als es noch Paternoster gab

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Gedanken über ein selten gewordenes Relikt aus einer anderen Zeit,

durch Zufall erfuhr ich, dass es in Münster/Westfahlen noch einen Paternoster gibt, der seit 1953
im Bau- und Liegenschaftsbetrieb des Landes Nordrhein-Westfahlen,
ohne jemals auszufallen, nach wie vor seine Runden dreht,

gebaut wurde er 1912, und ist somit im ehrwürdigen Alter von 104 Jahren, er wird sorgfältig gewartet, die Menschen lieben ihn, und er ist aus dem Gebäude, das unter Denkmalsschutz steht, nicht wegzudenken

der Name Paternoster ist dem Rosenkranz entlehnt, einer Perlenkette, bei der nach zehn kleinen Perlen, die jeweils ein Ave Maria symbolisieren, eine größere Perle folgt, und die steht für ein Vater unser, lateinisch Pater noster

und die beim drehen der Kette, wie alle anderen auch, immer wieder erscheint

diese Reihenfolge ist stimmig mit der Logik eines Aufzugs, dessen Kabinen auch ähnlich einem Riesenrad immer wiederkehren, da sie über mehrere Stockwerke in einem Schacht hoch fahren, und in einem Nachbarschacht wieder nach unten,

1876 wurde in London wahrscheinlich der weltweit erste Paternosteraufzug im General Post Office zunächst zwecks Beförderung von Paketen in Betrieb genommen,

etwas später wurden auch Personen befördert,

um 1886 gab es wohl in Städten wie Hamburg die ersten Paternoster in Deutschland, die auch Menschen beförderten, ironisch "Proletenbagger" genannt,

die feinen Leute fuhren jedoch relativ schnell in einem mit Eingangstüren geschlossenem Aufzug, begleitet von einem Liftboy, der den Aufzug bediente, und man nannte ihn "Bonzenheber"

im Gegensatz zu dem auch Schicksal spielenden "gelben Wagen", der zwar immer weiter rollt, der aber doch seine Haltestellen hat, oder dem Riesenrad, das auch immer ein paar Stopps einlegt hält ein Paternoster niemals an, er hat keine Türen, man steigt in eine fahrende Kabine, und am Ziel angekommen, genauso wieder aus,

hat man den Aufsprung verpasst, nimmt man die nächste Kabine,
hat man den Absprung verpasst, fährt man weiter, zur nächsten Etage,
wobei man natürlich nach dem umschwenken von Auffahrt zur Abfahrt, allen Unkenrufen zum Trotz, nicht auf dem Kopf steht,

im Durchschnitt mit etwa 30 Zentimeter pro Sekunde, das entspricht einer Stundengeschwindigkeit von 1,08 km,

als Kind bin ich ab und zu mit einem Paternoster gefahren, und zwar im Gebäude der Staatsanwaltschaft in Hannover, Volgersweg, es machte Spaß, wie Karussell fahren, und war dazu noch kostenlos,

doch diesen Paternoster gibt es nicht mehr,
1990 wurde er ersetzt durch einen modernen Aufzug,

und dieser Aufzug hält, wie alle seine Kollegen, in den Etagen, in denen er halten soll, die Türen gehen automatisch auf, man betritt eine ruhende Kabine, sind bereits Menschen darin, stehen sie nebeneinander, fast alle schauen nach vorn, Richtung Tür, und sind ein wenig irritiert, wenn sich dann die Rückwand als Ausgang entpuppt,

kaum jemand schaut seinen Nachbarn an, gesprochen wird nicht, bestenfalls geflüstert, und an der Zieletage angekommen, geht man schnellen Schrittes raus, ohne sich umzudrehen, so, als wolle man einer Peinlichkeit entfliehen,

vielleicht haben ja einige während der Fahrt das Schild an der Seitenwand gelesen, mit der Aufschrift, dass man den Aufzug bei Feuer nicht benutzen soll, schon gar nicht, wenn er bereits brennt, und das man Ruhe bewahren soll, weil Unruhe bei Feuer auch nichts nützt

möglicherweise gibt es bei einigen auch einen Knopf, mit dem Hinweis:

"Bei Feuer bitte drücken"

drückt man ihn ohne das es brennt, kommt vielleicht der Satz:

"was soll das, nur bei Feuer"

doch man kann um Hilfe rufen, wenn er stecken bleibt, und es gibt je nach Leistungsvermögen des Fahrstuhls die Erklärung

"für so und so viel Personen zugelassen",

letzterer Hinweis war ausreichender Grund für folgenden natürlich boshaften und völlig aus der Luft gegriffenen Beamtenwitz, von dem ich mich natürlich distanziere

