Erhard Eppler: Gegen Russland einen Bruchteil des Horrors wiedergutmachen

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„Wer als Deutscher über Russland und seine Menschen redet, auch über seine Politiker, seinen Präsidenten, muss im Gedächtnis haben, was heute vor 75 Jahren begann. Dann wird jede verletzende Arroganz verfliegen und sich das Bedürfnis regen, wenigstens einen Bruchteil des Horrors wiedergutzumachen.“ Das sagte Erhard Eppler am 22.6.2016 in einer Rede zum 75. Jahrestag des Krieges gegen die Sowjetunion. Er hebt sich wohltuend von den neuen Kalten Kriegern in der NATO, der EU und in der Bundesrepblik ab.

Auszüge aus der Rede von Erhard Eppler

Die Rede vollständig nachlesen hier

Was ich heute hier zu sagen habe, verantworte ich ganz allein. Ich rede für keine Partei, keinen Verein, keine Kirche. Ich rede als einer der Letzten der Flakhelfer-Generation, als einer, der das letzte Jahr des letzten Krieges noch als regulärer Soldat des Heeres überlebt hat.

Wer solche und allzu ähnliche Geschichten mit sich herumträgt, kommt nie in die Versuchung, über Russen aus der Position moralischer Überlegenheit zu reden. Aber genau dies ist wieder Mode geworden.

Dass Menschen, die keineswegs abartig böse waren, so handeln konnten, war nur möglich, weil die Führung der Wehrmacht ihre Soldaten hat wissen lassen, dass ein Russenleben nicht annähernd so wertvoll sei wie das eines Deutschen.

Daher erst ein paar Fakten, die das Besondere dieses Feldzugs erkennbar machen:

Daher erst ein paar Fakten, die das Besondere dieses Feldzugs erkennbar machen:

1. Was heute vor 75 Jahren begann, war zuerst einmal der Bruch eines Nichtangriffspaktes, der noch keine zwei Jahre alt war.

2. Die kriegsrechtswidrigen Befehle an die Wehrmacht, der Kommissarbefehl oder der Befehl, dass Kriegsgerichte sich nicht mit Verfehlungen an der Zivilbevölkerung zu beschäftigen hätten, waren keine Reaktionen auf Handlungen der roten Armee, sie wurden lange vor Beginn des Feldzugs, oft schon im März 1941, erlassen.

3. Da es zu Beginn kaum deutsche Kriegsgefangene gab, war das Sterbenlassen, Verhungernlassen von Millionen russischer Kriegsgefangenen eine von niemandem provozierte Entscheidung allein der deutschen Führung.

4. Ziel des Überfalls war nicht nur das Ende des Stalinismus, sondern das Ende jeder selbständigen Staatlichkeit auf dem Gebiet der Sowjetunion. Slaven galten als nicht staatsfähig, sie sollten Sklavendienste leisten.

5. Der Überfall vor 75 Jahren war die erste militärische Operation in der europäischen Geschichte, der eine Rassenlehre zugrunde lag. Danach gab es Völker, die zur Herrschaft, andere, die zur Sklaverei geboren waren. Erst auf diesem Hintergrund verstehen wir, was die Russen als den „Großen Vaterländischen Krieg“ feiern.

Man konnte die slawischen Völker nicht, wie die Juden, einfach ausrotten, aber man konnte sie dezimieren. So war der Hungertod von mehr als drei Millionen Kriegsgefangenen nicht nur darauf zurückzuführen, dass die Wehrmacht in den ersten Monaten mit der Zahl der Gefangenen überfordert war, er war die Folge von Entscheidungen, die diesen schauerlichen Hungertod als Mittel der Dezimierung rechtfertigten. Die kriminellen Ziele erzwangen die kriminellen Mittel.

Dankbar verwundert habe ich mir in den Siebzigerjahren sagen lassen, dass die Mehrheit der Russen, die den Sieg über die Invasoren feiern, den Deutschen vergeben haben, dass sie erleichtert waren, als Willy Brandt die Versöhnung einleitete. Wenn es stimmt, dass seit der Ukrainekrise die Stimmung in den russischen Familien wieder umgeschlagen ist, muss uns das zu denken geben. Gelten wir jetzt als undankbar?

Es gibt inzwischen auch einen russischen Nationalismus. Er ist vor allem durch die Ukrainekrise gewachsen. Es ist ein Nationalismus der Enttäuschung, der Verletzung, des Trotzes, ja der Demütigung, wie er im Deutschland der Zwanzigerjahre aufkam. Deshalb kann ich ihn verstehen, muss ihn aber auch fürchten. Reichlich naiv finde ich die Stimmen im Westen, die uns belehren, die Russen hätten doch gar keinen Anlass, kein Recht, sich gedemütigt zu fühlen. Noch nie hat ein großes Volk andere um die Erlaubnis gebeten, sich gedemütigt zu fühlen. Gerade das Nichtverstehen wird als zusätzliche Demütigung empfunden. Wir sollten uns eher fragen, was wir Deutschen dazu beigetragen haben und was wir tun können, diesem Nationalismus den Nährboden zu entziehen.

