Eine Überschreitung des Piz Palü - ein Dom aus Fels, Eis und Firn

Unterwegs auf Traumpfaden. Der Piz Palü, einer der schönsten und eindrucksvollsten Alpengipfel.
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  • Unterwegs auf Traumpfaden. Der Piz Palü, einer der schönsten und eindrucksvollsten Alpengipfel.
  • hochgeladen von Kurt Wolter

Die Alpen werden geografisch in zwei Bereiche unterteilt. In die Westalpen und in die Ostalpen. Wenn man vom Bodensee nach Süden zum Comer See hin eine etwas kruckelige Linie zieht, dann hat man die Grenze zwischen diesen beiden Alpenbereichen in etwa getroffen. Die höheren Westalpen sind in erster Linie das, was man sich gemeinhin vorstellt, wenn man an die Alpen denkt: Von Gletschern umgebene Felsgipfel. Das Berner Oberland mit Eiger, Mönch und Jungfrau und dem Aletschgletscher, dem größten Gletscherstrom der Alpen. Die Walliser Alpen mit dem Monte Rosa und dem Matterhorn. Und natürlich dem Dach der Alpen, dem Montblancgebiet. Diese Namen sagen wohl den meisten Menschen etwas, auch wenn sie sich nicht sonderlich für Berge interessieren. Etwa 60 bis 80 Viertausender gibt es in den Westalpen, je nach Betrachtungsweise.
In den Ostalpen, die im Durchschnitt etwa 1000 Meter niedriger sind, sind die Hohen Tauern mit dem Großglockner bekannt. Vielleicht noch die Ötztaler Alpen mit der Wildspitze und dem Similaun, dem eisigen Grab des Ötzis. Natürlich hat man schon mal was von den Dolomiten gehört, von der Zugspitze und vom Watzmann zumindest als Deutscher sowieso, und vielleicht sogar etwas vom Piz Bernina. Andere Gipfel und Gebiete sind in erster Linie nur Alpenurlaubern und Bergsteigern bekannt.
Auch wenn die Westalpen also höher sind, so sind die Ostalpen doch nicht weniger reizvoll. Eben auf andere Art. Wer in den fantastischen Dolomiten unterwegs war und vergleicht, kann das nur bestätigen. Aber in den Ostalpen gibt es auch Gebiete, die einen westalpinen Charakter aufweisen. Und dazu gehört das Berniangebiet in Graubünden in der Schweiz, in dem mit dem Piz Bernina der einzige Viertausender der Ostalpen steht. Diese Berglandschaft ist neben den Dolomiten nicht nur die eindrucksvollste der ganzen Ostalpen, sondern auch eine der großartigsten im gesamten Alpenraum. Irgendein Bergsteiger früherer Zeit hat sie einmal als Festsaal der Alpen bezeichnet.
In diesem Gebiet nun gibt es zwei Berühmtheiten. Das ist zum einen der bekannteste Firngrat der Alpen, der Biancograt, der mit seiner zauberhaften Linienführung wahrhaftig eine Himmelsleiter ist. Zum anderen ist es ein Berg, der schon 1926 Weltberühmtheit erlangte. Es ist der Piz Palü, an dem Arnold Fanck einen der ersten Bergfilme überhaupt drehte, „Die weiße Hölle vom Piz Palü“. Hauptdarstellerin war damals keine geringere als Leni Riefenstahl, vergleichbar mit heutigen Hollywoodgrößen. Und da wir, das sind mein Sohn Markus und ich, in den letzten sechs Jahren in den Alpen schon so einiges ausprobiert hatten, wollten wir uns nun diesen Traumberg vornehmen.

