Das WIR entscheidet - oder die RWE entscheiden?

Marburg, Ende November 2013

Das sozialdemokratische Parteiorgan "Vorwärts" lehnte eine Anzeige des Solarenergie-Fördervereins Deutschland ab. Es sah "sozialdemokratische Grundwerte" in Gefahr. Hier mit freundlicher Genehmigung des SfV eine Einschätzung des Vorgangs durch das SfV-Mitglied Rüdiger Haude:

Wer entscheidet?

Klimaschutz „widerspricht den sozialdemokratischen Grundwerten“

Aus Sorge vor einer weiteren Erdrosselung der Energiewende in Deutschland infolge der gerade laufenden Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD wollte der SFV eine bezahlte Anzeige im SPD-Parteiorgan „Vorwärts“ schalten. Steht doch im Entwurf des Koalitionsvertrages die katastrophale Aussage, die mit Braun- und Steinkohle befeuerten CO2-Dreckschleudern seien „als Teil des nationalen Energiemixes [...] auf absehbare Zeit unverzichtbar“.

Die Auftragsbestätigung für die Veröffentlichung unserer Anzeige lag bereits vor. Wir haben daraufhin eine Klimawandel-Karikatur von Gerhard Mester mit folgendem Text kombiniert: „Klimawandel wird vor allem durch Braunkohle u. Steinkohle verursacht; die Folgen: Zunahme von Stürmen, Überschwemmungen, Hitzewellen. Und in immer kürzeren Abständen immer wieder Tausende von Toten ... Rascher und vollständiger Umstieg auf Erneuerbare Energien ist deshalb von höchster Dringlichkeit. Doch im Koalitionsvertrag heißt es im Gegenteil: '(...) Die konventionellen Kraftwerke (Braunkohle, Steinkohle, Gas) als Teil des nationalen Energiemixes sind auf absehbare Zeit unverzichtbar (...)'

Stimmen Sie diesem Koalitionsvertrag nicht zu! “

Mit der abschließenden Aufforderung wollten wir Einfluss auf die geplante Urabstimmung aller SPD-Mitglieder über den Koalitionsvertrag nehmen. Auf die Zusendung der Druckvorlage dieses Inserats antwortete der „Vorwärts“ am 13.11.2013: „Unsere 'Richtlinien' für die Schaltung von Anzeigen im vorwärts besagen, dass diese nicht den sozialdemokratischen Grundwerten widersprechen dürfen. Das wäre bei dieser Anzeige aber leider der Fall. (...) Es steht Ihnen jedoch frei, uns ein anderes Anzeigenmotiv vorzuschlagen.“

Gegen solche Richtlinien haben wir im Prinzip nichts einzuwenden. Es wäre fatal, wenn das SPD-Organ zum Beispiel Reklame für die Zerschlagung der deutschen Gewerkschaften oder für die Wahl der „Partei bibeltreuer Christen“ abdrucken müsste. Aber was an unserem Anzeigentext stand im Widerspruch zu den sozialdemokratischen Grundwerten?

Kritik an Kohleverstromung unerwünscht

In der ablehnenden Mail war noch der Hinweis enthalten, dass ein Aufruf zur „Ablehnung des gesamten KOA-Vertrages aufgrund eines Satzes/eines Themas“ nicht akzeptabel sei. Wirklich nicht? Wir hätten den SPD-Mitgliedern eigentlich zugetraut, dass sie ihr Abstimmungsverhalten selbstständig im Lichte des gesamten Vertragstextes ausrichten, so dass wir als Umweltschutz-Organisation auf jenen Punkt hinweisen durften, der nach unserer Überzeugung allerdings tatsächlich schwerer wiegt als die meisten anderen.

