Angst: Wir suchen Schuldige, keine Lösungen

Dieser Kommentar spricht mir aus der Seele.

Wir suchen (die falschen) Schuldigen, keine Lösungen

geschrieben am 20. Januar 2016 von Joerg Wellbrock (Tom W. Wolf)
veröffentlicht auf dem Blog Spiegelfechter

Normal ist das nicht. Nur einfacher. Wir sehen die Probleme, aber wir suchen nicht nach Lösungen. Wir wissen irgendwie schon, dass Menschen auf der Flucht das nicht in der Absicht tun, andere Länder zu überfallen. Weil sie gar nicht in der Stimmung dazu sind. Wer nur noch die Klamotten am Leib trägt, ist nicht in Überfallstimmung. Das wissen wir im Grunde. Aber wir sehen nicht, wie es dazu kommen konnte, es wird uns auch gern vorenthalten, dass wir diejenigen sind, die andere überfallen. Täglich. Mir gravierenden und tödlichen Auswirkungen.

Schuldige statt Lösungen

Also stürzen wir uns auf vermeintlich Schuldige. Kommen zum Schluss, dass alles nicht so schlimm sein kann, solange ein Mensch auf der Flucht ein Handy hat. Oder sich „erlauben“ kann, seine Familie vorerst zurück zu lassen. Die Gründe für die Flucht von Menschen … na ja, die wollen halt zu uns, weil es hier zu geil ist. Fernseher, Handys eben, blonde Frauen, die man einfach vögeln kann, in der Silvesternacht, und überhaupt, auch wenn nicht Silvester ist, das geht hier alles. Nebenbei, ohne Pass, eine Weile warten, dann coole Jobs annehmen, Kohle scheffeln und ab nach Hause, um in Saus und Braus zu leben. Deutsche Sprache oder Kultur? Drauf geschissen. So sind sie, die Flüchtlinge!

Mal ehrlich, das ist doch so absurd, dass es eigentlich niemand glauben kann, oder? Sollte man meinen, ist aber nicht so. Das Bild, das skizziert wird, ist einfach. Da wird Menschen unterstellt, sie kämen aus lauter Gier und Geilheit zu uns, wollten uns den Koran aufzwingen, prügeln und vögeln sich durchs Land, weil wir es erlauben. Also, unsere Politiker, genau genommen. Zumindest die bösen Politiker. Oder die Gutmenschen. Oder was sonst noch so kreucht und fleucht. Irgendwann haben wir hier gar nichts mehr zu sagen, und dann ist echt Ende im Gelände. Dann bleibt uns nicht mal mehr Weihnachten. Nicht mal mehr Weihnachten! Ehrlich, das kann’s ja nun auch nicht sein.

Ok, genug!
Das Bild, das sich derzeit abzeichnet, ist das einer Insel ohne Wasser drum herum. Diese wasserlose Insel heißt Deutschland, und sie droht unterzugehen, unter das Wasser gedrückt zu werden, das sie nicht umgibt. Durch viel zu viele Menschen, die zu uns kommen, um uns quasi nebenbei unser Abendland zu rauben. Das ist aber – nicht nur wegen des Wassers, das nicht da ist – kein realistisches Bild. Weil zwar die Rufe nach Grenzschließungen immer lauter werden, die Globalisierung aber schon jahrelang in Gange ist. Es funktioniert so einfach nicht. Man kann nicht auf der einen Seite andere Länder kaputt exportieren und Waffen in die Welt liefern, bis der Arzt kommt (zum Beispiel wegen der Dinge, die Waffen allgemein so anrichten). Und sich auf der anderen Seite darüber wundern, dass Menschen deswegen auf der Flucht sind.
Aber sprechen wir doch über die Schuldigen. Oder die, die es angeblich sein sollen.

Flüchtlinge sind per se unschuldig. Klingt komisch, ist aber so. Weil sie flüchten. Vor etwas, das sie nicht beeinflussen konnten. Vor Diktaturen. Vor Krieg. Vor Hunger, Armut, Perspektivlosigkeit. Es ist schon unzählige Male gesagt worden, aber es wird irgendwie nie gehört: Flüchtlinge flüchten! Sie laufen weg vor Zuständen, die das Leben nicht mehr lebenswert machen. Das ist doch eigentlich gar nicht so schwer zu verstehen. Wer verlässt freiwillig seine Heimat, seine Familien, seine soziales Umfeld? Jemand, der keine Chance mehr sieht. Alleine diese simple Erkenntnis würde etwas helfen, Flüchtlingen keine böse Absicht zu unterstellen. Es gibt diese böse Absicht einfach nicht.

