Paarungsrituale im Rotwildmilieu: Ich werd' zum Hirsch - Der "König der Wälder" geht röhrend auf Brautschau

Der Postkarten Ludwig:  Röhrender Hirsch. Ein Motiv, das verkitscht auf unzähligen Gemälden, Wandtellern, Vasen und Ansichtskarten auftaucht. Doch in Natura  eine Impression von enormer Wirkung. | Foto: Uwe Schäfer
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  • Der Postkarten Ludwig: Röhrender Hirsch. Ein Motiv, das verkitscht auf unzähligen Gemälden, Wandtellern, Vasen und Ansichtskarten auftaucht. Doch in Natura eine Impression von enormer Wirkung.
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Da werd' ich glatt zum Hirsch! Auch so ein geflügeltes, dem Tierreich entlehntes Wort. Steht in seiner Bedeutung (u.a.) für "ich drehe noch durch". Und genau das zu tun, laufen die Geweihten in diesen Tagen und Wochen Gefahr. Sie sind auf Brautschau. Es ist Brunftzeit. Der "König der Wälder" trabt auf Freiersfüßen, wobei er zur Bigamie neigt. Nein, mit einer Holden allein gibt der Kerl sich ja nicht zufrieden. Es muss schon ein ganzes Rudel sein, als dessen Chef und Platzhirsch sich der imposante Paarhufer zu inszenieren und zu etablieren gedenkt. Das ist Stress pur, zumal die röhrende Konkurrenz ja auch nicht schläft.
Die Paarungsrituale in den Rotlicht-, pardon, Rotwildvierteln sind ein Naturschauspiel per excellence. Für menschliche Voyeure ein einzigartiges Erlebnis, in dessen Genuss aber nur Szenekenner kommen. Wenn die Kamera dann dabei ist, um so besser. Im oberen Dietzhölztal beispielsweise, im Lahn-Dill-Kreis, lässt sich solches derzeit beobachten. Vorausgesetzt, man weiß wo.

Das Yves Rocher der Hirschkühe

Ein klein wenig erinnern die Anbagger-Exerzitien bei Familie H. an menschliches Balzverhalten. Die weiblichen Tiere versprühen in diesen Tagen einen erotisierenden, körpereigenen Geruch, der dem gleichen Zweck dient wie jenes Zeugs, das sich unsere zweibeinigen Ladys bei Douglas, Yves Rocher, Aurel oder Body-Shop holen. ER, der Ludwig, wälzt sich indessen in der mit eigenem Urin getränkten Brunftkuhle, was ihm, zumindest für menschliche Nasen, eine etwas unangenehm-intensive Duftnote verleiht. Die von ihm umworbenen Hirschkühe sehen bzw. riechen das natürlich ganz anders. Bei humanoiden Männchen erfüllt das After Shave oder das Eau de Toilette eine ähnliche Funktion.
Um die Damenwelt zu beeindrucken, kehren Herren wie Bullen der Schöpfung schon mal gerne den Macho heraus und hauen mächtig auf Putz und Busch. Noch so eine Parallele zwischen Mensch und Hirsch. Nur dass letzterem für den Fall, dass er über den freundlichen, nebenbuhlerischen Mitbewerber obsiegt und diesen aus dem Feld schlägt, ein ganzes Rudel als Belohnung winkt. Unsereins gibt sich da ja schon mit einem einzelnen Exemplar zufrieden - meistens jedenfalls.