Wenn man sich den Piz Palü auf einem Foto ansieht, dann ist man als Berginteressierter sofort begeistert von seinem Anblick. Drei riesige Granitpfeiler, zwischen denen Hängegletscher herabdrängen, streben zu seinen drei Gipfeln hinauf. Diese werden durch einen Firngrat miteinander verbunden. Graubrauner Fels und weißglänzende Eisflanken wechseln sich ab. Ein wahrer Silberdom, als welcher er oft bezeichnet wird. Und diesen Berg nun wollten wir nicht nur besteigen, sondern wir wollten ihn, wie es auch üblich ist, komplett überschreiten. Und das ist nicht viel weniger als eine Traumtour. So trafen wir an einem Julitag, nachdem wir uns an den Sellatürmen und an der Marmolata in den Dolomiten warm gemacht hatten, über St. Moritz und Pontresina in Plauns ein, von wo wir starten wollten. Plauns in 1900 Metern Höhe im Berninatal gelegen, ist schönste Alpenlandschaft. Einen viel besseren Stützpunkt könnte ich mir für ein solches Unternehmen nicht vorstellen.
Zunächst mussten wir uns jedoch auch hier noch ein wenig akklimatisieren. Dazu wählten wir eine Wanderung durch das herrliche Morteratschtal aus, zum gleichnamigen Gletscher hinauf. Für mich ist dieser Steig einer der schönsten Wanderwege in den gesamten Alpen, der dort zur Boval-Hütte führt. Staunen ist angesagt über so viel Großartigkeit der Natur. Die Gletscherströme des Morteratsch- und des Persgletschers fließen zusammen. Mitten darin die Felsen der Isla Persa. Darüber erheben sich die weißglänzenden Kuppen des Piz Palü, der Bellavista, des Piz Bernina und der Biancograt. Das gehört in der Tat zum Feinsten, was die Alpen zu bieten haben, und man kann sich gar nicht satt daran sehen. Und natürlich macht es einfach viel Freude, auf dem Gletscher zwischen den Spalten und Eisbarrieren kreuz und quer herumzustrolchen und dort ein wenig an den Eiswänden zu klettern. Schon das sind Eindrücke, die man nicht vergisst. Doch danach waren wir bereit für Höheres, und dann konnte es so richtig losgehen.
Also mit der Seilbahn zur Diavolezza hinauf. Und dann waren wir mitten drin in dieser grandiosen Natur. Der Anblick des Piz Palü von dort oben ist atemberaubend. Noch ein gutes Stück unter uns lag der Persgletscher, der sich zu den Flanken des Berggiganten hinaufzieht. Ihn würden wir in der Nacht überqueren müssen. Dann nach rechts die steile Firnflanke zum Fortezzagrat hinauf, um über diesen in die Gipfelregionen vorzudringen. Alles lag im Blickfeld, und schon hier war die Vorfreude riesig.
Nachdem wir uns von diesem Anblick gelöst hatten, stiegen wir über wildes Felsgelände 260 Meter tief zum Gletscherrand hinunter. Dort unten schlugen wir unser Biwak auf. Biwakieren unter freiem Himmel ist nicht jedermanns Sache. Doch wir ziehen es jeder Hüttenübernachtung vor. Das ist Abenteuer pur. Und das Gefühl ist unbeschreiblich, wenn man in dieser gigantischen Landschaft völlig allein ist. Es macht zumindest den Eindruck, als wäre sie nur für einen selbst da. Und dabei ist man doch ein Nichts in dieser Weite, ein winziger Punkt, der für die Natur keinerlei Bedeutung hat.
Schwer war an diesem Abend das Einschlafen. Wenn man aus dem Schlafsack auf die in der Dämmerung bläulich glänzenden Eishänge schaut, dann mag man gar nicht die Augen schließen. Zu schön ist doch dieser Anblick. Doch irgendwann muss man schlafen, ist die Nacht doch sowieso schon ziemlich kurz.
Damit ende ich mit dieser Einführung und lasse nun die Zeilen aus meinem Tourenbuch sprechen, die ich damals nur wenige Tage nach der Besteigung aufgeschrieben habe. In der Nacht zum Start der Tour beginnt der Bericht.

