Erinnerung an meinen ersten Schultag

Ja, da muss ich wirklich erst einmal etwas inne halten . . .
Wenn ich mich recht entsinne, war das zu erwartende Ereignis für mich eher unspektakulär. Meine Mutter und ich lebten damals in dem kleinen Haus meiner Großeltern, das umgeben war von einem herrlichen Blumen- und Gemüsegarten und einen Boden hatte, auf dem geheimnisvolle Dinge verborgen waren und gelagert wurden. Es war ein Frauenhaus, in dem zeitweise auch zwei Damen aus Köln wohnten, die der Krieg bis zu uns in die Mitteldeutsche Tieflandbucht vertrieben hatte. Und überhaupt gab damals wenig Vatis, Onkels. Meinen Vater kannte ich hauptsächlich nur vom Foto. Und so war er auch zu meiner Einschulung noch „im Krieg“.

Ich erwähnte bereits diesen herrlichen Abenteuerplatz „Boden“, den hatte ich schon längst heimlich durchsucht. Ich hatte anbei einmal aufgeschnappt, dass die oben liegende Tüte aufgefrischt werden sollte. Und so fand ich auch tatsächlich eine in weiß eingehüllte Zuckertüte. Ja, sie war schön, ich konnte sie vor mich stellen und noch hinein schauen. Was mich einerseits beruhigte andererseits die Überraschung nun doch nur noch der Inhalt der Zuckertüte sein würde.

Ich hatte bis dahin schon einige dieser „Feiern“ bei Nachbarskindern beobachten und miterleben können. In jedem Fall war der schönste Augenblick der, wenn diese Tüte auf dem Tisch ausgeschüttet wurde! Und in fast allen Fällen füllten bei den Mädchen eine Schürze und bei den Jungen gestrickte Strümpfe deren Spitzen.

Während meine Mutti arbeiten ging, vertrieb ich mir mit den anderen Kindern die Zeit auf dem Anger. Unsere Mutter saß wie oft an der Nähmaschine und kleidete die Frauen neu ein. Und so wurde auch für mich vor dem Schulanfang was Feines geschneidert. Dann öffnete sie manchmal das Fenster zum Garten und rief mich zur Anprobe. Sie zauberte aus einem Tantekleid einen herrlichen Rock rot, mit kleinen Herzen, vorn zwei Taschen und mit Trägern. Das hatte ich mir so gewünscht. Aber das schönste war diese weiße Bluse. Sie bekam kleine glitzernde Knöpfe vom Hemd unseres Vaters und einen Spitzenkragen! Fallschirmseite klärte mich die Mutter auf und legte den Finger auf den Mund.

Ganz schnell noch etwas zu den Schuhen, damit die Kleiderfrage abgeschlossen ist. Schuhe spielten für uns insofern eine wesentliche Rolle, weil wir, wenn wir Verkleiden spielten, die „Spinatstecher“ der Erwachsenen anzogen. Im wahren Alltag liefen wir ja die meiste Zeit barfuß oder in Holzpantinen durchs Leben

Irgendwie hatten die Erwachsenen es geschafft, Leder zu besorgen, schwarzes weiches Leder! Natürlich durfte ich zusehen, wie Herr Geißler, der Schuster, aus dem Leder die Oberteile zuschnitt. Und viel zu oft schickte ich seine Tochter in die Werkscht, um zu fragen, wie weit er denn sei. In der kleinen dunklen Werkstatt mit den reparierten und noch kaputten Schuhen in den Regalen, den Streichholz ähnlichen hellen Holznägeln, die auch irgendwie wenigstens zeitweise in die Schuhe kamen, holte ich dann eines Tages mit meiner Mutti meine neuen Schuhe ab.

Meine wichtigste Frage jedoch war, würde ich einen neuen Ranzen bekommen, oder musste ich den von Tante Ilse nehmen. Der war zwar toll, aber mit dem spielte ich ja auch schon geraume Zeit „Schule“. Diese Story wurde noch oft erzählt, weil ich immerzu am suchen nach verstecktem war.

Und nun war er da, der erste Schultag. Es war Montag, der 01. September 1947, und es war fast alles so wie bei den Nachbarskindern, auch bei mir fehlte immer noch mein Vati. Und doch war alles so schön!

Im Schulhof waren ganz viele Menschen. Doch an dem alten Kastanienbaum hingen nicht wie angekündigt die Zuckertüten. Wir lernten Fräulein Jentsch kennen, die es später wirklich nicht leicht mit uns hatte. Das fand ich aber damals alles nicht so wichtig. Den Ranzen hatte ich ja schon daheim geschenkt bekommen, es war der alte, der aber aussah wie neu. Dazu gab es die passende Brottasche mit einer glänzenden Brotbüchse, eine echte Schiefertafel mit einem echten Schwamm und einem gewöhnlichen Lappen aus dem Ranzen baumelnd.

Zu meiner größten Freude entdeckte ich oben an der Zuckertüte einen Federkasten aus dem Erzgebirge. Einen doppelten, bei dem das Oberteil seitlich weg zu drehen ging und den auf der Zunge“ ein Brandmuster zierte. Den hatte bestimmt der Schreiner angefertigt.

Der Höhepunkt aber war das „Kaffeetrinken“ in der guten Stube unserer Mutter und es gab eine Kaffeetorte. Nie in meinem Leben – und ich habe es des Öfteren probiert – ist es mir gelungen, so eine Torte zu backen. Dabei war es doch einfach nur der Kaffeeersatz, der mich so betört hatte! Mit den Süßigkeiten aus der Tüte begnügten sich die eingeladenen Kinder, bis meine Mutti einschritt und den Rest verschloss.

Bald darauf begann der Schulalltag, und ich wurde zum ersten Mal von Fräulein Jentsch an meinen Zöpfen gezogen, denn „mit links schreibt man nicht“

Das Foto mit der Zuckertüte wurde erst später geknipst, wir hatten damals keinen Fotoapparat. Aber immerhin kam ein richtiger Fotograf aus Leipzig. Sicher musste alles schnell gehen, denn meine Schuhe waren nicht geputzt, die nackten Beine hätten auch zuvor gewaschen werden müssen und der Ranzen fehlte gänzlich. Einige Wochen später kam mein Vater „aus dem Krieg“

und nun war ich richtig glücklich.

Bürgerreporter:in:

frau stock aus Bad Kösen

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