Siegertexte im Schreibwettbewerb: Kirschblütenträume (von Jana Schrader)

Jana Schrader liest aus ihrem Siegertext. (Foto: Daniel Junker, Leine-Nachrichten)
  • Jana Schrader liest aus ihrem Siegertext. (Foto: Daniel Junker, Leine-Nachrichten)
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Beim Schreibwettbewerb des Kunstkreises Laatzen zusammen mit dem Calenberger Autorenkreis hat Jana Schrader (18) aus Hildesheim mit diesem Text in der Altersklasse "Klasse 9 bis 13" den ersten Preis gewonnen:

Kirschblütenträume
Von Jana Schrader

Jetzt
Ein junger Mann stapft durch den winterlich verschneiten Park, die Hände tief in den Taschen seines abgenutzten Mantels vergraben, die Mütze zum Schutz gegen den schneidenden Wind tief ins Gesicht gezogen. Er geht schnell, setzt hastig einen Fuß vor den anderen, den Blick starr auf den Boden geheftet. Er hat kein Auge für die Kinder, die laut jauchzend durch den Park toben, die kleinen zarten Flocken, die leise vom Himmel rieseln, oder das Eis auf dem Parkteich, das in der Wintersonne geheimnisvoll glitzert. Stur hastet er durch die geheimnisvoll weiße Welt des Parks, bis er schließlich vor einem Baum ziemlich am Ende des Parks zum Stehen kommt. Es ist ein alter Baum, wie die zahlreichen Lebensringe, Knorpel und Verästlungen in seinem dicken, gräulich-schwarzen Stamm verraten. Seine kräftigen Äste strecken sich wie lange Arme dem grauen Himmel entgegen. Aus Mitleid über ihre winterliche Kahlheit hat die Natur ihnen einen weißen Mantel umgelegt. Rund um den Stamm des Baumes ist eine hölzerne Bank gezogen, auf der ein weißes Kissen ruht. Dieses Kissen wischt der Mann mit Fingern in ledrigen Handschuhen fort, um sich zu setzten.
Er ist hübsch. Schlank, elegant mit heller Haut und dunklem blau-schwarzem Haar. Sein Gesicht faltenlos jung, seine hohen Wangenknochen und die vollen Wimpern verleihen ihm beinahe aristokratische Züge. Und dennoch hat er das Wesen eines jungen Menschen, der innerhalb einer kurzen Zeit um Jahre gealtert ist. Die Schatten von Schmerz und Leiden haben sich über seine dunklen Augen gelegt und seine Züge verhärten lassen. Noch am Anfang dieses Jahres, dass sich nun seinem Ende zuneigte, war er voller Leichtigkeit und Naivität in die Welt hinausgegangen, bereit, sich in jedes Abenteuer zu werfen, alles zu probieren, jede sich ihm bietende Möglichkeit zu nutzen. Doch dann hatte sich der Wind gedreht und er hatte die Leichtigkeit des Seins verloren.
Sein Untergang hat, wie bei so vielen vor ihm, mit einer Frau begonnen. Einer Frau, die ihn verzaubert, ihn verhext, ihn mit ihrem Wesen umlagert hatte.