Die Piz Palü-Überschreitung

Um zwei Uhr ist die Nacht für uns vorbei. Trotz leichter Minustemperaturen haben wir gut geschlafen. Kein Frieren, und noch nicht einmal ein Frösteln. Nun stopfen wir die etwas klamm gewordenen Sachen des Nachtlagers einfach in einen Biwaksack hinein und deponieren diesen hinter einem Felsen. So werden die Rucksäcke leicht sein, da wir ja zusätzlich die Gletscherausrüstung am Körper tragen werden. Noch zwei Müsliriegel reingestopft, und schon kann es um halb drei Uhr losgehen.
Zunächst über den seitlichen Schotter des Gletscherstromes. Bei den letzten Felsen legen wir die Steigeisen an und binden uns ins Seil ein. Während ich vorangehe, sichert Markus im Abstand von 15 Metern hinter mir. So trotten wir, noch nicht so ganz wach, vor uns hin und haben dabei Zeit zum Nachdenken. Wie schwer wird die Tour heute werden? Wie immer kann man es im Voraus nicht so richtig einschätzen. Im Buch „Himmelsleitern“ wird sie als ziemlich schwierig eingestuft. Doch was bedeutet das schon? Was für den einen schwierig ist, kann für den andern leicht sein, oder umgekehrt. So lassen wir uns also mal wieder überraschen. Aber spannend ist es jedes Mal aufs Neue.
Zunächst geht es in eine weite Senke hinunter, dann beginnt der Anstieg. Die Kopflampen benötigen wir nicht. Ein Zweidrittel-Mond erhellt die Landschaft. Wie im vorigen Jahr am Montblanc kann man in der Nacht die Größe der Berge und die Entfernungen überhaupt nicht einschätzen. Das Gehirn ist irritiert, hat es doch keinen Maßstab. Die tausend Meter hohen Flanken schrumpfen auf die Größe von Theaterkulissen zusammen, die nur wenige Meter hoch und sehr nahe zu sein scheinen.
Der Firn wird steiler. Aber auf dem vereisten Untergrund lässt es sich prima gehen. Keine Spalten. Nur ab und zu kleine Risse, die überstiegen oder übersprungen werden müssen. Zur Rechten lassen wir das mächtige Felsmassiv der Isla Persa liegen, das wie eine Insel zu allen Seiten von Gletscherströmen umgeben ist. Bald zieht sich ein breites, diagonales Schneeband Richtung Norden zum Fortezzagrat hinauf. Aber das ist noch nicht unser Aufstieg zum Grat. Noch ein ganzes Stück weiter. Das nächste diagonale Firnband ist das Richtige.
Beim Aufwärtssteigen ist der Mond im Westen hinter der Bellavista verschwunden. Wir gehen im Schatten, können die Spur aber nach wie vor deutlich erkennen. Trotzdem mache ich mal die Kopflampe an, kann ich doch dann besser in die vorhandenen Stiefelabdrücke im Firn treten. Es geht sich prima auf dem harten, gefrorenen Untergrund. Wir fühlen uns konditionell auf der Höhe und sind wohl inzwischen auch sicherlich gut akklimatisiert.
Währenddessen wird es im Osten langsam hell. Die schwarzen Silhouetten der Berge zeichnen sich immer deutlicher gegen den Himmel ab. Diese Stimmung zwischen Nacht und Tag liebe ich besonders. Allein deswegen lohnt das frühe Aufstehen.
Irgendwann erreichen wir in 3370 Meter Höhe die Felsen des Fortezzagrates. Damit liegt ein anderes Gelände vor uns. Die Steigeisen lassen wir jedoch auch im Fels unter, müssen wir doch mit Schnee oder Eispassagen rechnen. Entweder klettern wir direkt auf dem Grat, oder manchmal etwas darunter. Es macht viel Freude. Der Fels ist fest und kompakt. Keinerlei loses oder poröses Gestein, wie wir es oft erlebt haben. Dazwischen mal ein Firnstück. Zur Linken sehen wir eine breite Spur, die auf dem Schnee durch die Felsen hinunter verläuft. Es ist der noch junge Abdruck eines Gestürzten, vielleicht vom Vortag, der auf dem Rücken liegend abgeglitten sein muss. Dem Gelände nach könnte er jedoch Glück gehabt haben. Ein Stück weiter eine ähnliche Spur zur Rechten. Sie lässt uns erschaudern. Sie endet an einer tiefen, senkrechten Felsstufe und taucht weit unten im Firn wieder auf. Das kann kein Mensch überlebt haben. Für uns eine Ermahnung zur Vorsicht.
