Flüchtlinge: Sparprogramm notwendig?

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Das Großthema "Flüchtlinge" hat das Großthema "Griechenland und Eurokrise" aus den Schlagzeilen verdrängt. Doch beide Themen gehören zusammen. Die Bereitschaft der Bevölkerung in Deutschland und Europa Flüchtlinge aufzunehmen, hängt eng mit der je eigenen ökonomischen Lage zusammen.

Allerdings mit der tatsächlichen ökonomischen Lage. Und nicht mit der ökonomischen Lage, wie sie in den Verlautbarungen der Bundesregierung gezeichnet wird. Die Wirtschafts-, Finanz- und Lohnpolitik der Bundesregierung drückt ganz Europa ihren unheilvollen Stempel auf. Die konjunkturelle Lage Europas ist desaströs (siehe: Die Europäische Konjunktur im Herbst 2015: Das endlose Debakel des Wolfgang Schäuble). Welche Auswirkungen das Festhalten der Bundesrepublik an den falschen Prämissen der neoklassieschen Wirtschaftslehre hat, zeigt dieser Artikel von Friederike Spiecker auf flassbeck-economics:

Sparen für die Flüchtlinge?

von Friederike Spiecker auf flassbeck economics

Es wäre zu einfach und zu schön gewesen, um wahr zu werden, nämlich den Fiskalpakt klammheimlich in den europäischen Schubladen verschwinden zu lassen. Und zwar mit einer Begründung, die für seine bisherigen Verfechter durchaus gesichtswahrend gewesen wäre. Man hätte den Bürgern vollkommen glaubhaft sagen können, dass außergewöhnliche Zeiten außergewöhnliche Maßnahmen erfordern.

Und dann hätte man den Fiskalpakt in ein paar Jahren einfach nicht mehr aus den besagten Schubladen rausholen müssen, weil er sich erübrigt hätte. Aber nein, die Chance, als deutsche Regierung den Rückwärtsgang einzulegen, um aus der wirtschaftspolitischen Sackgasse wieder herauszukommen, ohne dabei das Gesicht zu verlieren, ist wohl schon vertan. Denn der wachsame deutsche Bundesfinanzminister hat die zarten Silberstreifen der Vernunft am düsteren EU-Himmel gleich erkannt und sie sofort zu Vorboten einer Sturmfront erklärt, die die eiserne Haushaltsdisziplin hinwegblasen könnte.

Damit hat er natürlich vollkommen Recht. Man stelle sich einmal vor, in Deutschland würden nun tatsächlich staatlicherseits Kredite in zweistelliger Milliardenhöhe aufgenommen, womöglich auch noch in anderen europäischen Ländern. Und diese Gelder würden in die Zukunft zugewanderter junger Flüchtlinge investiert, d.h. also in den von inländischen Arbeitskräften bewerkstelligten Wohnungsbau, in von Inländern gegebene Sprachkurse etc. Was das für europäische Konjunkturprogramme in der Gegenwart ergäbe und wie die das reale Wachstum anschieben würden!

Obendrein könnten die so ausgegebenen Kredite der Europäischen Zentralbank aus der Klemme helfen, weil die Preisentwicklung wieder normal anzöge. Und in der Zukunft? Würden uns nicht die erhöhten staatlichen Schuldenberge erdrücken? Wohl kaum, denn was kann die Staatsschuldenquoten besser dahinschmelzen lassen als reales Wachstum von 2 Prozent und mehr sowie eine 2-Prozent-Inflation? Ja, Wolfgang Schäuble ahnt wohl, dass dann manch einer auf die Idee kommen könnte, die Sparideologie lieber in der Mottenkiste stecken zu lassen als wiederzubeleben. Und das darf offenbar auf keinen Fall passieren.

Damit gar nicht erst Zweifel an der Entschlossenheit der deutschen Bundesregierung aufkommen, den Fiskalpakt und mit ihm die neoliberale Agenda der Wirtschaftspolitik auf europäischer Ebene mit Zähnen und Klauen zu verteidigen, hat Wolfgang Schäuble gleich noch eins oben drauf gesetzt. Er verordnet den Bundesministerien laut einem Zeitungsbericht ein kleines Sparprogramm. Für die Flüchtlinge.

