten auch sie erahnen, dass da drüben der Fortschritt größer als im eigenen Lande war, und sicherlich machte sich auch damals schon Unzufriedenheit breit. Das merkte ich auch an den speziellen DDR-Witzen, die der Gartennachbar meines Onkels erzählte. Sie waren in der Ostzone weit verbreitet und machten sich mit scharfem Witz über die Gegebenheiten in der DDR lustig.
Doch nun wieder zurück zu unseren Besuch in der Ostzone. Am nächsten Tag führte uns der erste Weg zur Polizeistelle in Blankenburg. Dort mussten wir uns anmelden, unseren Aufenthaltsort nennen, die Dauer unseres Aufenthalts und das Tagegeld zahlen, das für einen Erwachsenen 25 DM, damals nicht gerade wenig, betrug. Später, am Ende des Urlaubs, dann kurz vor der Abreise, die gleiche Prozedur. Wir mussten uns wieder abmelden.
Bei meinem ersten Aufenthalt in Blankenburg als Jugendlicher 1967 war mir noch gar nicht so bewusst, um wie vieles hier alles anders war als bei uns im Westen. Erst bei den nächsten Besuchen, als ich mit dem eigenen Wagen kam, wurde es mir klarer. Das lag nicht nur an meinem Alter, sondern auch an der Zeit. Je länger die beiden deutschen Staaten nebeneinander existierten, desto weiter entfernten sie sich, was die Lebensqualität angeht, voneinander. Während sich im Westen alles rasant entwickelte, gab es im Osten so gut wie keinen Fortschritt. Im Gegenteil, manchmal sogar Rückschritte.
Die Vorzeigestadt der DDR war Ostberlin. Dahin flossen die Gelder. Die Hauptstadt der DDR musste repräsentieren und im Ausland ein fortschrittliches Bild abgeben. Doch was dort an Finanzen hinein gepumpt wurde, fehlte im übrigen Lande. Und so sah es auch, zumindest aus der Perspektive der westlichen Besucher, in vielen Straßenzeilen der Städte sehr heruntergekommen aus. Marode Hausfassaden waren oft mehr oder weniger Normalität.
Es mag für Ostdeutsche zynisch klingen, doch gerade das faszinierte mich an der DDR. Dort schien die Zeit Jahrzehnte stehengeblieben zu sein. Alles wirkte auf mich nostalgisch und erinnerte mich an meine früheste Kindheit, die Zeit der Fünfzigerjahre. Und da ich diese Zeit als schön in Erinnerung habe, holte ich mir in der DDR ein Stück meiner Kindheit zurück. Es gab so vieles, was mich an frühere Zeiten erinnerte. Da waren die Straßen aus Kopfsteinpflaster. Die Mülltonnen aus grauem, leicht verrostetem Blech, die überall an den Straßen standen. Die Kohleberge vor den Häusern, die qualmenden Schornsteine, Pferdefuhrwerke auf den Straßen, die vielen Antennen auf den Hausdächern, die Staketenzäune der Gärten, die Schwankungen des Stromes, bei denen das Licht oft nachließ oder flackerte und viele, viele andere Dinge. Es war für mich eine Reise in die Vergangenheit, und deswegen fuhr ich gerne in die Ostzone. Natürlich auch der Sehenswürdigkeiten des Harzes wegen, von denen ich schon berichtet habe.