Zu diesem Nährboden gehören auch Sanktionen. Sie trennen konkurrierende Nationen in Richter und Delinquenten. Damit kein Missverständnis aufkommt, lassen Sie mich konkret werden: Der russische Präsident Wladimir Putin bedient sich vielleicht manchmal dieses Nationalismus, aber er ist viel zu rational, viel zu klug, um sich davon mitreißen zu lassen. Ich fürchte nicht ihn. Ich fürchte den seiner Nachfolger, die sich von einem Nationalismus der Gedemütigten tragen und bestimmen ließen. Er könnte wirklich so sein, wie viele im Westen heute Putin malen. Ich rede von diesem Nationalismus, weil wir ihn anheizen und weil wir ihm den Boden entziehen können, etwa dadurch, dass die Bundesrepublik des Vereinigten Deutschland darauf besteht, dass das leidgeprüfte Volk der Russen ein europäisches Volk ist und dass ihm ein Platz in einem europäischen Haus zusteht.

Ein neues Wettrüsten mit Russland erinnert in diesem Zusammenhang an einen schlechten Scherz. Und wenn wir mit Moskau reden wollen, dann lautet das wichtigste Thema: Wie lässt sich dieser vermeidbare Unsinn vermeiden?

Ich sehe auf beiden Seiten kein Interesse an einem neuen – geschichtlich gesehen gänzlich obsoleten – Krieg. Die NATO ist nicht so verrückt, Hitler kopieren zu wollen. Und Wladimir Putin hütet sich, die NATO direkt herauszufordern. Als der ukrainische Ministerpräsident Jazenjuk fast täglich erklärte, sein Land befinde sich im Kriegszustand mit Russland, hat Putin dies einfach überhört. Er hätte dies auch als Kriegserklärung werten und seine Divisionen marschieren lassen können. Dass Putin – und zwar nach der Sezession der Krim – diese annektiert und damit das Völkerrecht verletzt hat, ist kein Beweis dafür, dass er halb Europa erobern will. Immerhin liegt in Sewastopol die russische Schwarzmeerflotte. Sollte der russische Präsident zitternd abwarten, ob eine leidenschaftlich antirussische Regierung in Kiew nicht doch Gründe finden würde, den Pachtvertrag zu kündigen? Michail Gorbatschows Aussage, er hätte in Sachen Krim nicht anders gehandelt als Putin, sollte uns zu denken geben. Russen, ob sie Putin oder Gorbatschow heißen, fühlen sich in der Defensive.

Wenn man sinnvoll miteinander reden will, dann darüber, wie sich ein Wettrüsten durch Rüstungsbegrenzung und Entmilitarisierung auf beiden Seiten verhindern lässt. Und wenn man dann bei der sehr praktischen Aufgabe der friedlichen Grenzsicherung vorankommt, dann kann man sich auch einmal darüber austauschen, wo und wie der Grundstein zum gemeinsamen europäischen Haus zu legen wäre.

VI. Ich habe zu Beginn gesagt, ich rede f ü r niemanden. Das stimmt nicht ganz. Ich rede für meine sechs Urenkel, die nun, vital und charmant, herankrabbeln. Ich möchte nicht, dass sie einst in einem Europa leben, das nur noch ein amerikanischer Brückenkopf in einem chinesisch-russischen Eurasien ist. Ich möchte nicht, dass alter Hass und neuer Unverstand Russland in eine Allianz treibt, die es nicht will und die Europa extrem verletzbar und abhängig machen müsste.

Ich möchte, dass dieser Jahrestag, an dem die Völker der Sowjetunion ihren großen, opfervollen vaterländischen Krieg feiern und wir Deutschen an einen der dunkelsten Abschnitte unserer Geschichte erinnert werden, auch zu einem politischen Willen führt: die neue und völlig unzeitgemäße Spaltung unseres Kontinents zu verhindern.

Der 22. Juni 1941 ist ein europäisches Datum. Wenn jemand die Pflicht und dann eben auch das Recht hat, daraus Schlüsse abzuleiten, dann sind es wir Deutschen. Einer davon muss lauten: Wir werden nicht einfach zusehen, wie die legitimen Teile Europas gegeneinander aufgerüstet werden. Und wir werden keine Ruhe geben, bis aus Gorbatschows Traum vom Europäischen Haus Wirklichkeit wird

Bürgerreporter:in:

Hajo Zeller aus Marburg

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