Ein Beamter kommt nach Haus und sagt zu seiner Frau:
Heut bin wieder zu nichts gekommen
wieso nicht?
ich hatte einen Termin im Ministerium
und bin dort um 9:00 Uhr in den Fahrstuhl gestiegen
da gab es ein Schild mit der Aufschrift,
"nur für 10 Personen"
um halb 12 waren wir vollzählig
und konnten abfahren,
da war mein Termin natürlich geplatzt

ansonsten kennt ein Fahrstuhl keine Fröhlichkeit, irgendwie ist er seelenlos,

im Paternoster, einem Aufzug mit dem ungewissen Charme des Schicksals ist alles anders,

obwohl eine gewisse Melancholie von ihm ausgeht, liegt schon beim annähern an die auf- und abfahrenden Kabinen etwas Spannung in der Luft, noch zwei, noch einen Schritt, jetzt steht man genau davor, und lässt die jetzt aufkommende Kabine vorbei,
was ist mit der nächsten, sie kommt hoch, dann sieht man ein paar Köpfe, erkennt, das mehrere Personen drin sind,
jetzt die Aktentasche festhalten, den Adrealinstoß wirken lassen, noch sind die unteren 10 Zentimeter im Schacht,
durchatmen,

dann ist der richtige Moment gekommen, ein letzter beherzter Schritt, man ist drin, geschafft, leichtes Aufatmen, die anderen schmunzeln und machen Platz, Erlösung macht sich breit, man ist aufgenommen in eine kleine Schicksalsgemeinschaft,

sollte die Zielkabine leer sein, ist es theoretisch einfacher, einzusteigen, da ja niemand im Weg steht, aber schöner ist es, wenn die anderen den "Einsteiger" durch ein Lächeln willkommen heißen,

Probleme konnte es geben, wenn man mit einem Koffer zusteigt,
Anfänger steigen völlig falsch ein, nämlich zunächst ohne Koffer, atmen durch, drehen sich um, um ihn zu holen,

zu spät,

der Fußboden der Kabine ist schon zu weit oben, der Koffer ist unerreichbar, jetzt heißt es Nerven bewahren, man muss eine Entscheidung treffen, und zwar auf die Schnelle,

was tun?

in der nächsten Etage aussteigen, die Treppe runter rennen,
in der Hoffnung, dass der Koffer dort auf uns wartet, was meist auch der Fall ist

in dem mir bekannten Fall nahm allerdings ein trainierter Mitfahrer aus der nachfolgenden Kabine den Koffer einer Frau in seine Obhut, fuhr damit nach oben, dann durch den Nebenschacht wieder runter, jetzt waren alle Mitfahrer in gespannter Haltung, da man das in irgendeinem Flur stehende Häufchen Unglück möglichst schnell erkennen wollte,

als sie auftauchte, brüllte einer im Aufzug los: "da isse, da isse",
reichte ihr den Koffer raus, und erhielt dankbare Blicke,

den Koffer hatte sie jetzt wieder, denn Paternosterfahrer halten zusammen,

ansonsten war sie keinen Schritt weiter gekommen,

es war klar, sie musste schneller werden, und vor allem, den gleichen Fehler nicht nochmal machen, die nächste Kabine kam, ein Passagier rief: "erst den Koffer", sie schob ihn rein, und sprang "zack" hinterher, prallte auf den selben, und kam dabei ins straucheln, doch zwei Fahrgäste fingen sie auf, sie atmete durch und bedankte sich,

es gab leicht ironisch angehauchte Willkommensgrüße wie:

"eine weiche Landung sieht anders aus"
und
"den Telemark hat sie auch nicht gebracht",

egal, es hatte alles geklappt, aber die nächste Prüfung wartete schon, jetzt galt es, den genauen Absprung nicht zu verpassen,

die richtige Etage kam,

nun ja nicht mit dem Koffer zusammen rausspringen, der kriegt nämlich durch den Schwung Vortrieb, zieht uns mit und wir fliegen lang hin,

so jedenfalls lautete auf die Schnelle ein guter Ratschlag

eins nach dem anderen, lautet die Devise, und das bedeutete
erst den Koffer rausstellen, und dann hinterher springen,

genau in dieser Reihenfolge,

es kann allerdings sein, dass man inzwischen gar keinen Koffer mehr im Paternoster befördern darf, dann erübrigen sich entsprechende Fachkenntnisse, nach meinem Kenntnisstand sind das mitführen von Tischen und Stühlen jedenfalls nicht mehr gestattet, und in Münster kann den Paternoster, trotz aller Sicherheitsvorkehrungen, auch nicht mehr jeder nach Lust und Laune benutzen

eigentlich schade, finden alle seine Freunde, da grad die

"Eins-nach-dem anderen-Logik"

eines Paternosters Männern sehr entgegen kommt, weil sie genetisch so ausgestattet sind, dass sie ohnehin nur eine Sache gleichzeitig erledigen können,

jedenfalls ist beim Absprung zu beachten, dass man jetzt als Rechtshänder den Sprung so berechnet, das man links neben dem Koffer landet, dann erleichtert umdrehen und winken, das Stockwerk nochmal auf Richtigkeit überprüfen,