In früheren Zeiten durften wir bei unseren Besuchen den Kreis Blankenburg nicht verlassen. Es gab strenge Regelungen für Besucher. Doch wir hielten uns nicht immer daran. Ich kann allerdings nicht sagen was mit uns geschehen wäre, wenn es bemerkt worden wäre. Wir nahmen jedenfalls das Risiko auf uns und machten einen Ausflug nach Wernigerode. Wernigerode hob sich von allen anderen Orten die ich kannte völlig ab. Dort war fast alles ordentlich und sauber. Kein Putz blätterte von den Hausfassaden, kein blankes Mauerwerk war zu sehen. Nicht ohne Stolz führten uns unsere Verwandten durch diesen Vorzeigeort.
Anders hingegen war es in Quedlinburg. Allein schon die Bahnfahrt dorthin war ein Abenteuer. Nicht nur, dass der Zug, wie so häufig, viel zu spät kam. Nein, er fuhr den größten Teil der Strecke im gemütlichen Fahrradtempo und hielt immer wieder auf offener Strecke an. Für die 30 km von Blankenburg dorthin brauchten wir immerhin eineinhalb Stunden.
Quedlinburg selber war ein wunderschöner malerischer Ort. Seine Geschichte führt weit ins Mittelalter zurück und dementsprechend sieht auch das Stadtbild aus. Der Stadtkern wird von etwa 1200 Fachwerkhäusern aus einer Zeitspanne von 800 Jahren gebildet. Das diese riesige Ansammlung von historischen Gebäuden nicht instandgehalten werden konnte wie in Wernigerode, liegt auf der Hand. Nur einige wenige Häuser waren herausgegriffen und wurden von polnischen Facharbeitern restauriert. Und so war fast alles in einem erbärmlichen Zustand. Manche Häuser, mit zerschlagenen Fensterscheiben, drohten einzustürzen. Wer diesen wunderschönen Ort heute besucht und ihn zu DDR-Zeiten nicht kennengelernt hat, mag es kaum glauben. Damals gab es sogar den Plan, die Altstadt komplett abzureißen und durch moderne Betonplattenbauten zu ersetzen. Doch es fehlte das Geld dazu. Gott sei Dank!

Auch fuhren Onkel und Tante später mit mir nach Stendal, um ihre Tochter, die mit ihrer Familie dort lebte, zu besuchen. In Stendal waren Tausende von Russen stationiert. Die dortige Bevölkerung war überhaupt nicht gut auf die Soldaten zu sprechen, da sie ihnen in den Geschäften alles wegkauften. Doch damit mussten sie leben. Von Brüderlichkeit unter den Staaten Osteuropas, wie es in den Medien ständig propagiert wurde, war zumindest in dieser Stadt nichts zu spüren.
Von Stendal fuhren wir nach Potsdam. Dort besuchten wir Sanssoucie, ein Muss für jeden Touristen. Doch auch dort fehlte das Geld zur Instandhaltung der wunderschönen Anlagen. Die Glasscheiben zu beiden Seiten des berühmten Treppenaufganges waren zum Teil zerschlagen. Im Neuen Palais, durch das wir einen Rundgang machten, blätterte überall die Goldbeschichtung ab. Überhaupt wäre alles schon seit vielen Jahren renovierungsbedürftig gewesen.
Nicht weit entfernt liegt der Cecilienhof, den wir im Anschluss besuchten. Dort wurden von den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges Konferenzen über die Behandlung Deutschlands abgehalten.
Auch Ostberlin sollte ich noch kennenlernen. Als ich nach meinem ersten alleinigen Urlaub in den Westen zurückfuhr, wählte ich die Strecke über die Hauptstadt der DDR. Sie war sehr imposant und eindrucksvoll. Ich ging über den Alexanderplatz mit der Weltzeituhr und fuhr auf den Fernsehturm hinauf. Von dort ging der Blick über ein modernes Ostberlin, mit seinen riesigen Wohnblöcken, die sich gleichförmig aneinanderreihten.
Eine Erinnerung aber, die ich an Ostberlin habe, hat sich bei mir ganz besonders eingeprägt. Als mein einwöchiger Urlaub beendet war, wollte ich die DDR verlassen und über die Transitautobahn nach Westdeutschland zurückfahren. Ich suchte mir einen Grenzübergang aus und reihte mich in die Schlange der wartenden Pkws ein. Links und rechts die üblichen Zäune. Vor mir die Schranke mit den Kontrollgebäuden.
Als ich an der Reihe war, wurde vom kontrollierenden Grenzpolizisten festgestellt, dass ich mich am falschen Grenzübergang befand. Es war der Grenzübergang Heinrich-Heine Straße, nächtlicher Austauschort von Spionen und Agenten, der nur für den Grenzverkehr zwischen Ost- und Westberlin zuständig war. Ein Passieren war für mich deswegen nicht möglich. Also zurück. Ich hatte erst seit kurzer Zeit den Führerschein. Die Straße war schmal und für ein Wendemanöver nicht gedacht. Ich war ziemlich im Stress, als ich hin und her rangierte, um den Wagen zu wenden. Dann musste ich mich an der langen Reihe vorbeizwängen. Irgendwie hat es geklappt, aber es war damals eine aufregende Sache für mich, die ich hätte kein zweites Mal erleben wollen.