Das Anbaggern kostet viel Kraft

Ein Platzhirsch oder ein Anwärter auf diesen Titel kann in diesen ereignisreich-umtriebigen Wochen schon mal 20 Prozent seines Gewichtes verlieren. Nicht selten, dass ein vom Burnout-Syndrom gezeichnete Haremsbesitzer noch kurz vor Ende der Brunft, also quasi auf der Zielgeraden, von einem frischen, unverbrauchten Nebenbuhler aus dem Amt gekickt wird. Dumm gelaufen. Dieses ständige Sich-Behaupten-Müssen und die Notwendigkeit, die Weiblichkeit fortlaufend auf ihre Paarungsbereitschaft hin zu überprüfen, kosten viel Kraft.
Verhaltensforscher haben übrigens herausgefunden, dass es nicht das mehr oder weniger imponierende Geweih eines Hirschs ist, das den Damen imponiert. Es ist seine Stimme. Rotwildweibchen haben ein Faible für Brunftschreie, die ob ihrer Lautstärke und Intensität auf ein großes Exemplar schließen lassen. Der voluminöse Klang des Röhrens wird, das wissen die Frauen, unter anderem von der Größe des Stimmapparates seines Besitzers bestimmt, die wiederum in direkter Relation zu dessen Gesamtkörpergröße steht. Große, kräftig schreiende Rothirsche tragen insofern das Versprechen auf bestes Erbgut und damit gesunden Nachwuchs in ihrer Kehle.
Und spätestens an diesem Punkt enden die Gemeinsamkeiten zwischen Homo Sapiens und den Cervidae. Wer beim Menschen am lautesten schreit, muss nicht unbedingt und per se der Größte sein, weder in körperlicher, noch in geistiger, geschweige denn in bevölkerungspolitischer Hinsicht. Und zumeist sind es ja auch gerade die etwas zu kurz Gekommenen, pardon, zu kurz Geratenen, die die dickste Lippe riskieren. Große Klappe, nix dahinter…
Aber es ist schon ein beeindruckendes, jedoch selten vergönntes Schauspiel, Vertreter dieser Gattung (gemeint ist der Hirsch, nicht der Mensch) in freier Wildbahn beobachten zu dürfen. Und zwar dann, wenn der Boss seine vokale Power voll ausreizt. Den Schädel in den Nacken gelegt, die Nase in die kühle, trockene und windstille Morgenluft gereckt, in der sich der Atem kristallisiert und in einer feinen Wolke niederschlägt. Ein Motiv, das auf einschlägigen Kitsch-Gemälden und -Postkarten und anderen Dingen bis zur Unerträglichkeit reproduziert, variiert und wiedergekäut worden ist. In Natura ist es aber etwas ganz anderes.

Attacke! Der Geweihte im Angriffsmodus

Zeigt die lautmalerische Drohung des amtierenden oder sich dafür haltenden "Commander-in-Chief" beim dreisten Rivalen nicht die erhoffte Wirkung, müssen halt andere Saiten aufgezogen werden. Nächste Eskalationsstufe. Die (Stirn-)Waffen sprechen. Als solche wissen diese Tiere ihr mächtiges Geweih, das zwischen sechs und, man höre und staune, 25 Kilogramm schwer sein kann, sehr geschickt und nachhaltig zu gebrauchen. Die Attacke folgt dabei stets nach bestimmten Regeln und nur dann, wenn der Gegner ebenfalls Gefechtsbereitschaft signalisiert.
Das krachende Geräusch, das entsteht, wenn die Kontrahenten aufeinanderprallen, ist weithin zu hören. Die Kämpfenden, ineinander verkeilt, schieben sich in dieser Haltung so lange hin und her, bis einer, zurückgedrängt, sein Geweih löst und flieht. Ob das dem „Der-Klügere-gibt-nach-Prinzip“ geschuldet ist, weiß man nicht. Wer die Oberhand bzw. das Obergeweih behält, hängt übrigens nicht nur von der Stärke des selbigen ab, sondern auch von Gewicht, Körpergröße, Erfahrung seines Besitzers. Und auch davon, wie exzessiv sich der Bursche zuvor beim Liebesspiel mit seinem Harem verausgabt hat.
Nach der Paarungszeit wird das Gehörn als Angriffs- und Verteidigungsgerät nichtmehr benötigt und achtlos ab- und weggeworfen. Es wächst nach. Wir Menschen, clever wie wir sind, haben für unser überholtes Kriegsinstrumentarium ja immerhin noch eine lukrative Zweitverwertung und verticken es in die Dritte Welt und/oder in aktuelle Krisengebiete. Unsere Waffen dienen vornehmlich dem Töten, die der Hirsche nicht.

Bürgerreporter:in:

Jürgen Heimann aus Eschenburg

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