Es geht zwar nur um vergleichsweise symbolische 500 Millionen Euro, die dieses Jahr als „globale Minderausgabe“ im Bundeshaushalt zusammengekratzt werden sollen, aber die Botschaft, die mit diesen 500 Millionen an die Deutschen selbst und natürlich an die übrigen Europäer vermittelt werden soll, ist klar: Seht her, selbst die Deutschen, die sich neue staatliche Schulden noch am ehesten leisten könnten, strengen sich an und schnallen den Gürtel enger, um den Flüchtlingen zu helfen, statt dass sie in unsolides Geldausgeben verfielen auf Kosten zukünftiger Generationen.

Und diese Botschaft leuchtet ja auch sofort ein: Wenn man etwas verschenken, etwas abgeben will, dann muss man es zuerst einmal haben und dann darauf verzichten. Denn wo sonst sollte man etwas hernehmen als aus dem Ersparten? Aus dem Nichts? Von nichts kommt nichts, das weiß jeder. Und damit ist, nebenbei gesagt, auch klar, dass die Flüchtlinge eine Belastung für die Bevölkerung sind.

Gut, diese armen Menschen tun einem wirklich leid nach all dem Schrecklichen, das sie erlebt haben. Also sind wir bereit, den Gürtel enger zu schnallen, zumindest bis zu einem gewissen Grad. Aber nur, wenn es sich um „echte“ Flüchtlinge handelt, also nicht um solche, die „nur“ aus wirtschaftlicher Not kommen. Doch, so der Tenor der mit den inzwischen einströmenden Massen in der Tat überforderten Politiker, was zu viel ist, ist zu viel, vor allem, wenn im Rest Europas – einige wenige Länder wie Schweden einmal ausgenommen – keine ähnliche Bereitschaft zum Teilen zu erkennen ist.

So oder so ähnlich dürften sich die Gespräche an vielen deutschen Stammtischen anhören, denen Wolfgang Schäuble mit seiner Sparideologie neue Nahrung gibt. Dass daraus Angst und in deren Folge Hass entstehen können, liegt auf der Hand.

Der Denkfehler dabei ist immer derselbe: S muss angeblich vor I kommen, erst muss gespart werden, bevor investiert werden kann. Wolfgang Schäuble und mit ihm bedeutende Teile der deutschen Presse (etwa die FAZoder das Handelsblatt; Ulrike Herrmann liefert in der taz die wohltuende Ausnahme) bleiben gedanklich hartnäckig unter der mikroökonomischen Käseglocke und demolieren auf diese Weise viele Volkswirtschaften und im gleichen Zuge die europäische Wertegemeinschaft.

Warum auch gleich die Wertegemeinschaft? Um es mit Bertolt Brecht zu sagen: Das Fressen kommt vor der Moral. Wer die konjunkturelle Entwicklung der letzten vier Jahre in Europa unvoreingenommen betrachtet, sieht, dass es der großen Masse der Bevölkerung ausweislich der Lage am Arbeitsmarkt in vielen europäischen Ländern nicht gut geht und/oder sich ihre Lebensperspektiven nicht verbessern. (Man kann auch einmal einen Blick auf die neuesten Zahlen von Eurostat zum Deflationsranking werfen, um sich ein Bild von der aktuellen Lage zu machen.)

Das gilt nicht nur für Griechenland, Portugal, Spanien, Italien und sogar für Frankreich, nein es gilt vor allem auch für die Länder Ost- und Südosteuropas und des Baltikums, wie wir das in vielen Berichten immer wieder gezeigt haben . Wenn es aber zu Hause schlecht läuft und man von außen eine Wirtschaftspolitik empfohlen, ja oft diktiert bekommt oder – wie im Baltikum – gar selbst lauthals befürwortet und durchgezogen hat, die de facto nicht fruchtet, wie soll man da noch Kraft für Dritte aufbringen, wie elend es denen auch immer gehen mag?

Nun rächt es sich, die europäische Konjunktur laufend schön geredet und die neoliberale Reformpolitik in den Ländern, die sie fleißig befolgt haben, als erfolgreich dargestellt, ja, dafür Preise verliehen zu haben. Da fragen sich die deutschen Bürger natürlich entgeistert, warum die portugiesische und die spanische Regierung den Griechen und Italienern bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise nicht unter die Arme greifen wollen, warum sich die Ungarn so fremdenfeindlich geben und die Balten, Tschechen und Polen jede Aufnahme von Asylsuchenden ablehnen. Warum sind die nicht zu Flüchtlingsintegration bereit, wo sie doch selbst gerade erst bewiesen haben, dass man sich hocharbeiten kann, wenn man nur will?