Zuvor
Das erste Mal traf er sie an einem warmen Tag im Frühling, dem ersten Tag des „Beotkkot Chukje“, des Kirschblütenfestes. An jenem Tag war der Park voller Menschen gewesen, die in traditionellen Kleidern mit ihren Familien und Freunden mit Decken auf den Grünflächen des Parks saßen und mit viel Soju und Reiskuchen die rosa-weiße Pracht feierten, die für wenige Monate das ganze Land wie verzaubert aussehen ließ. Über ihnen bogen sich die Äste der Parkbäume unter ihrer schweren Blütenpracht bis zum Boden hinab und strichen sacht über das frische grüne Gras. Die Luft war erfüllt von fröhlichem Gelächter, Stimmengewirr und der Freude darüber, einmal die Last des Alltags abwerfen und einfach nur genießen zu können.
Der junge Mann war allein unterwegs. Er war erst vor wenigen Wochen seinem Wunsch gefolgt, den vertrauten Heimatort zu verlassen und ein Studium in Seoul, der Stadt, die niemals schläft, zu beginnen. Seitdem hatten ihn seine Studien so in Beschlag genommen, dass ihm keine Zeit geblieben war, neue Bekanntschaften zu knüpfen. Doch dies konnte ihn nicht betrüben, war er doch in dem Glauben, dieses Versäumnis während der Feiertage nachholen zu können! Fast alle Plätze im Park waren bereits mit Feiernden besetzt, doch fast ganz am Ende des Parks fand er eine freie Bank, die um den Stamm eines besonders großen Baumes gezogen war, auf der nur eine einzelne Person tief über ein Buch gebeugt saß. Zweifelsfrei eine Frau, denn langes schwarzes Haar fiel wie ein Wasserfall über schmale Schultern. „Was für ein schöner Baum und was für schönes Haar!“, dachte er vergnügt. „Sicher hat sie nichts dagegen, wenn ich mich neben sie setze.“ Er trat näher, räusperte sich einmal und fragte dann: „Entschuldigung, aber dürfte ich mich neben Sie setzten?“. Die Frau hob den Kopf.
Ein Gefühl überkam ihn, wie er es noch nie verspürt hatte, als er ihr Gesicht erblickte. Eine solch schöne Frau, da war er sich sicher, gab es auf der Welt kein zweites Mal! Ihre Haut war rein und weiß wie frisch gefallener Schnee, ihre Haare dunkel und seidig glatt, die Lippen zwei rote Kirschen. Dichte Wimpern umrahmten ihre sanften dunklen Augen, in denen kleine Sterne zu funkeln schien, als sie den Blick gegen die warme Frühlingssonne richtete, um ihn sehen zu können. Seine Brust löste sich in etwas Flatteriges auf, das auseinander stob und Platz machte, damit sein rasendes Herz ihr entgegen fliegen konnte. Wärme durchfloss seinen gesamten Körper, seine Wangen begannen zu glühen und seine Beine fühlten sich weich an, ganz so, als hätte er Gelee statt Knochen unter seinem Fleisch. Mit einer Stimme weich und glockenhell sagte sie: „Natürlich.“ Und er setzte sich neben sie, in dem Glauben, der glücklichste Mensch der Welt sein zu müssen, um neben so einem himmlischen Wesen sitzen zu dürfen. Sie roch gut, ein wenig nach frischer Seife und der Erinnerung an den Sommer.
Eine Weile saßen sie schweigend da, sie den Blick auf ihr Buch geheftet, er bemüht, sie nicht allzu offen anzustarren. Doch der Versuch misslang. Sie sah auf, musterte ihn kurz und fragte dann: „Warum schauen Sie mich so an?“ Perplex und ein wenig verwirrt über diese offene Frage aus heiterem Himmel, antworte er wahrheitsgemäß: „Weil Sie so hübsch sind.“. Diese Antwort ließ ihre Wangen erröten. „Vielen Dank“, murmelte sie leise und verbarg verlegen das Gesicht hinter ihrem Haar. Doch nun, da er ihr bereits gesagt hatte was er dachte, wollte er seine Chance nicht verstreichen lassen. Wer wusste schon, ob er sie je wiedersehen würde, wenn er jetzt nicht handelte? „Ich mag Ihre Kleidung“, bemerkte er, „Sie ist so anders.“ Die Frau sah an sich herunter, als ob sie ihre Kleidung selber zum ersten Mal sehen würde. Sie trug eine grau-lila Strumpfhose mit einem blassen Blütenmuster, einen knielangen dunklen blauen Rock mit schwarzem Spitzensaum und einem Muster aus dunkel-grünen Ranken, eine dunkel-blaue Bluse mit Spitzenborte, die an den Ellenbogen zusammengerafft war, darüber eine Art Jacke aus einem weißen Rüschenstoff, einen blauen Hut mit breiter Krempe und weißen Pünktchen, um den Hals einen dicken Schal mit türkisen Ornamenten und an den Füßen hellbraunen Knopfstiefelchen.