Eines fiel mir bei meinen Besuchen in der Ostzone jedoch ganz besonders auf. Es war das Verhalten der Menschen. Alle, die mir im privaten Bereich begegneten, waren nett und freundlich und strahlten viel menschliche Wärme aus. Mehr als bei uns im Westen. Woran das lag, vermag ich nicht zu sagen. Vielleicht bringt es der Wohlstand mit sich, dass die Menschen kühler, distanzierter werden.
Genau entgegengesetzt war es dagegen mit den Menschen, die in der Öffentlichkeit standen. Ob es sich dabei um Amtspersonen, Polizisten oder nicht selten Verkäuferinnen handelte. Sie waren mehr oder weniger unfreundlich, kurz angebunden oder sogar überheblich. Sie waren sich ihres Arbeitsplatzes sicher und ihrer Stellung bewusst, in der sie ungehindert Macht ausüben konnten. Und sie mussten sich keine Mühe geben auf ihren Gegenüber, der etwas von ihnen wollte, einen guten Eindruck zu machen. Oft fühlte man sich geringschätzig behandelt und musste froh sein, das Gewünschte überhaupt erhalten zu haben. Natürlich gab es auch Ausnahmen. Aber im Großen und Ganzen hatte ich diesen Eindruck.
Wenn ich an meine DDR-Besuche denke, dann fällt mir auch der Geldumtausch ein. Wie schon erwähnt, musste man pro Tag und Person eine bestimmte Summe umtauschen. Die östlichen Währungen waren in der Weltwirtschaft allesamt weich und hatten nur geringen Wert. Da es der DDR wirtschaftlich nicht gut ging, musste sie versuchen an harte Westdevisen heranzukommen. Die Besucher aus dem Westen waren da eine willkommene Einnahmequelle. Aber auch jeder DDR-Bürger freute sich über Westgeld. Es eröffnete ihm ungeahnte Möglichkeiten. Er konnte damit z.B. in den Exquisit-Läden oder Intershops einkaufen und an Waren gelangen, die sonst für ihn unerreichbar waren. So freuten sich unsere Verwandten sehr, wenn wir ihnen Westgeld schenkten oder bei ihnen schwarz tauschten. Für eine DM bekam ich von meinem Onkel fünf Ostmark und er machte damit noch ein sehr gutes Geschäft. Für uns war es nun gar nicht so leicht, das viele Geld auszugeben. Schließlich gab es nicht sonderlich viel, was wir gebrauchen oder ausführen durften. Kleidung durfte man z.B. nicht mitnehmen, ebenso wie Antiquitäten. Es wurden in der DDR auf vielen Gebieten schon qualitativ gute Waren hergestellt. Doch die waren nicht für die eigenen Bürger bestimmt, sondern für den Westen, der mit harter Währung dafür bezahlte. So blieb für die DDR-Bürger nur die zweitklassige Ware über. Viele Dinge, die es in unseren Kaufhäusern zu kaufen gab, stammten tatsächlich aus der Ostzone, und kaum ein Mensch bei uns ahnte es. Trotz des Ausfuhrverbots kaufte ich mir einige Hemden in den Exquisit-Läden. Natürlich entfernt ich die Preisschilder und zerprummelte sie so, dass sie nicht wie neu aussahen. Und auch in Büchern konnte ich mein Geld gut anlegen.

