Geisterdörfer
Geisterdörfer in den Pyrenäen - Alte Kulturlandschaften verändern sich

Der Ort Torla am Rande des Ordesa-Natinalparks ist Ausganspunkt für viele Wanderungen.
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  • Der Ort Torla am Rande des Ordesa-Natinalparks ist Ausganspunkt für viele Wanderungen.
  • hochgeladen von Kurt Wolter

Die Welt verändert sich. Und dazu gehören auch die Lebenssituationen der Menschen. Lebten vor zwei Jahrhunderten noch etwa drei Viertel der Menschheit auf dem Lande, so ist es heute nur noch knapp die Hälfte. Seit dem Jahr 2008 sollen weltweit mehr Menschen in den Städten leben als in den ländlichen Regionen. Und das wird sich in Zukunft noch mehr verändern. So stehen in vielen Dörfern immer mehr Häuser leer und verfallen zu Ruinen, wenn sie denn nicht abgerissen werden. In vielen Regionen der Welt ist es wohl so, auch in Deutschland. Und so könnte es bei uns vielleicht dahin kommen, dass in Zukunft abgelegene Dörfer ganz entvölkert werden. Wer von den jungen Leuten der nachfolgenden Generationen möchte schon tagtäglich einen weiten Weg zu seinem Arbeitsplatz zurücklegen. Und einen solchen gibt es nun mal fast nur noch in den Ballungsgebieten der Städte. Und wer möchte schon auf die Annehmlichkeiten und Attraktionen der Stadt verzichten. Das werden wohl nur die allerwenigsten sein.
In Deutschland habe ich Dörfer gesehen, in denen viele Häuser leer stehen. Manchmal ist es bedrückend. Doch noch anders ist es in Bereichen der Alpen und besonders der Pyrenäen. In diesem schönen Gebirge war ich kürzlich zum Wandern unterwegs, und dort habe ich sie kennengelernt, völlig entvölkerte Dörfer - Geisterdörfer.

Im Hoch-Aragón gibt es etwa 350 kleine Ortschaften, und etwa 100 davon sind verlassen. Welche nun davon besonders interessant sind, das haben wir bei der Touristeninformation in Torla, einem kleinem Ort am Rande des Ordesa-Nationalparks, erfahren. Und dieser Tipp hat sich als lohnenswert erwiesen.
Fährt man die Straße von Torla talabwärts in südliche Richtung, dem Rio Ara folgend, dann erreicht man nach etwa 15 Kilometern den kleinen Ort Fiscal. Gleich dort am Kreisel biegt ein unscheinbarer, nicht asphaltierter Schotterweg nach rechts ab. Im Schritttempo geht es über Unebenheiten und durch Schlaglöcher in die Berge hinauf. Nach sechs Kilometern erreicht man das kleine Dorf Bergua, in dem nur wenige Menschen leben. Auch dieses drohte verlassen zu werden. Doch so mancher Nachkomme der damaligen Bewohner ist zurückgekehrt, lebt dort dauerhaft oder hat sich ein Haus als Urlaubs- oder Wochenendhaus ausgebaut.

Bergua ist ein typisches Pyrenäendorf, die Häuser aus den Natursteinen der Gegend erbaut, von denen es reichlich gibt. Es wirkt still und verschlafen, so als ob die Zeit seit Jahrhunderten stehen geblieben sei. Autos werden oben über dem Dorf am Fahrweg geparkt. Kein Blech verschandelt diese scheinbare Idylle mit den engen, verwinkelten und holprigen Dorfgassen. Doch es gibt überirdische Elektroleitungen und die eine oder andere Satellitenschüssel.Und daran merkt man dann doch, dass man sich nicht mehr im Mittelalter befindet. Doch so abgelegen dieses Dorf auch ist, so ist es für uns nur eine Durchgangsstation, wollen wir doch noch höher hinauf, nämlich zu dem Geisterdorf Escartin.

Unter dem schattenspendenden Blätterdach einer Baumkrone sitzt an einem langen Tisch eine Großfamilie. Wir fragen sie nach dem Weg. Zum Fluss hinunter und dann bergauf, wir können es gar nicht verfehlen. Und sie kommen aus Pamplona und nur zu den Wochenenden herauf. So ihre Auskunft.
Nach Überschreiten der türkisen Fluten, die zu einem Bad eingeladen haben, folgen wir dem steinigen Pfad bergauf. Und steinig und in der Hitze des Tages mühsam zu gehen ist er wirklich. Und bald können wir auch verstehen, warum das Dorf dort oben verlassen wurde. Erreichbar war es eben nur zu Fuß und mit Mauleseln, dem damals üblichen Transportmittel. Bis zum Jahr 1966 sollen dort Menschen gelebt haben. Doch als sich das Auto als fahrbarer Untersatz immer mehr durchsetzte, wurde es verlassen.
Nach eineinhalbstündigem, schweißtreibendem Aufstieg und einigen hundert Höhenmetern, taucht das Dorf Escartin, oben auf einer Höhe gelegen, vor uns auf. Überall an den Hängen durch Steinmauern aufgeschichtete Terrassen, die die damaligen Bewohner geschaffen haben, um ihre Felder und Olivenhaine anlegen zu können. Man wundert sich darüber, denn das muss mit enorm viel Arbeit verbunden gewesen sein. Doch sind die Mauern vermutlich ein Werk von Jahrhunderten. Generationen werden sie erbaut haben.