„Ich glaube, ich kenne diesen Stil, aber ich habe vergessen wie er heißt“, log er, obwohl er keinen blassen Schimmer hatte, er war modisch gesehen eher unkompliziert, trug nur das, was auch bequem war. Doch sie schien seine Lüge nicht zu merken, denn sie lachte und erklärte: „Er kommt aus Japan und heißt ,Mori‘, was übersetzt ins Koreanische soviel wie ,Wald‘ bedeutet. Wir tragen viel Seconhand und Vintage Kleidung, wobei es unser Ziel ist, so auszusehen, als würden wir im Wald leben.“ „Warum?“, wollte er verwirrt wissen. Sie lachte leise. In seinen Ohren klang es wie das Läuten leiser Glocken. „Ich finde, wir sollten im Einklang mit der Natur leben, zu unseren Wurzeln zurück finden und auf den Herzschlag der Erde lauschen“, sagte sie. „Die Natur ist mein Freund, alle Bäume, Pflanzen und Tiere.“ Sie legte eine schlanke Hand an die Rinde des Baumes hinter ihr und fügte hinzu: „Diesen Baum mag ich besonders. Er ist mein Freund, seit ich ein kleines Mädchen war. Er hört mir zu und tröstet mich.“ Als würde der Baum ihr zustimmen wollen, fuhr eine Brise durch die Zweige und ließ rosa Blüten in ihr Haar fallen. Sie wischte sie fort und erhob sich. „Ich muss gehen“, verkündete sie auf einmal hektisch. „Kommen Sie morgen wieder hier her?“, wollte er wissen. „Jeden Tag“, antwortete sie.
Und so war es. Am folgenden Tag kam sie wieder und am darauf folgenden ebenfalls, jeden Tag kam sie und er wartete auf sie. Sie waren wie Seelenverwandte, fühlten miteinander mit, verstanden sich bald schon ohne Worte. Im Schatten des Baumes teilten sie ihre dunkelsten Geheimnisse und tiefsten Ängste. Sie verriet ihm was es hieß, im Einklang mit der Natur zu leben, sich zurück zu nehmen und bescheiden zu sein. „Die Erde lebt“, so sprach sie, „Und wir dürfen ihr nicht weiter schaden mit unseren Abgasen aus Fabriken und Autos, den Bergen aus nie verrottendem Plastikmüll und all den giftigen Chemikalien, die wir in unserem täglichen Leben benutzen!“ Er wollte ihr gefallen, wollte dass sie ihn mochte, darum bemühte er sich, sein Leben dem ihren anzupassen. Immer wenn sie sich trafen, sprachen sie mit den Bäumen im Park, sammelten den Müll aus dem Gras und fischten Abfall aus dem kleinen Teich. Für sie begann er zu recyceln, seinen Müll zu trennen, darauf zu achten, woher seine Lebensmittel kamen und seine Kleidung im Secondhand Laden zu kaufen. Jedes Mal trug sie ihre schwarz- weiße Polaroid-Kamera bei sich, um ihre gemeinsame Zeit auf den Bildern festzuhalten. Seine Liebe zu ihr, dieser fremden Frau, war so tief, dass er bereit war, sein ganzes Leben auf den Kopf zu stellen, falls nötig, nur um ihr Nähe zu sein. Denn fremd, das blieb sie. Er wusste kaum etwas über sie. Weder woher sie kam, wo sie lebte, was ihre Ziele waren, warum sie an jenem ersten Tag allein gewesen war. Einzig ihren Namen wusste er, denn was für sie zählte war das Jetzt, der Moment, die Sekunde, die sie gerade lebten. Alles anderen verbarg sie hinter einem Schleier aus Schweigen.
Er küsste sie das erste Mal, als sie sich drei Wochen kannten. Wie bei ihrem ersten Tag saßen sie gemeinsam auf der Bank unter ihrem Baum und streckten ihre Gesichter den warmen Strahlen der Sonne entgegen. Sie war so schön in diesem Moment, dass ein zartes Leuchten von ihr auszugehen schien. So schön, das er sich einfach nach vorn lehnen, ihren Kopf zärtlich in seine Hände nehmen und seine Lippen sacht auf die ihren legen musste. Einen Moment lang war sie überrascht und versteifte sich, doch dann lehnte sie sich in den Kuss, strich mit ihren Händen sanft über seinen Rücken. Ihre Lippen waren weich, schmeckten nach etwas unbeschreiblich Schönem und fügten sich in die seinen, als wären sie dafür geschaffen. Sie lösten sich erst voneinander, als ihr Atem knapp wurde. Rotwangig, leicht keuchend und mit glitzernden Augen sahen sie einander an, hielten sich an den Händen und lächelten. Danach küssten sie sich immer wieder und mit jedem Kuss wuchs sein Verlangen nach ihr, bis es ihn schier zum Platzen zu bringen drohte. Natürlich war er schon zuvor verliebt gewesen, aber nie hatte ihn eine Frau derart um den Verstand gebracht wie diese. Unter der Pracht der Blüten liebten sie sich und gaben sich alles, was Menschen einander geben können.