Über den Sport in der DDR

Nun habe ich so einiges über die DDR erzählt, wie sich die beiden Staaten unterschieden, und wie unterschiedlich die Menschen waren und lebten. Fast alles was die DDR betraf stuften wir aus unserer westlichen Sichtweise negativ ein, weil sie eben ein Unrechtsstaat war. In einem jedoch war der ostdeutsche Staat viel besser als unser eigener, und es bestand eine große Rivalität auf diesem Gebiet. Dabei handelte es sich um den Sport.
Um in der Welt ein hohes Ansehen zu erreichen, legte die DDR viel Wert auf sportliche Erfolge. Mit ungeheuren Geldsummen, die im Westen nicht zur Verfügung standen, es sei denn es handelte sich um die Profibereiche, wurde der Sport auf vielen Gebieten gefördert. Allerdings waren es nicht nur die erforderlichen finanziellen Mittel, sondern auch andere Mittel, die im Westen auch, allerdings nicht in solchen Dimensionen eingesetzt wurden. Dabei handelte es sich um Doping. In den Ländern des Kommunismus wurden Dopingmittel rigoros verwendet. Viele Fälle wurden bekannt, in denen Sportler ertappt, bestraft, oder sogar lebenslänglich gesperrt wurden. In erster Linie handelte es sich dabei um sowjetische, bulgarische und andere Ostsportler. Aber auch die DDR mischte kräftig mit. Es kam sogar mehrmals vor, dass nach angekündigten Kontrollen Spitzensportler nicht mehr auftauchten und für immer von der Bildfläche verschwanden. In einigen Fällen sollen Sportlerinnen des Ostblocks sogar mehr Mann als Frau gewesen sein.
Wie dem auch sei. Die DDR war jedenfalls auf diesem sportlichen Gebiet sehr erfolgreich. Und wenn die Olympischen Sommer- oder Winterspiele oder andere sportliche Großereignisse stattfanden, dann hagelte es für die Ostsportler Goldmedaillen, während wir uns mit bescheidenen Zahlen begnügen mussten. Das war in fast allen Amateursportarten der Fall, wobei ich bemerken muss, dass die eigentlichen Amateure natürlich auch Profis waren.
Es gab allerdings auch einige wenige Sportarten, da war die DDR nicht so gut, und zu dieser gehörte die wohl wichtigste überhaupt: der Fußball. Egal welche Anstrengungen die DDR auf diesem Gebiet unternahm, ihre Nationalmannschaft blieb nur zweitklassig und konnte keine größeren Erfolge aufweisen. Das gelang nur einmal einer Vereinsmannschaft. Magdeburg gewann in den Siebzigerjahren den Europapokal der Pokalsieger.
Ein Länderspiel der beiden deutschen Mannschaften sollte jedoch Geschichte schreiben. Es fand 1974 während der Weltmeisterschaft in der Bundesrepublik statt. Beide Mannschaften trafen in der Vorrunde aufeinander. Die Bundesrepublik mit Beckenbauer, Höneß und Müller als großer Favorit, die DDR als Außenseiter. Doch was keiner für möglich gehalten hatte trat ein. Im Hamburger Volksparkstadion gewann die DDR durch ein Tor von Jürgen Sparwasser mit 1:0. Das war eine Sensation und unser Land war gedemütigt. Die DDR konnte sich die Hände reiben. Aber vielleicht war es gerade das, was unsere Mannschaft danach zum Weltmeister machte. Es war ein rechtzeitiger Schuss vor den Bug, und so wurden unsere Spieler nicht überheblich.
Für mich war die Niederlage besonders ärgerlich, da ich beim erwarteten Sieg unserer Mannschaft diese im Niedersachsenstadion von Hannover gesehen hätte. Doch so bekam ich das Spiel DDR gegen Brasilien zu sehen, natürlich auch das eine reizvolle Partie. Streich, Sparwasser, Hoffmann und Co. schlugen sich beachtlich und unterlagen den Südamerikanern nur knapp mit 0:1.