ok, es stimmte,

aufatmen, Erleichterung, man hatte es geschafft,

ein stilles Glücksgefühl ist der Lohn für die Mühe, doch jetzt ist man wieder allein,
denn die zurückgelassenen setzen ihre Fahrt ohne uns fort,

sie verschwinden mit ihren Kabinen nach oben oder unten wie Schiffe hinter dem Horizont, wobei die Schiffe wohl wieder auftauchen werden, die Menschen nicht immer

auch ein Paternosterkreislauf ist wie alles wiederkehrende, wie Stunden, Wochentage, Monate, die Jahreszeiten, oder Jahre, die ja auch in einer festgelegten Reihenfolge immer wieder kommen, und den gleichen Namen tragen, doch ob der neue Frühling so sein wird, wie der vergangene, ist ungewiss,

das gilt auch für die Kabine, die man verlassen hat
wenn sie wieder erscheint, ist auch eine immer gleich bleibende Zeit vergangen, sie trägt die gleiche Nummer, doch der Inhalt wird wohl anders sein,
und wie den Frühling oder diese Stunde, kann man auch die Kabine nicht festhalten,

soll unser Frühling außerhalb der Kabine weitergehen, muss man abspringen, mit all seinen Folgen, denn im Paternoster fährt immer auch das Schicksal mit, und das Schicksal überlässt es uns, wie lange wir mitfahren,

springen wir ab, sind wir draußen,

ein zurückspringen in die Situation, so wie sie war, ist nicht möglich,
ein Paternoster zeigt uns, wie es ist, eine Chance verpasst zu haben, vielleicht erhält man eine neue, in einer anderen Kabine, oder in der gleichen, gesagt ist das nicht, obwohl wir manchmal grad in diese von uns verlassene Kabine so gern eingestiegen oder zurückgekehrt wären,

den Absprung ungeschehen machen, ist nicht möglich

nun es kann natürlich sein, das jemand in der Kabine bemerkt hat, wie gern man zurückgekehrt wäre, vielleicht, weil es gleiche Erinnerungen gibt, dann gilt es einen Weg finden, den beide wollen, wie immer der auch aussehen mag,

denkbar ist es, dass der Paternoster des Lebens noch einmal eine Kabine bereit hält, dann wäre es wohl auch egal, welche es ist, denn wenn alles passt, ist es auch die richtige,

dann gehört vielleicht noch ein bisschen mehr Mut dazu, noch einmal aufzuspringen, denn auch bei dieser Entscheidung hilft uns niemand, doch wenn jemand in der Kabine hofft, dass wir es schaffen, kann er/sie zwar keine Notbremsung auslösen, aber ungeahnte Kräfte freisetzen

doch eine Notbremsung wäre auch immer eine Notlösung, vielleicht ist sie im Moment sogar richtig, doch ob eine Handlung, die man der Not gehorchend tätigt, auch eine Dauerlösung ist, muss sich zeigen,

eine Entscheidungsfindung wird es wohl geben müssen, vielleicht sehr vorsichtig

das alles ist in modernen Fahrstühlen eleganter gelöst, dort kann man einen Knopf drücken, der den Fahrstuhl auf jeder Etage anhält, und die Tür wieder öffnet, selbst das Schließen kann man verhindern, indem man mit einer Beinbewegung die Lichtschranke unterbricht

und das sollte man auch tun, wenn man es für richtig hält,

sonst drücken andere für uns die Knöpfe, und wie im "wirklichen Leben" ist das nicht immer in unserem Sinne

wie dem auch sei, sollten Sie Gelegenheit haben, einmal mit einem Paternoster fahren zu können, noch gibt es in Deutschland einige wenige,
dann zögern Sie keinen Augenblick, es auch zu tun,

nehmen Sie Ihr Herz in beide Hände, atmen Sie einmal tief durch, und treten oder springen Sie ein, je nach Temperament, und lassen Sie eine kleine Schicksalsfahrt auf sich wirken,

wie sie aussieht, wie sie endet, weiß niemand, doch Sie werden diese Entscheidung nicht vergessen und nicht bereuen,

zu meiner großen Freude gibt es auch in Hannover noch einen Paternoster, und zwar einen wirklichen Edelstein, der leicht versteckt und nicht für jedermann nutzbar, doch eingebettet in ein schönes Ambiente, leise seine Runden fährt,

und ich wünsche den Menschen in Hannover, in Münster und überall, wo es noch einen gibt, dass ihnen ihr Paternoster erhalten bleibt,

doch ich denke, das wird das auch so sein, da sie ihn alle, wie schon erwähnt, lieben

in Hannover jedenfalls durfte ich genau das erleben

Gerd Szallies

ich bedanke mich für die freundliche Unterstützung
durch Mitarbeiter/Mitarbeiterinnen

der Oberfinanzdirektion Münster
des Bau- und Liegenschaftsbetriebs des Landes Nordrhein-Westfahlen
der Staatsanwaltschaft Hannover
der Galeria Kaufhof in Hannover

Bürgerreporter:in:

Gerd Szallies aus Laatzen

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