1914 - vor hundert Jahren musste die Marburger Straßenbahn die Heumarktlinie einstellen

Endhaltestelle "Heumarkt" der Marburger Straßenbahn | Foto: Presseamt der Stadt Marburg
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Vor hundert Jahren musste 1914 zu Kriegsbeginn die Marburger Straßenbahn den Betrieb der Heumarktlinie einstellen.

Nach der sofortigen Mobilmachung ab dem 2. August hatte die Direktion der Marburger Straßenbahn innerhalb von drei Tagen 16 der 20 Straßenbahnführer verloren. Sie mussten in den Krieg ziehen. Über die Auswirkungen erzählt dieser Bericht.

Der plötzliche Kriegseintritt hatte - abseits vom Jubel - unerwartete und schlimme Folgen. In den Familien fehlte der Ernährer und in vielen Betrieben die Arbeiter.

Hier die Darstellung, wie sich die Leitung der Marburger Straßenbahn auf die Kriegssituation einstellen musste.

1911 hatten die Marburger endlich ihre „Elektrische“ bekommen, zuerst nur vom Hauptbahnhof zum Wilhelmsplatz. Die Elektrische löste die Pferdebahn ab, die seit 1903 durch Marburgs Straßen bimmelte. Vorher hatte es ab 1892 bereits einen Pferdeomnibus gegeben, der nach Fahrplan fuhr (abgestimmt auf die An- und Abfahrtszeiten der Züge am Bahnhof).

Als 1912 für die Elektrische auch die Strecken vom Wilhelmsplatz bis Südbahnhof und vom Wilhelmsplatz zum Heumarkt in Betrieb gingen, hatte Marburg drei Linien:

Hauptbahnhof – Wilhelmsplatz
Südbahnhof – Wilhelmsplatz
Wilhelmplatz – Heumarkt (Oberstadtlinie)

(Siehe Darstellung im Stadtplan von Marburg)

Gemäß Fahrplan trafen sich die drei Linien zur gleichen Zeit am Wilhelmsplatz, so dass jeder, der wollte, weiterfahren konnte.

Die Personallisten der damaligen Straßenbahnverwaltung geben Auskunft darüber, wer in Marburg die ersten Wagenführer der Elektrischen waren:

Anhand der Nummerierung erhielten die ersten ausgegebenen „Fahrscheine“ (= Führerscheine):
Nr. 1 - Johannes Schneider (von der Pferdebahn übernommen),
Nr. 2 - Jakob Willershausen,
Nr. 3 - Heinrich Lau,
Nr. 4 - Dietrich Friebertshäuser,
Nr. 5 - Justus Wagner,
Nr. 6 - Heinrich Mackowiak,
Nr. 7 - Otto Figge,
Nr. 8 - Heinrich Walter,
Nr. 9 - Adam Damm.
Nr. 10 - Ludwig Weber (ebenfalls ehemaliger Pferdebahnwagenführer),
Nr. 11 - Johannes Eucker,
Nr. 12 - Georg Wenz
Betriebsassistent war Frohme für die Buchführung.
Maschinenmeister Lülfing und Betriebswerkmeister Schabrich waren zudem als Kontrolleure tätig.

Bis zum Ersten Weltkrieg kamen noch Ludwig Geißler, Georg Henkel, Max Allendorf, Ludwig Richter, Konrad Schneider, Heinrich Wellner, Johannes Vaupel und Richard Tänzler hinzu.

Doch der Kriegsbeginn 1914 bedeutete für alle bei der Marburger Straßenbahn Beschäftigten einen schweren Einschnitt, der Befehl zur Mobilmachung traf die Marburger Straßenbahn schwer.

Von den 20 im Fahrdienst angestellten wurden 16 Mann zu den Fahnen einberufen. Und im Betriebsbericht der Straßenbahn der Stadt Marburg über die Zeit vom 1. Juli bis 30. September 1914 hieß es dazu:

„Dies stellte die Direktion vor eine schwere Aufgabe. Die Plötzlichkeit des Kriegsausbruches hatte es verhindert, für diesen Fall vorher Vorsorge zu treffen. Wenn auch nicht die ganze Zahl der Einberufenen seit dem ersten Tag der Mobilmachung dem Dienste entzogen wurden, vielmehr ihrem Fortgang entsprechend täglich eine Anzahl verschwand, so war doch am 4. August die volle Zahl der dienstpflichtigen Reserve- und Landwehrmänner dem Straßenbahndienst entzogen.

Dabei machte sich eine Abnahme des Verkehrs durchaus nicht geltend. Er steigerte sich vielmehr während der Mobilisierung zu außerordentlicher Höhe, um allerdings nach deren Vollendung abzuflauen. Zum Ersatz der entstandenen Lücken im Personal wurden zunächst sich freiwillig meldende Akademiker (Pfarrer, Doktoren, Studenten usw.) ausgebildet und eingestellt.