Die letzten Jahre der DDR

In den Achtzigerjahren gab es dann doch einige Erleichterungen für die DDR-Bürger. Es durften nicht nur Rentner zu Besuch in den Westen ausreisen, sondern auch zunehmend jüngere Menschen. Natürlich musste ein triftiger Grund dazu vorliegen, wie z.B. eine Beerdigung eines nahen Verwandten. Auch Ausreiseanträge wurden immer häufiger genehmigt, so dass DDR-Bürger tatsächlich in die Bundesrepublik übersiedeln durften. In früheren Jahren war das kaum möglich. Den Bürgern, die eine Ausreise beantragten, wurde das Leben in Ostdeutschland schwer gemacht. Sie wurden mit Repressalien belegt und von der Stasi, die allgegenwärtig war, überwacht. Aber auch für unsere Seite gab es Fortschritte. Es wurde der kleine Grenzverkehr eingeführt. Menschen, die in Grenznähe wohnten, durften Tagesreisen in die DDR durchführen. Auch ich hatte die Hoffnung, dass dieses auch irgendwann einmal für den Raum Hannover gelten würde.
Dieses alles war nur möglich geworden, weil sich die DDR in enormen wirtschaftlichen Schwierigkeiten befand. Sie war, was allerdings noch nicht so bekannt war, auf Kredite aus dem Westen angewiesen. Nur durch die Milliarden aus Westdeutschland konnte sie sich über Wasser halten. Im Gegenzug war sie gezwungen, auf Druck der Bundesrepublik, Reiseerleichterungen einzuführen. Das wiederum hatte zur Folge, dass immer mehr DDR-Bürger nach Westdeutschland kamen. Der Wohlstand, den sie nun kennen lernten, ließ sie im eigenen Land immer unzufriedener werden. Und so kam es dann Ende der Achtzigerjahre so wie es kommen musste und wie es unausweichlich war.
Die Ursache war jedoch der Wandel in der Sowjetunion. Nach Chruschtschow und Breschnew gelangte mit Gorbatschow eine andere Politikergeneration an die Macht. Sie hielt nicht viel vom Kalten Krieg und versuchten mit Erfolg die Beziehungen zwischen den Ländern der östlichen und westlichen Welt aufzulockern. Glasnost und Perestroika waren die Schlagworte. Bald wurde, so unglaublich es auch war, selbst der Kommunismus in Frage gestellt.
Diese Vorgänge verunsicherten die DDR zutiefst. Im Oktober 1989, zum vierzigsten Jahrestag der DDR, fand die letzte Machtdemonstration der SED-Führung statt. Doch der eingeladene Ministerpräsident der Sowjetunion, der mit Honecker die feierliche Militärparade in Ostberlin abnahm, fiel seinem Amtskollegen mit den historischen Worten in den Rücken: "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben."