Einige wenige Kletterstellen reichen an den dritten Grad heran. Zusätzlich sind sie ausgesetzt, und es geht tief hinunter. Die Steigeisen kratzen über das harte Gestein. Manchmal finden wir in kleinen Ritzen nur mit den Frontalzacken den nötigen Halt. Doch alles kein Problem. Durch die Kletterei an den Sellatürmen habe ich enorm an Sicherheit und Selbstvertrauen gewonnen. Für Markus ist das alles sowieso eher einfach.
Wir gelangen an das Ende des Felsgrates. Nun noch ein gutes Stück Firnstapferei. Hinter uns kommt dabei die Sonne hoch und taucht die Firnhänge und Felsen von Piz Palü und Bellavista in ein warmes, rötliches Licht. Wow! Wir sind allerdings so angespannt, dass wir an diesem frühen Morgen nicht unbedingt die nötige Zeit dafür aufbringen, diese Anblicke entsprechend lange, wie es ihnen gebühren würde, zu würdigen. Außerdem ist die Einfärbung nicht vergleichbar mit der in den Dolomiten an der Marmolada, die wir kürzlich erlebt haben. Das war ein Organgerot, wie es kräftiger nicht sein konnte. Eben das, was man sich so unter Alpenglühen vorstellt. Hier ist die Einfärbung nur leicht rötlich. Vermutlich liegt es an der Art des Gesteins.
Beim Weiterstapfen vermeide ich es nach Möglichkeit, den Blick auf das nächste Ziel, in diesem Fall das östliche Ende der Bellavistaterrasse, zu richten. Zieht sich doch der Weg oft in die Länge und will kein Ende nehmen. So sehe ich vor mir auf die Spur, nur selten den Blick nach oben gerichtet. Doch wenn ich dann doch ab und zu den Kopf hebe, ist der Fixpunkt wieder ein ganzes Stück näher gerückt.
Schließlich erreichen wir den Sattel, die Fuorcla Bellavista in 3688 m Höhe. Nach rechts geht es zur Bellavista hinauf, die auch immerhin 3900 Meter misst. Wir wenden uns jedoch nach links und gelangen nach einer Weile an den Fuß des Westgrates, der sich auf gutem Fels leicht ansteigend zum ersten der drei Palü-Gipfel hinaufzieht. Die Kletterei ist eher leicht. Die Ausblicke zu beiden Seiten sind grandios.
