Der Advents-Frevel

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Bei dem Stichwort „Weihnachtsgefühle“ muss ich oft an den „Advents-Frevel“, eine Begebenheit aus der Vorweihnachtszeit meiner Kindheit denken, die hier im folgendem erzählt werden soll.

DER ADVENTS-FREVEL

Wie ihr alle wisst, ist ein beliebter deutscher Brauch bei Jung und Alt in der Vorweihnachtszeit, der Gebrauch eines Adventskalenders. Wahrscheinlich wurde er von christlichen Familien im Laufe der Jahrhunderte als pädagogisches Instrument entwickelt, damit Kinder lernen sollten, brav zu sein und sich in Geduld bis Heilig Abend zu üben.
Heutzutage gibt es die mannigfaltigsten Kalender, meist mit Vollmilchschokoladenfüllung in der Vorweihnachtszeit zu kaufen. Die Motive der Schokoformen stellen weihnachtliche Symbole wie Nikolausstiefel, Sterne, Nüsse und so weiter dar.
Auch in meiner Familie war es Tradition, dass wir Kinder einen mit Schokolade gefüllten Adventskalender bekamen. Ich ging noch nicht zur Schule, besaß noch kein Taschengeld. Darum war das etwas ganz Besonderes. Meine Mutter hatte zwei gleiche Kalender, einen für mich und einen für meinen jüngeren Bruder, in dem ortsansässigen Tante-Emma-Laden gekauft. Der Laden befand sich damals an der Hauptstraße in Königsbrunn neben einer Molkerei. Ich erinnere mich sogar noch an die kleinen Milchpfützen, die auf dem Boden vor dem Laden weißlich schimmerten und wohl beim täglichen Milch-Beliefern durch die Bauern entstanden waren. Wie freute ich mich darauf, jeden Tag ein Türchen des geheimnisvollen Kalenders öffnen zu dürfen.
Gleich nach dem Aufstehen rannten wir Kinder zu unseren Adventskalendern, die auf dem Küchenfensterbrett für uns bereit standen. Viele bunte Zahlen zierten die vordere Seite. Erst musste man das richtige Türchen suchen, dann öffnen, bis man endlich die heißersehnte leckere Schokolade heraus puhlen konnte. Schnell die Schokolade in den Mund geschoben und den glückselig machenden Moment genießen. Ein tolles Ritual.
Es geschah am vierten Tag. Noch bevor wir unser morgendliches Zähneputzen absolvierten, liefen wir Geschwister, noch den Schlaf aus den Augen reibend, zu unseren Adventskalendern, um wie üblich ein Türchen zu öffnen. Ich zog an dem Türchen mit der Nummer „4“. Doch es befand sich kein Schokostück darin. Verblüfft steckte ich meinen Finger rein. Ich schloss und öffnete die Tür sogleich, um mich nochmals aufs Genaueste zu vergewissern. Keine Schokolade.
„Bei mir ist nichts!“, rief ich meinem Bruder enttäuscht zu, „und bei dir?“
„Bei mir ist was drin“, sagte mein Bruder zufrieden. „Vielleicht haben sie es bei dir nur vergessen.“
Das leuchtete mir ein. Denn schließlich hatte er ja was bekommen. Ich schluckte meine Enttäuschung runter und beruhigte mich mit dem Gedanken, dass am nächsten Tag alles in Ordnung sei. Viel Zeit darüber nachzudenken, blieb mir sowieso nicht, denn in der Früh mussten wir uns immer für den Kindergarten beeilen.
Tatsächlich war am fünften Tag meine „Adventskalender-Welt“ so, wie sie sein sollte, nämlich mit einem Schokostück hinter dem Türchen. Dafür ging mein Bruder diesmal leer aus. Jetzt hatte er wohl Pech. Komischer Kalender. Wir erzählten Mama davon. Sie meinte, wir sollten das beobachten. Könnte es sein, dass die beiden Kalender aus einer mangelhaften Produktion stammten? Zweifel beschlichen mich.