Der Betrieb der Hauptstrecke Hauptbahnhof – Südbahnhof brauchte dank dieser Anstrengungen nur wenig eingeschränkt werden. Dagegen musste der der Oberstadtlinie eingestellt werden.“

(Siehe Abbildung der Anzeige vom 2. August 1914 in der Hessischen Landeszeitung)

Aus Mangel an Wagenführern befanden sich im gesamten August 1914 täglich nur zwei bis maximal vier Wagen im Betrieb. Statt alle 10 Minuten wurde nur noch alle 20 Minuten gefahren. Die Wagen waren sicherlich jeweils bis auf den letzten Platz besetzt. Erst ab 1916 konnten wieder sechs der insgesamt vorhandenen zehn Wagen mit Wagenführern eingesetzt werden.

Die Linienführung in der Oberstadt war jedoch nicht vom Strom abgekoppelt worden. In den späteren Kriegsjahren wurde die Strecke für den Güterverkehr benutzt. Waren vom Hauptbahnhof wurden mit der Elektrischen über den Wilhelmsplatz bis zum Saalbau (Barfüßerstraße, heute: Institut für Leibesübungen) befördert.

Eine Reihe der in den Kriegsjahren neu ausgebildeten Wagenführer wurden ebenfalls bald zum Militärdienst gerufen und rissen neue Lücken auf. Vom Minister in Berlin war die Anweisung an den „Verein deutscher Straßenbahn- und Kleinbahnverwaltungen“ gekommen, bei der Unterbringung der Kriegsbeschädigten in ihren Betrieben mitzuwirken.

Daraufhin ist in den Akten vermerkt, dass am 16. Oktober 1915 der Kriegsinvalide Weißbinder Heinrich Scherer aus Wetter als Bote eingestellt worden sei. Scherer war Landwehrmann beim 83. Infanterie-Regiment, 4 Komp. und bei einem Gefecht im Argonnenwald hatte er seinen linken Arm verloren. Am 18. Oktober 1915 wurde der Kriegsinvalide Arbeiter Konrad Bodenbender von Marburg als Wagenführer eingestellt. Bodenbender war Reservist beim gleichen Regiment wie Scherer und bei Mousson durch Granatsplitter im Gesäß und Hüfte verwundet worden.

Um weitere Arbeitskräfte zu erhalten, hatte der Direktor der Marburger Straßenbahn, Lautemann, bei der Königlichen Einsenbahndirektion in Kassel 1916 nachgefragt, ob es statthaft sei, für die durch Einberufungen fehlenden Wagenführer während der Kriegszeit Frauen als Wagenführer einzustellen.

Schon kurz darauf erhielt er als Antwort, dass eine Genehmigung nicht zu erteilen sei. Den Frauen fehle es, so wurde befürchtet, in Gefahrfällen entschlossen handeln zu können. Auch besäßen sie keine ausreichenden Körperkräfte, um die Handbremse der Motorwagen längere Zeit ordnungsmäßig zu bedienen.

Energie und Rohstoffe wurden im Kriegsverlauf immer knapper. Weil die elektrische Straßenbahn beim Anfahren besonders viel Strom benötigte, kam aus Berlin die Anweisung, jede zweite Haltestelle abzuschaffen. Da die Marburger Straßenbahn allerdings ihren Strom statt aus Gas- oder Dieselaggregaten aus dem mit Wasser betriebenen Elektrizitätswerk am Rudolphsplatz bezog, schrieb Lautemann nach Berlin und bat um eine Ausnahmegenehmigung. Diese wurde abgelehnt. Noch lange nach Ende des Ersten Weltkriegs stellten Anwohner der „Engen Gasse“ am Pilgrimstein den Antrag, die Haltestelle wieder anzufahren. 1919 wurde sie dann „Bedarfshaltestelle“.

Im August 1914 hatte alle erwartet, der Krieg würde nur wenige Wochen dauern. Doch bis Kriegsende im November 1918 forderte er Millionen Opfer. Nicht alle zum Militärdienst eingezogenen Bediensteten der Straßenbahn kehrten aus dem Krieg zurück. Sieben Wagenführer: Max Allendorf, Ludwig Müller, Jakob Willershausen, Georg Henkel, Wilhelm Bröker, Heinrich Schott und Konrad Schneider waren „im Feld geblieben“, wie man es verharmlosend ausdrückte.

Literatur: Karl-Heinz Gimbel, Die Marburger Straßenbahn, Marburg 2012

Bürgerreporter:in:

Karl-Heinz Gimbel aus Marburg

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