Nachdem wir bis hierhin allein unterwegs waren, treffen wir nun auf diverse andere Bergsteiger. Nach etwa einem Drittel des Felsgrates, kommt jedoch eine Art Schlüsselstelle, und dort hat sich mit mehreren Seilschaften ein Megastau gebildet. Es sind alles die Bergsteiger, die auf der Marco-e- Rosa-Hütte übernachtet haben. Einige der Letzteren geben uns zu verstehen, dass wir viel Geduld aufbringen und eine lange Wartezeit in Kauf nehmen müssten. Dazu haben wir nun überhaupt keine Lust. So entschließen wir uns kurzerhand den auch möglichen Parallelweg zu nehmen. Also über die Felsen zurück und durch den Firn ein Stück auf die italienische Südseite abgestiegen, bildet doch der Grat die Grenze zwischen der Schweiz und Italien. Wir folgen dem Steilhang unter dem Grat an dessen Fuß bis kurz vor den Westgipfel. Doch dann müssen wir dort irgendwie rauf. Eine Zweier- und eine Fünferseilschaft haben sich an dieser Stelle ebenfalls eingefunden. Wir überlegen, wie und an welcher Stelle wir den Steilhang am besten angehen können. Etwa 100 Meter führt er in 55 bis 60 Grad steilem Winkel bis knapp unter die felsige Gratschneide nach oben. Für unsere Verhältnisse ist das schon enorm steil, vergleichbar mit der Passage im vorigen Jahr am Montblanc an der Schulter des Mont Maudit, nur doppelt so hoch. Das Problem dabei ist zunächst der Bergschrund, der unter dem Firn zum Großteil verborgen liegt und einen tiefen Hohlraum ausgebildet hat. Wenn wir mit den Pickeln das Gelände sondieren, stechen wir durch den Firn in diesen Hohlraum hinein. Doch irgendwie muss es gehen. Noch ist der Schnee noch nicht so aufgeweicht und wird hoffentlich halten. Das Pärchen vor uns probiert zunächst sein Glück. Sie steigen gemeinsam am Seil. Wenn einer der beiden Seilpartner stürzen würde, würde er den zweiten mitreißen. Eine Chance zum Halten gäbe es dann nicht. Äußerst gefährlich, zumal es auch unter unserem jetzigen Standort noch weit und tief hinuntergeht. Die Fünferseilschaft versucht sich weiter rechts vor den Gipfelfelsen. Auch sie steigen gemeinsam, kommen aber dabei nur sehr langsam voran. Markus wählt eine andere und nicht so gefährliche Technik. Während ich ihn, dass Seil um den bis zur Haue in den Schnee eingerammten Pickel gelegt, sichere, steigt er 50 Meter voraus. Dort schafft er sich mit Stiefeltritten in den Steilhang einen komfortablen Sitzplatz. Während er mich von dort sichert, steige ich nach. Der Schnee über der Spalte des Bergschrundes hält auch bei mir.
Es ist ein großartiges Gefühl, durch einen solchen Steilhang zu steigen. Davon hat speziell Markus schon immer geträumt. Es gibt solche Touren an diversen Gipfeln in großen Dimensionen. Z. B. an der Königspitze im Ortlermassiv, der Pavallacinirinne am Großglockner, am Argentiere im Monblancmassiv oder am Täschhorn. Dort haben wir im vorigen Jahr beim Aufstieg zum Nadelhorn einige Bergsteiger beobachtet, die noch im Dunkeln mit Kopflampe in den 800 Meter hohen Hang eingestiegen sind. Doch hier reicht uns nun erst mal eine kleine Ausgabe davon, und auch die ist aufregend genug. Die Frontalzacken der Steigeisen in den Firn gerammt, mit dem Pickel versucht, den nötigen Halt zu finden. Nicht immer kann dessen Spitze ausreichend in den Hang eindringen, da dieser stellenweise vereist ist. Dann ist es ein kleiner Balanceakt. Aber es geht. Mühsam kämpfe ich mich höher, muss dabei zwei-, dreimal stoppen, um nach Luft zu ringen. Immerhin befinden wir uns in knapp 4000 Metern Höhe. Und die Muskeln der Waden sind dabei bis zum Zerreißen angespannt. Das wird einen schönen Muskelkater geben.
Neben Markus angekommen, schaffe ich mir ebenfalls einen kleinen Sitzplatz. Es ist schon ein merkwürdiges Gefühl, so in einer Steilwand zu warten, denn es dauert eine Weile, bis Markus das Seil sortiert hat. Anschließend lege ich es um den Pickel, dann kann er wieder voraussteigen. Ob diese Technik einen Sturz aufhalten könnte, ist allerdings zweifelhaft. Aber natürlich gibt sie psychologische Sicherheit.
Da der Firn in der oberen Hälfte des Hanges weicher wird, kann Markus nun sogar kleine Stufen in den Hang treten, sodass wir zumindest die Stiefelspitzen hineinsetzen können.