Am sechsten Tag schien wieder alles wie gewohnt. Beide erhielten wir unsere „vorweihnachtliche Belohnung“ fürs Warten auf Heilig Abend. Es war schon eine tolle Sache, jeden Morgen gleich mal mit Schoko zum Frühstück zu beginnen. So einen Luxus gab es halt nur im Dezember.
Doch der siebte Tag veränderte alles. Weder bei meinem Bruder noch bei mir befand sich Schokolade hinter Nummer „7“. Jetzt reicht es, dachte ich mir. Mein Bruder und ich waren uns einig: der Kalender war „kaputt“. Voller Enttäuschung beschwerten wir uns bei Mama.
„Ja, so was“, stellte sie fest, dann müssen wir die Kalender wohl zurückgeben.“
Zurückgeben? Wir machten lange Gesichter.
„Nein, ich meine umtauschen“, lachte sie.
Noch bevor wir in den Kindergarten gebracht wurden, richtete sie es so ein, dass wir bei dem Tante-Emma-Laden vorfuhren. Dort erzählten wir der Verkäuferin von unseren fehlerhaften Adventskalendern. Sie betrachtete die Kalender verwundert. Dann tauschte sie die alten gegen neue aus, die sie noch im Lager hatte. Vermutlich weil wir gute Kunden waren. Wir hielten die neuen wie eine Trophäe in der Hand. Glücklich traten wir aus dem Geschäft.
Aber das Glück währte nicht lange. Schon am übernächsten Tag war mein fälliges Kalendertürchen wieder leer. Wütend starrte ich den Kalender an. Es konnte doch nicht sein, dass auch dieser fehlerhaft war. Ich untersuchte den Papierdeckel an der Stelle des Kalenders. Auf einmal hatte ich den Eindruck, dass er schon vorher geöffnet wurde. Ein Verdacht überkam mich. Ich ging zu Mama, um ihr alles zu erzählen. Sie nahm meinen Bruder und mich zur Seite. Dann ließ sie uns unsere Adventskalender holen. Ich zeigte ihr die leere Stelle.
„Also gut, meinte sie. Jetzt schauen wir genauer nach.“
Sie hieß mich, die restlichen Türchen zu öffnen. Sie waren alle leer. Die Krönung des Ganzen aber war die Tatsache, dass sogar die „heilige 24“ keine Schoko mehr enthielt. Ich glaube, ich brauche nicht zu erwähnen, dass der Kalender meines Bruders ebenfalls geplündert war. Auf Druck von Mama gab er schließlich zu, sich heimlich bedient zu haben.
Abgesehen davon, dass er mich „bestohlen“ und uns alle getäuscht hatte, hatte er die Ungeheuerlichkeit besessen, den Vierundzwanzigsten anzutasten. D e r   h e i l i g e 
2 4. T a g
, auf den man sehnsüchtig wartete, bis es endlich soweit war. Was für ein Frevel! Geradezu ein Ding der Unmöglichkeit. Ich glaubte damals, er müsse für seine Missetat augenblicklich in der Hölle verschwinden. Geprägt von einem kirchlich-moralischen Weltbild stellte ich mir vor, ein Loch im Boden würde sich auftun, um ihn mit Haut und Haaren zu verschlingen. Nichts dergleichen geschah. Er bekam ein bisschen Schelte und zeigte sich reumütig. Schließlich war er ja noch klein.
Bis heute allerdings, wenn ich Adventskalender für meine eigenen Kinder kaufe, kommt mir diese Kindheitserinnerung in den Sinn. Mein Bruder schmunzelt, wenn ich ihn auf den Advents-Frevel anspreche und mit einem schelmischen Grinsen erwidert er:
„Die Tat ist nie richtig bewiesen worden.“

aus dem Buch "Wenn das Meerschweinchen Dialyse braucht - Geschichten zum Schmunzeln und Nachdenken"
Genre: Humor, Erzählungen, Belletristik
ISBN: 978-3-750-43672-5
Als Taschenbuch bei BoD: www.bod.de/buchshop/wenn-das-meerschweinchen-dialyse-braucht
Als eBook zu beziehen bei www.weltbild.de/ebook/wenn-das-meerschweinchen-dialyse-braucht

Bürgerreporter:in:

Nathalie Salem-Groß aus Königsbrunn

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