Stunden wurden zu Tagen, Tage zu Wochen und auf einmal begann die Pracht der rosa Blüten zu verblassen. Der sanfte Wind, der durch die Zweige der Bäume fuhr, schüttelte sie von ihren Plätzen und ließ sie wie Schnee zu Boden fallen, wo sie den Boden mit einer sanften Schicht bedeckten, bis menschliche Füße oder der Wind sie auseinander trieben. Mit dem Fall der Blütenblätter wurden auch die Besuche der Frau unter dem Baum im Park seltener. Oft musste der junge Mann stundenlang auf der Holzbank ausharren, um dann nur wenige Stunden mit ihr verbringen zu können. Zu fragen, was mit ihr los war, traute er sich nicht, denn dazu waren sie einander zu fremd. Mochte er auch das Gefühl haben sie zu kennen, die Wahrheit war doch, dass er eigentlich nichts über sie wusste.
Die Pracht der Kirschblüten dauert nicht ewig. Nach nur wenigen Monaten verschwinden die Blüten von den Bäumen, um den grünen Sommerblättern platz zu machen. Aus diesem Grund steht die Blüte für Schönheit und Reinheit, ebenso wie Vergänglichkeit. So fielen auch diese Blüten zu Boden und als die letzten verschwunden waren, kam die Frau nicht mehr zurück. Erst verging nur ein Tag, an dem sie nicht kam, und er machte sich keine größeren Gedanken. Vielleicht hatte sie ja nur beruflich zu tun oder fühlte sich einfach nicht wohl. Doch auch am darauf folgenden Tag und dem darauf kam sie nicht. Wieder vergingen Tage und am Ende der Woche wusste er, dass sie nicht mehr kommen würde. Dennoch ging er jeden Morgen zu dem Park, setzte sich unter den Baum und wartete, bis es dunkel wurde. Stundenlang saß er dort und wartete. Die Wochen zogen ins Land. Grüne Blätter wuchsen dort, wo zuvor die rosa Blüten geblüht hatten und spendeten kühlen Schatten vor den senkenden Strahlen der Sommersonne. Der Maler des Herbstes färbte das Grün bunt golden, rot und gelb. Spielend riss er die Blätter von den Zweigen, warf sie hoch in die Lüfte, ließ sie kreisen und lachte heulend, wenn die Kinder ihnen nach jagten. Der junge Mann begann seine Pflichten zu vernachlässigen, er ging nicht mehr in die Universität und nahm ab, weil er das Essen vergaß. Unter den wachenden Armen des Baumes durchsuchte er das Telefonbuch und das Internet nach seiner Liebsten. Doch da er nichts kannte außer ihrem Namen und dieser nicht selten war, blieb seine Suche erfolglos. Seine alten Freunde und seine Familie baten, ihn die junge Frau zu vergessen, wieder ins Leben zu kommen. Doch er tat es nicht und so gaben sie ihn auf, bis ihm kein Freund mehr blieb, bis auf den treuen Baum. Der Winter überdeckte die Farbenpracht des Herbstes mit einer weißen Schicht, deckte Pflanzen und Tiere mit einer warmen Decke als Schutz vor den Winterstürmen zu. Der Baum schüttelte seine Blätter ab und hinterließ nichts als nackte Zweige, die sich gegen die Kälte mit der Decke zu umhüllen versuchten.
Jetzt
Es ist dunkel geworden und der Wind schneidet wie mit tausend Messern in seine Haut. Mit steifen Gliedern erhebt er sich von der Bank. Die Äste über ihm knarzen leise im Wind. Es ist so kalt. Tief steckt er die Hände in seine Manteltaschen und geht zurück in die Richtung, aus der er gekommen ist. Der Park ist leer, die spielenden Kinder und die Spaziergänger sind fort. Nur das gelbe Licht der Straßenlaternen und die langen Schatten der Bäume begleiten ihn auf seinem Weg. Er wird morgen wieder kommen und immer wieder, jeden Tag. Bald ist der Winter vorbei, der Geruch des Frühlings liegt bereits in der eisigen Luft. Kein Winter währt ewig, auch dieser nicht. Und mit dem Frühling kehrt auch die Kirschblüte zurück.
Bis dahin werde ich auf dich warten, mein Frühlingsmädchen. Jedes Jahr verschwindet die Kirschblüte, doch schon im Nächsten kehrt sie zurück. Bis dahin werde ich auf dich warten. Ich werde da sein. Unter unserem Freund dem Baum werde ich warten, denn wisse ich liebe dich. Vergiss das bitte nie!

Bürgerreporter:in:

Robin Jantos aus Hannover-Mitte

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