Der Untergang des Arbeiterstaates

Der Anfang vom Untergang der DDR hatte jedoch schon Wochen vorher im August begonnen. Die Bürger in Ostdeutschland hatten den Eindruck, dass gegen die sich ausweitende Wohnungsnot nichts getan werden konnte und dass der Verfall der Wirtschaft immer schneller voran ging, dabei den Fortschritt des Westens vor Augen. Zusätzlich wirkte sich die Unterdrückung der Meinungsäußerung und das rigorose Vorgehen des Staatssicherheitsdienstes negativ auf die Stimmung im Osten aus. Dieses alles brachte das Fass zum Überlaufen. Und so kam es zu den unglaublichen Vorgängen, die der DDR bald ein Ende bereiten sollten.
Die Ferienzeit verbrachten viele DDR-Bürger in den sozialistischen Nachbarländern. Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn waren beliebte Reiseziele. Viele ausreisewillige Bürger nutzten die Gelegenheit, sich in die Botschaften der Bundesrepublik in Warschau und Prag abzusetzen, um auf diesem Weg in die Freiheit zu gelangen. Viele andere wählten einen bis dahin nicht möglichen Weg. Im Zuge der politischen Erneuerung hatte Ungarn seine Grenze zu Österreich geöffnet. Die Ungarn sahen es nicht als ihre Aufgabe an, Flüchtlinge zurückzuhalten. So gelangten Tausende von DDR-Bürgern in die Bundesrepublik.
Doch auch die Daheimgebliebenen hielten nicht still. Es entstanden politische Gruppierungen und es fanden in vielen Städten die berühmten Montagsdemonstrationen statt, allen voran in Leipzig. Das DDR-Regime war machtlos und musste dem Verfall der Autorität zähneknirschend mit ansehen. Selbst aus den eigenen Reihen wurde die Kritik so drückend, dass schließlich die Wende eingeleitet und Erich Honecker seines Amtes enthoben wurde.
Es war dann der Abend des 9. November 1989, als Günter Schabowski bei einer Presskonferenz in seinen Papieren wühlte und den berühmten Satz stotterte, dass seines Wissens die Grenze ab sofort geöffnet sei. Und damit wurden die Grenzen völlig unerwartet geöffnet. Was sich in dieser Nacht abspielte, bleibt für alle, die es an Ort und Stelle oder vor den Fernsehschirmen miterleben konnten, unvergesslich. Ich habe die Bilder noch heute vor Augen: Menschengedränge überall an den Grenzübergängen in Berlin. Die einen kamen aus dem Ostteil der Stadt und wollten, die jüngeren unter ihnen zum ersten Mal in ihrem Leben, in den Westteil. Von der anderen Seite drängten ihnen die Westberliner entgegen und wollten sie in Empfang nehmen. Es spielten sich unglaubliche Szenen ab. Fröhliche und jubelnde Gesichter überall, aber auch viele, die ihre Freudentränen nicht zurückhalten konnten und hemmungslos weinten. Trabis fuhren in langen Schlangen von Ost nach West. Sie mussten sich ihren Weg durch Menschenmassen bahnen, deren Hände auf die Trabi-Dächer trommelten. Andere schwangen Deutschlandfahnen oder ließen Sektflaschen kreisen. Die Mauer wurde erstürmt und bald war auf ihr kein Platz mehr frei. So ging es die ganze Nacht hindurch. Nach 40 Jahren Zonengrenze endlich frei. Eine Gänsehaut-Nacht voller Emotionen.

Das alles, was sich in diesen letzten Wochen und Tagen ereignete, war für mich und wohl auch die meisten anderen Menschen in und um Deutschland eine unglaubliche Geschichte. Seit Jahrzehnten gab es zwischen den beiden Machtblöcken, der Sowjetunion mit den Staaten des Warschauer Paktes auf der einen und den Amerikanern und den Staaten Westeuropas auf der anderen Seite, starre Fronten, die sich kaum veränderten. Eben den Kalten Krieg. Beide standen sich bis an die Zähne bewaffnet gegenüber, bereit, den anderen, wenn es sein musste, mit dem eigenen gewaltigen Waffenarsenal zu vernichten und auszulöschen. Es waren so viele Nuklearsprengköpfe vorhanden, dass die Menschheit gleich mehrere Male hätte vernichtet werden können.
Für mich war vor diesen Ereignissen klar, dass es auch in weiterer Zukunft zwei gegensätzliche deutsche Staaten geben würde. Umso erstaunlicher waren die Vorgänge, die sich nun abspielten. Es war alles wie in einem Traum, doch es war die Wirklichkeit. In Deutschland Ost hatte es eine friedliche Revolution gegeben.
An den darauffolgenden Wochenenden setzte eine Völkerwanderung ein. Fast jeder Ostdeutsche, der die Möglichkeit hatte, wollte verständlicherweise Westdeutschland kennenlernen. Besonders die grenznahen Städte wurden gestürmt. In unserer Region waren es Braunschweig und Hannover. Als ich am Sonnabendmorgen über den Südschnellweg nach Kirchrode zur Arbeit fuhr, kamen mir fast nur Trabis entgegen. Sie wurden mit Hinweistafeln auf große Parkplätze gelenkt. Bald war die ganze, große Fläche des Schützenplatzes mit Trabis angefüllt. Als ich eine Woche später zu einem Verwandtenbesuch ins Ruhrgebiet fuhr, war jeder fünfte Wagen auf der Autobahn ein Trabi oder ein Wartburg.
In der folgenden Zeit kamen sich die beiden Staaten und die Menschen aus Ost und West immer näher, und kein Mensch wusste zu diesem Zeitpunkt, wie es weitergehen würde. Die einen wollten weiterhin zwei getrennte deutsche Staaten haben, die anderen, und das war die Mehrzahl, einen Zusammenschluss und damit wieder ein vereinigtes Deutschland. In den nächsten Wochen und Monaten sollte es sich entscheiden und jeder weiß, wie es ausgegangen ist.