Inwiefern es zu den sozialdemokratischen Grundwerten gehört, dass man sich zu allen Aspekten eines 92seitigen Papieres äußern muss, wenn man auf den Skandal einer darin enthaltenen Passage hinweisen will, ist uns nicht verständlich geworden. Dennoch haben wir der freundlichen Aufforderung, eine andere Anzeige einzureichen, postwendend Folge geleistet. Die Aufforderung, den „KOA-Vertrag“ abzulehnen, war darin durch das Bekenntnis ersetzt: „Als Umweltschutzverein sind wir über diesen Punkt entsetzt.“

Auf diese Entschärfung der Anzeige reagierte der „Vorwärts“ mit einer erneuten Absage, wobei auf die bereits zuvor genannten Gründe verwiesen wurde. Also: Auch unser Entsetzen widerspricht den sozialdemokratischen Grundsätzen? Eigentlich lässt die ganze Affäre nur den Schluss zu, dass Kritik an der Pro-Kohle-Position der entstehenden Großen Koalition nach Meinung des „Vorwärts“ nicht mit „den sozialdemokratischen Grundwerten“ vereinbar ist. Also noch einmal: um welche Grundwerte geht es dabei?

Kohle- und Gaskraftwerke als Brückentechnologie?

Die SPD ist bei den Bundestagswahlen aufgrund eines 120seitigen „Regierungsprogramms“ gewählt worden, von dem wir unterstellen, dass es den sozialdemokratischen Grundwerten nicht widerspricht. Dort heißt es zum Thema Klimawandel: „Wir werden den Klimawandel bekämpfen und bis zum Jahr 2050 mindestens 95 Prozent unserer CO2-Emissionen im Vergleich zum Basisjahr 1990 absenken.“ (S.91) Zur Energiepolitik ist zu lesen, die Sozialdemokraten wollten „vor allem durch eine echte Energiewende den Produktions- und Industriestandort Deutschland sichern und stärken“ (S.11).

Zu den konkreten politischen Weichenstellungen hieß es freilich schon in diesem Programm, „nur in Windparks auf See“ könnten „auf regenerativer Basis große Strommengen produziert werden“; und überdies setze man „ ebenso (noch) auf konventionelle Energieerzeuger, wie Kohle-und Gaskraftwerke, als Brückentechnologie, solange wir sie brauchen“ (S.35).

Nehmen wir an, diese irrigen Positionen, die vor allem einem Unverständnis gegenüber den Vorzügen eines dezentralen Energieversorgungssystems geschuldet zu sein scheinen, würden ebenso „sozialdemokratischen Grundwerten“ entsprechen, wie das Bekenntnis zu einer „echten Energiewende“ und zu ehrgeizigen Reduktionszielen beim CO2-Ausstoß: Dann widersprechen die diversen sozialdemokratischen Grundwerte einander, und die SPD täte gut daran, in die Debatte darüber einzutreten, welche dieser Grundwerte vorrangig sein sollen.

Sie könnte dann auch darüber streiten, ob z.B. Arbeitsplätze im Braunkohle-Tagebau wichtiger sind als die in den Produktions-und Installationsbetrieben der Wind- und Solarstrom-Anlagen. Ministerpräsidentin Kraft (NRW) scheint ja dieser Ansicht zu sein. Unsere SFV-Anzeige im „Vorwärts“ hätte einen kleinen Beitrag auch zu solcher überfälligen Klärung der sozialdemokratischen Grundwerte und ihrer möglichen Überführung in die Realität des 21. Jahrhunderts leisten können.

Wahrscheinlich gibt es aber gewichtigere Beiträge zu dieser Debatte. Diese geraten selten ans Licht der Öffentlichkeit. Aber man gewinnt zunehmend den Eindruck, dass beim SPD-Wahlkampfslogan von 2013, der auch dem oben zitierten „Regierungsprogramm“ als Titel diente, der Druckfehlerteufel ein paar Buchstaben durcheinandergewirbelt hat. Nicht „Das WIR entscheidet“ hätte es heißen müssen, sondern „Das RWI entscheidet“. Oder, noch eine Stufe ehrlicher: „Die RWE entscheiden“. Sozialdemokratische Grundsätze eben.

Rüdiger Haude

SPD: Das WIR entscheidet. Das Regierungsprogramm 2013-2017. Online hier abrufbar

Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung, ein scheinwissenschaftliches Lobby-Institut, das hauptsächlich die Interessen des Atom- und Kohle-Konzerns Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerke (RWE) sowie der aggressiv neoliberalen „Initiative Neue soziale Marktwirtschaft“ vertritt. Die Torpedierung des EEG gehört zu den Lieblingsbeschäftigungen des RWI.
Weitere Informationen über das RWI hier

Bürgerreporter:in:

Hajo Zeller aus Marburg

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