Aber es gibt böse Menschen. Überall auf der Welt, vielleicht haben Sie schon einmal darüber gelesen. Man munkelt, es gäbe sogar in Deutschland böse Menschen. Menschen, die kriminell sind, die vergewaltigen, prügeln, rauben, morden. Tatsächlich, die gibt es. Und einige von denen kommen zu uns. Ja, gibt’s denn so was?! Tatsächlich, das gibt es. Und wenn diese Menschen sich nicht an die Regeln halten, dann haben sie ein Problem. Mit uns. Mit unserer Polizei, der Justiz, der Politik, der Gesellschaft an sich. Wobei wir der Vollständigkeit halber festhalten müssen, dass auch die bösen Deutschen (die es gibt, wie wohl niemand bezweifeln wird) ein Problem haben, das sich von denen aus dem Ausland in keiner Weise unterscheidet. Aber deren Gefängnisaufenthalt zahlen wird gerne, es sind ja gute böse Deutsche. Während die bösen Ausländer (die nicht gut sind, das fürs Protokoll) nicht auch noch in den Genuss kommen dürfen, sich in unseren Knästen einen feinen Lenz zu machen. Zahlen wir ja schließlich. Apropos zahlen – wir kommen zum nächsten Punkt.

Was zahlt uns der Staat eigentlich noch so? Das hält sich doch in Grenzen, müssen wir erkennen. Die Löhne stagnieren seit deutlich mehr als 10 Jahren, schlimmer noch, sie gehen zurück, durch den von Gerhard Schröder angepriesenen viel beschworenen „Niedriglohnsektor“ (was für ein sperriges, verschleierndes, unangenehmes Wort!). Die Krankenkassenbeiträge steigen kontinuierlich. Die Renten sacken so fleißig ab, wie die Arbeiter und Angestellten für sie arbeiten. Gleichzeitig wird fast wöchentlich verkündet, dass die Arbeitslosigkeit so niedrig wie seit ewigen Zeiten nicht mehr sei. Minijobber, befristet Angestellte und Zeitarbeiter reiben sich verwundert die Augen und ärgern sich, dass sie von dieser wundervollen Sache irgendwie nichts haben. Und wir sind beim – wer hätte as gedacht? – nächsten Punkt.

Wir haben Angst. Dem wird kaum jemand widersprechen. Aber wir haben keine Angst vor den Menschen, die auf ihrer Flucht zu uns kommen, auch wenn uns das jeden Tag suggeriert wird.

Wir haben Angst, dass uns genommen wird, was wir haben. Und das ist genau genommen nicht mehr viel. Ok, wir haben unsere Flachbildfernseher an die Wand geschraubt, wir fahren Autos mit feinen Abgaswerten (von den weniger feinen Abgaswerten mal abgesehen), wir wir haben Null-Prozent-Finanzierungen, auch wenn uns langsam dämmert, dass es nichts, aber auch gar nichts, für null Prozent gibt. Wir fliegen in den Urlaub, wenn wir es uns leisten können (was immer seltener der Fall ist) und informieren uns vorher, ob das Land sicher ist. Aber wir fragen uns nicht, wie sicher unser Land eigentlich ist. Sicher im Sinne von: es wird sich um uns gekümmert.

Denn es wird sich eben nicht (mehr) um uns gekümmert. Deswegen vergraben wir uns, ignorieren die viel zu hohen Raten der Null-Prozent-Finanzierung, verdrängen, dass wir uns auf einen Abgrund zubewegen, suchen nach Erklärungen, finden sie nicht, entdecken Flüchtlinge. Ja, die sind es, die müssen es sein! Die nehmen uns alles weg, was wir längst nicht mehr haben!

Unsere Angst ist verständlich. Ebenso verständlich wie die Angst der Menschen, die flüchten (ein direkter Vergleich der Lebenssituationen verbietet sich aber), die hoffen, hier eine Zuflucht zu finden. Sie sind naiv, falsch informiert, diese Menschen. Weil sie ein Bild entwickelt haben, das nicht stimmig ist. Denn wir sind nicht (mehr) bereit, nach Lösungen zu suchen. Nicht nach Lösungen für uns, und schon gar nicht nach Lösungen für die Menschen, die flüchten.

Unsere Angst gilt – auch wenn wir uns das einreden – nicht der Sorge, was uns die Menschen wegnehmen könnten, die aus Angst, aus Todesangst zu uns kommen. Unsere Angst gilt der Tatsache, dass uns immer mehr genommen wird und dass immer weniger da ist, was uns überhaupt noch weggenommen werden kann. Von wem? Von denen, die uns glauben machen wollen, sie seien für uns da.

Würden wir wirklich nach Lösungen suchen, wir würden an diesem Punkt ansetzen. Und uns Gedanken darüber machen, wie konstruktiv es sein kann, ganze Völker oder Religionsgemeinschaften unter Generalverdacht für was auch immer zu stellen.

Bürgerreporter:in:

Hajo Zeller aus Marburg

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