Dass sich nun deutsche Politiker hinstellen, Grenzkontrollen wiedereinführen und die strikte Einhaltung des Dublin-Abkommens von den EU-Staaten mit EU-Außengrenzen einfordern, ist schon ein starkes Stück. Immanuel Kant war ein Deutscher. Doch der nach ihm benannte Imperativ – auch unter dem Verschen „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu“ bekannt – ist deutschen Politikern offenbar nicht geläufig. Wie anders ist es zu erklären, dass man Länder wie Italien und Griechenland – von der Türkei, Libanon oder Jordanien gar nicht erst zu reden – seit Jahren mit den Flüchtlingsströmen allein lässt und sich jetzt, wo Tausende hier ankommen und ein Bett und etwas zu essen brauchen, beschwert, dass einem diese gestrandeten Menschen nicht weiter vom Leib gehalten werden?

Wenn wir in Deutschland schon so lang brauchen zu kapieren, welche Not herrscht, dann wäre es doch an der Zeit, wenigstens jetzt Hilfskolonnen, Material und Geld im großen Stil hier einzusetzen und zusätzlich auch nach Lampedusa und Kos, an die ungarischen und serbischen Grenzen und sonstige Brennpunkte zu schicken, um bei der Versorgung, Registrierung und Asylantragsbearbeitung zu helfen, die wir von den dortigen Behörden fordern.

Aber nein, lieber verbietet man den betroffenen Ländern, selbst Kredite aufzunehmen, um diese Aufgaben zu bewältigen, und rügt sie dafür, wenn sie diesen Aufgaben nicht mehr gerecht werden, die Menschen weiterreisen und uns die Folgen dieser Völkerwanderung selbst spüren lassen. Legale Wege der Einreise zu schaffen, um dem Sterben auf den Fluchtwegen ein Ende zu setzen, wäre der zweite wichtige Punkt. Aber auch hier scheint keine Vernunft bei den Verantwortlichen einziehen zu wollen.

Dass beide Krisen, die Eurokrise und die auf Europa übergreifende Flüchtlingskrise im Nahen und Mittleren Osten, zeitlich zusammenfallen, ist eine historische Katastrophe. Das Zeitfenster für eine Wende zum Besseren, das sich mit dem arabischen Frühling geöffnet hatte, ist wieder fest geschlossen. Europa, mit seiner selbst eingebrockten Eurokrise beschäftigt und diese durch ideologische Verbohrtheit seiner Eliten verlängernd, hat die Gelegenheit verstreichen lassen, zur friedlichen Entwicklung des arabischen Raumes beizutragen.

Nun holt Europa dieses Versäumnis unausweichlich ein, und es kommt nicht nur die zu uns fliehenden Menschen sondern auch uns selbst teuer zu stehen – teuer im Sinne des Vorschubs, den es nationalistischen Kräften liefert. Die europäische Wertegemeinschaft droht zur Schönwetterveranstaltung zu verkommen, die Auszeichnung der EU mit dem Friedensnobelpreis 2012 muss auf die Schutzsuchenden wie Hohn wirken.

Was ist zu tun?

Das Stichwort Ursachenbekämpfung ist wohlfeil, wenn man am Münchener Hauptbahnhof steht. Es bleibt im ersten Schritt nichts anderes übrig, als Zeit zu kaufen durch eine großzügige, kreditfinanzierte Versorgung der Asylsuchenden hierzulande und im Rest Europas, um diese Zeit dann für internationale Verhandlungen zur Befriedung des Nahen und Mittleren Ostens zu nutzen.

Doch es ist so gut wie ausgeschlossen, dass die dafür erforderliche wirtschaftspolitische Kehrtwende in Europa vom gegenwärtigen politischen Personal zustande gebracht wird, das sie ja explizit ablehnt. So werden die Flüchtlinge von denen zu Sündenböcken gemacht werden, die unter der herrschenden Wirtschaftspolitik leiden, denen aber eine Ursachenanalyse zu mühsam ist und die die Flüchtlingsströme lieber als Wasser auf ihre nationalistischen Mühlen lenken wollen.

Bürgerreporter:in:

Hajo Zeller aus Marburg

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