Zwischen den ersten Häusern betreten wir das Dorf, und das beeindruckt sofort. Viele Häuser sind trotz jahrzehntelangen Verfalls noch recht gut erhalten. Nur die Dächer sind meistenteils eingestürzt. Das morsch gewordene Balkenwerk konnte sie nicht mehr tragen. Manche allerdings haben noch ein Dach, und die sind dann doch bewohnt. Nicht nur von Eidechsen, die in den Ritzen der Natursteinmauern entlang huschen, sondern von Rindviechern. Die Kühe haben sich wegen der hohen Temperaturen in den Schatten der Räume zurückgezogen. Dort sind sie vor den sengenden Strahlen der Sonne geschützt. Nicht jedoch vor den Myriaden von Fliegen, denen sie sich kaum erwehren können. Überall treffen wir die Kühe an. In den engen Gassen, in den Häusern oder auf dem Dorfplatz. So um die 100 mögen es sein. Sie haben das Dorf für sich vereinnahmt.
Ein Haus ist größer als die anderen. Zwei Balkone zieren es, an denen noch das Gitterwerk vorhanden ist. Ähnlich dem Balkon von Romeo und Julia in Verona. Vielleicht hat dort der Dorfvorsteher gewohnt, der Dorfschulze. Wer weiß es schon.
Vor der Kirche befindet sich in einem Blechkasten eine Art Gipfelbuch. Ihm können wir entnehmen, dass nur wenige Wanderer heraufkommen. An manchen Tagen, wenn es hoch kommt, sind es zwei, drei. An anderen niemand. Auch wir tragen uns ein.
Der Blick geht nach oben auf den kleinen Turm. Die Glocke hängt noch. Sie überdauert die Zeit wohl schadlos. Nicht aber die Kirche selber. Innen im ewigen Dämmerlicht ist alles marode. Die Holztreppe zum Turm hinauf ist abgebrochen. Von der Decke hängen ein paar Fledermäuse herab. Irritiert flattern sie bald um unsere Köpfe herum. Eine eigentümliche Atmosphäre. Aber angenehm kühl ist es.
Das ist es draußen nicht. Im Schatten zeigt das Thermometer 34 Grad an. Aber dem Heer der unermüdlich zirpenden Zikaden scheint die Hitze nichts auszumachen. Wir nehmen ein großes Heupferd auf die Hand. Mit seinen Wiederhaken krallt es sich fest. Es kitzelt auf der Haut, es ist ein angenehmes Gefühl. Und überall liegen weiße, ausgebleichte Kuhknochen herum, die das Dorf tatsächlich wie ein Geisterdorf erscheinen lassen. Typisch auch die runden Schornsteine einiger Häuser. Unter ihnen befanden sich wohl einst die Feuerstellen, die Backöfen.
Kreuz und quer gehen wir durch die engen Gassen, gucken hier und gucken dort. Überall gibt es spannende Ansichten und Durchblicke. Auch auf die weite umliegende Berglandschaft. Sie war einst die Heimat vieler Generationen von Bauern, die in diesem Dorf sicher ein mühsames, aber vielleicht doch auch ein lebenswertes Leben geführt haben. Und das seit vielen, vielen Jahrhunderten. Doch nun ist es bis auf die tierischen Bewohner verlassen und wird wohl nie wieder bewohnt werden. Es ist ein Zeugnis einer vergangenen Epoche, das irgendwann in langer Zeit von der Erosion dem Erdboden gleichgemacht werden wird. Und wenn es auch nur ein Ruinendorf ist, so lohnt sich ein Besuch in jedem Fall, und eigentlich gerade deswegen. Wir jedenfalls waren mehr als beeindruckt davon.

Beeindruckt auf eine andere Weise hat uns das Geisterdorf Janovas, das verkehrsgünstiger in der Nähe einer Straße liegt, unweit des mittelalterlichen Ortes Ainsa. Zwar ist es noch mehr verfallen. Doch dort tut sich was. Einst für einen großen Stausee geräumt, der nie gebaut wurde, kommen einige Nachfahren der vormaligen Bewohner zurück. Sie beginnen damit, das eine oder andere Haus wieder bewohnbar zu machen, eben als Wochenend- und Ferienhaus. Und wie staunen wir darüber, wie aus kümmerlichen Ruinen Neues entsteht. Hier ist eine neue Mauer gezogen, dort ein Fenster eingesetzt. An einer Hauswand steht eine Betonmischmaschine, Kies ist aufgeschichtet. Man kann sich beim Anblick der maroden Häuser vorstellen, wie viel Arbeit dafür aufgewendet werden muss und wie das in einigen Jahren aussehen wird. Wir werden irgendwann wiederkommen und nachschauen.
Und so ist es in so manchem Geisterdorf des Hoch-Aragón, das einigermaßen verkehrsgünstig angebunden ist. Es erwacht wieder zu neuem Leben. Auch wenn nun keine Landwirtschaft mehr betrieben wird, so werden doch so manche Häuser, die verfallene Ruinen waren, erneuert und zu Freizeitzwecken genutzt.
Wer in den Pyrenäen zum Wandern unterwegs ist, denjenigen kann ich den Besuch eines Geisterdorfes empfehlen, ist ein solcher doch abenteuerlich und eindrucksvoll. Und ganz besonders das Dorf Escartin, soll es doch das schönste aller Geisterdörfer sein – so lange es noch steht.

Siehe auch:
Wandern in den Pyrenäen
Am Golf von Biscaya - Von San Sebastian bis Biarritz wird Attraktives geboten

Bürgerreporter:in:

Kurt Wolter aus Hannover-Bemerode-Kirchrode-Wülferode

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