Dann erreiche auch ich den Felsaufschwung des Grates. Noch ein Stück Kletterei, und wir sind oben. Dieser Aufstieg war eine mächtige Kraftanstrengung. Aber er hat uns viel gebracht an Freude und Erfahrung. Vermutlich waren wir sogar langsamer, als wenn wir auf dem Felsgrat gewartet hätten. Trotzdem möchten wir diese Erfahrung nicht missen, haben also alles richtig gemacht.
Kurz darauf stehen wir gegen acht Uhr morgens auf dem Westgipfel in 3823 Metern Höhe. Und das völlig allein, da die anderen schon voraus sind. Wir halten uns jedoch nicht lange auf und steigen schnell weiter. Unsere Anspannung ist für eine geruhsame Pause einfach zu groß. Nicht lange danach erreichen wir über einen mäßig schmalen Firngrat den Haupt- und Mittelgipfel, 3905 Meter über dem Meeresspiegel. Unwirklich anmutende bizarre Facetten hat der heftige Wind an diesem Ort in den Firn geschliffen. Außerdem fegt er den feinen Pulverschnee waagerecht durch die Luft und in unseren Nacken. Etwas unterhalb des Gipfels in geschützterer Lage dann doch ein kleines Picknick. Aber auch das geht schnell, und schon bald sind wir wieder auf den Beinen.
Der Anblick zum letzten der drei Gipfel, dem Ostgipfel hinüber, ist atemberaubend. Ein extrem schmaler Firngrat zieht sich zu ihm hinunter. Keinen halben Meter breit. Zu beiden Seiten geht es Hunderte Meter in die Tiefe. Doch ich verspüre keinerlei Angst. Vielleicht etwas Unbehagen, bin ich doch inzwischen so einiges gewohnt. Seit dem Ortler, dem Nadelhorn und dem Montblanc traue ich mir wesentlich mehr zu als noch drei Jahre zuvor. Markus ist sowieso an Passagen, die für mich schon schwierig sind, sicheren Fußes unterwegs. Trotzdem schießt natürlich das Adrenalin durch die Gehirnzellen. Ein Nervenkitzel ist so ein Grat schon. Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen und steige vor Markus, der das Seil mit den Schlingen in der Hand hält, abwärts. Im Falle eines Sturzes müsste der Seilpartner auf die Gegenseite des Grates springen. Manchmal bleibe ich für einen Moment stehen, wenn die heftigen Windböen, die uns die Eiskristalle ins Gesicht fegen, zu stark werden. Möchte ich doch dann mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehen. Ab und zu ein Blick zurück. Die Schneefahnen ziehen vom Grat vor dem Hintergrund des tiefblauen Himmels nach Süden, nach Italien hinüber. Manchmal hüllen sie uns vollkommen ein. Es mutet arktisch an. Ich muss an Amundsen, Nansen oder Shackleton denken, die an den Polen unterwegs waren. Im Gegensatz zu diesen haben wir allerdings nur geringe Minustemperaturen.
Schließlich erreichen wir den Ostgipfel. 3882 Meter ist er hoch. Von dort sehen wir auf den ebenfalls extrem schmalen weiteren Gratverlauf. Er führt ein Stück gerade, um dann förmlich wie im Nichts in der Tiefe zu verschwinden. Dahinter blicken wir bis zu Horizont auf ein Wolkenmeer. Wieder mal ein atemberaubender Anblick. Aber auch dieses ausgesetzte Gratstück stellt für uns kein Problem dar. Manchmal sieht es zunächst schlimmer aus als es in Wirklichkeit ist. Ein Stück weiter unten, hinter dem Buckel, geht der Grat in breiteren Firn über, bleibt aber mit ca. 45 Grad nach wie vor steil.