Wie es weiterging

Die kommende Zeit sollte für die Menschen in Ostdeutschland nicht einfach werden. Vierzig Jahre lang wurde ihnen diktiert was sie zu tun hatten und was sie nicht tun durften. Nun waren sie frei, waren aber nicht gewohnt frei zu entscheiden und zu denken. Auch das will gelernt sein.
Zusätzlich tauchten viele Probleme auf. Auch wenn Bundeskanzler Helmut Kohl für die nahe Zukunft blühende Landschaften in den neuen Bundesländern versprach, so sollte das nicht so schnell Wirklichkeit werden und ist es bis heute nicht geworden. Es war schwer, ostdeutsche Produkte zu vermarkten und im Westen zu verkaufen. Viele Firmen, die nicht mehr konkurrenzfähig waren, mussten schließen und viele Menschen wurden arbeitslos. Teilten sich zu DDR-Zeiten oft zwei Menschen eine Arbeitsstelle, so war das nun vorbei. Eine Arbeitsplatzgarantie gab es nicht mehr. Auch mit den zwischenmenschlichen Beziehungen stand es nicht überall zum Besten. Die Zeit des sich aneinander Gewöhnens dauerte.
Heute kann ich aber sagen, dass sich viel getan hat. Die Menschen in Ost und West unterscheiden sich kaum noch. Zum Teil hat eine Vermischung stattgefunden. Hunderttausende ehemalige DDR-Bürger leben inzwischen in den alten Bundesländern, Zigtausende Menschen aus der alten Bundesrepublik in den neuen, in Ostdeutschland. Das tut beiden Seiten gut. Und die jüngeren Menschen in allen Bundesländern kennen die DDR sowieso nur noch aus Erzählungen oder dem Geschichtsunterricht aus der Schule, in dem sie leider nur kurz behandelt wird. Sie wachsen in die Bundesrepublik hinein, so, als hätte es die DDR nie gegeben. Genauso wie für meine Generation ein zweigeteiltes Deutschland Normalität war, ist es für sie nun ein einziges, vereintes Deutschland.

Immerhin ein Vierteljahrhundert ist nun seit der Wende vergangen. Doch die Bilder dieser aufwühlenden und aufregenden Tage haben wir Älteren noch immer vor Augen, so als wären sie erst vor kurzer Zeit geschehen. Und unsere Hochachtung gilt den Menschen, die nach dem Krieg nicht das Glück hatten, dass ihr Land von den westlichen Alliierten besetzt wurde. Die sich mit ihrem Staat arrangieren mussten. Die nicht in den Westen ausreisen konnten. Die nicht laut das sagen durften, was sie dachten. Die in Leipzig und anderswo auf die Straße gingen. Und die schließlich eine friedliche Revolution herbeiführten, was es zuvor weltweit noch nie gegeben hatte. Auch wenn es sich in der DDR leben ließ, so war sie doch ein Unrechtsstaat. Es ist gut, dass es so gekommen ist wie es gekommen ist. Und auch wenn es seine Zeit braucht, so wächst doch zusammen, was zusammen gehört, wie es Willy Brandt einmal formulierte. Die DDR ist Geschichte, und ein vereintes Deutschland ist, auch wenn es viele Probleme gab und es vielleicht so manches auch noch gibt, auf einem guten Weg. Und der 3. Oktober ist der Tag, an das alles zu erinnern und es sich immer mal wieder ins Bewusstsein zu rufen.

Siehe auch: Festung Brocken - Ein Berg einst unbesteigbarer als der Mount Everest

25 Jahre Mauerfall, 24 Jahre Wiedervereinigung - Der Tag der Deutschen Einheit in Hannover

Bürgerreporter:in:

Kurt Wolter aus Hannover-Bemerode-Kirchrode-Wülferode

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