Bald sind wir unten an der Fuorcla Perspalü, aber immer noch 3457 Meter hoch. Doch damit haben wir das Schlimmste überwunden und das gefährlichere Terrain endgültig hinter uns gelassen. Nach dem Abstieg über eine weitere steile Firnflanke, gelangen wir in den weiten Kessel des Persgletschers. Hatten wir gedacht, dass der Rest des Weges zu unserem Biwakplatz jetzt nur noch mehr oder weniger ein Bergabspaziergang sein wird, so haben wir uns mächtig getäuscht. Die Strecke zieht sich enorm in die Länge und scheint immer weiter zu werden, je mehr wir absteigen. Ich muss an Herrn Turtur aus Jim Knopf und Lukas die Lokomotivführer denken. Je weiter man sich von dem Scheinriesen entfernte, desto größer wurde er. Diesen scheinbaren Effekt haben wir auch hier. Dazu kommt, dass der Firn jetzt weich und sulzig ist. Wir sinken tief in den Schnee ein und brechen oft durch die vorhandenen Tritte durch. Nun ist eine gute Kondition gefragt. Doch die lässt bei uns so langsam nach.
Weiter steigen wir Richtung Piz Cambrena ab. Den Gletscherbruch umgehen wir linksseitig. Während andere vor uns, denen wir unterwegs immer wieder begegnet sind, leicht zur Diavolezza ansteigen, müssen wir noch viel weiter hinunter. In der Mittagshitze torkeln wir durch den weichen Untergrund. Ich komme mir wie ein Besoffener vor. Einige schmale Gletscherspalten müssen wir überspringen. Dann erreichen wir endlich, endlich wieder festen Boden. Er ist verharscht, besser begehbar und mit Steinen gespickt. Und kurz darauf sind wir auf dem Schotterglände der Randmoräne. Wir können aufatmen. Durch den tiefen Schnee völlig ausgepowert, erreichen wir unser Lager.
In diesem Moment ist mir allerdings schleierhaft, wie wir den steilen, rutschigen, 260 Meter hohen Gegenhang wieder hinaufkommen sollen. Doch zu noch einer Übernachtung an dieser Stelle habe ich auch keine Lust, so schöne diese am Vorabend auch war. Markus ist nicht ganz so geschafft wie ich. Er fängt sogleich damit an, die Biwaksachen zu sortieren und im Rucksack zu verstauen. Ich setzte mich erst mal auf einen Felsen und schlafe eine Viertelstunde. Danach fühle ich mich wieder frischer und packe auch meinen Kram zusammen.
Nach einer halben Stunde Pause sind wir schon wieder unterwegs. Ganz langsam schleichen wir mit Hilfe der Teleskopstöcker – ein dreifach Hoch dem Erfinder - den steilen Moränenhang hinauf. Bald darauf sind die ersten und schwersten hundert Meter geschafft. Erst mal durchatmen. Die restlichen 160 Meter führen auf schmalem Pfad durch wildes Felsgeklüft. Lässt sich aber prima steigen, manchmal wie Treppenstufen. Dann wieder muss man von Fels zu Fels springen. Am Nachmittag erreichen wir wieder die Seilbahnstation der Diavolezza. Ein letzter Blick zurück auf den Piz Palü, der sich wolkenfrei von seiner schönsten und glänzendsten Seite zeigt. Noch ein letztes Foto, dann zur Seilbahn, die gleich fahren wird.

Inzwischen habe ich in verschiedensten Alpenbereichen über 60 große Bergtouren durchgeführt. 40 davon mit meinem Sohn. Aber auch jede ist mir unvergesslich geblieben, und jede war auf irgendeine Art besonders reizvoll. Ob es von der Landschaft her war, dem Klettertechnischen oder weil es abenteuerlich war. Oder oft auch alles zusammen. Aber die Piz Palü-Überschreitung gehört ohne Zweifel zu den schönsten Touren. Jedem, der alpine Erfahrung hat, der schwindelfrei und trittsicher ist, kann ich sie bei guten Wetterbedingungen - das versteht sich von selbst - empfehlen. Es sind besonders starke Eindrücke, die man gerade auf dieser Tour erfährt. Und jedem, der diese Tour plant, wünsche ich schon jetzt viel Freude daran, und den anderen einfach Spaß beim Anschauen der Bilder.

Bürgerreporter:in:

Kurt Wolter aus Hannover-Bemerode-Kirchrode-Wülferode

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