Am Baumwipfelpfad fehlen echt die Krokodile

Der Einstiegsturm des Baumwipfelpfades ragt etwa 30 Meter hoch. Auf der Aussichtsplattform der sogenannten Eingangskrone steht der Besucher 26 Meter über festem Boden.
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  • Der Einstiegsturm des Baumwipfelpfades ragt etwa 30 Meter hoch. Auf der Aussichtsplattform der sogenannten Eingangskrone steht der Besucher 26 Meter über festem Boden.
  • hochgeladen von Clemens Wlokas

In den Baumwipfeln im Kalten Tal leben weder Krokodile noch springen Affen im Geäst oder hängen sich Flughunde zum Schlaf unter die Zweige. Baumlebende Schlangen, die sich auf Ästen strecken und sonnen, finden in Bad Harzburg ebenfalls (noch) keinen für sie geeigneten Lebensraum. Nicht einmal Bären klettern an den Stämmen hoch, um in Hohlräumen nach honiggefüllten Waben zu suchen. Adler oder Artgenossen können sich zwar noch bewerben, wenn Greifvogelfamilien in einer der Kronen horsten wollen. Bisher melden die städtischen Kurbetriebe allerdings Fehlanzeige. Kurzum: Einschlägige Erlebnisse auf dem gerade (am 7. und 8. Mai) eröffneten Baumwipfelpfad halten sich mächtig in Grenzen.

Nun, wir Harzer schlafen nicht auf dem Baum, sagen die Einheimischen zurecht mit stolzgeschwellter Brust. Ach, täten sie es doch, machten sie es bloß, dann hätten die Besucher vom architektonisch ansprechend gestalteten Baumwipfelpfad aus tatsächlich etwas zu sehen und müssten sich nicht so unglaublich langweilen. Anscheinend hat es sich bis in den Harz herumgesprochen, dass Baumwipfelpfade gerade im Trend zu liegen scheinen und als Touristenmagneten vom Bayerischen Wald bis zur Insel Rügen aus dem Boden wachsen. Getreu dem Motto: Gleichauf mit Eichhörnchen und Vögeln. Gleichwohl garantiert das aber noch kein wirklich eindrückliches Naturerlebnis. Es ist auch nicht verwunderlich, angesichts so vieler Wipfelpfadgänger oben auf den Holzwegen und Spaziergänger unten auf den Schotterwegen entlang des Kalte-Tal-Baches. Schließlich beschränken sich die Anblicke von Tieren die meiste Zeit des Tages darauf, mit den Fernrohren von oben in den Niederungen unten auf aufgestellte Blechköpfe von Reh- oder Schwarzwild zu stoßen. Was nicht sehr nachhaltig sein dürfte, mit Blick auf die Motivation, so eine vermeintliche Attraktion noch ein zweites Mal aufzusuchen, geschweige denn einen weiteren Familienausflug dorthin zu unternehmen.

Wer am Boden bleibt und sich das Eintrittsgeld spart, hat im malerischen Kalten Tal mit seinem idyllischen Bachlauf ungleich mehr von der Natur. Zumal, wenn sich dort die Natur in ein paar Jahren von den Strapazen des Baumwipfelpfadbaus wieder erholt haben dürfte. Die Kinder können ganz unbeschwert im natürlichen Bachbett spielen, wie herrlich, und müssen nicht diesen – didaktisch, haptisch und motorisch zugegeben vortrefflich – aufgezogenen Lehrpfad mit Wissensinseln, Sitznüssen und Bewegungsspielen auf sich nehmen oder über sich ergehen lassen. Das freie Spielen unten im Bach mit ein paar hilfreichen Erläuterungen naturkundiger Eltern nahegebracht, so weit es sie deutschlandweit noch geben sollte, scheint die Fantasie des Nachwuchses ungleich mehr zu beflügeln als die naturkundliche Exkursion oben auf dem pfadgestützten Trockendock des Lernens.

Am Ende des Liedes könnte für die Investoren herausspringen, dass ihre Bäume so was von gar nicht in den Himmel wachsen wollen. Wenn es ihr unternehmerisches Risiko bliebe, brächte das niemanden auf die Palme. Was aber nervt und verstimmt: Wenn solche Unternehmungen, die sich in der Freizeit- und Tourismusbranche eigentlich auch den Gesetzen der Marktwirtschaft stellen müssten, mit Millionen Euro aus Steuergeldern gehätschelt werden. Sogenannte EU-Fördermittel fallen nicht vom Himmel. In Bad Harzburg sind nach eigener Darstellung der Betreiber mehr als zwei der rund 4,6 Millionen Euro Investitionskosten aus Europas Töpfen geflossen. Der Wettbewerb ist es doch, der dafür sorgen soll, dass sich gute Ideen mit tragfähigen Geschäftsmodellen am Markt durchsetzen und Denkfehler bestraft werden.

Um nicht missverstanden zu werden: Dem strukturschwachen und früheren Zonenrandgebiet Harz sei dieser Schluck aus der Pulle durchaus zu gönnen. Aber die Ausblicke in die Landschaft und die Einblicke in die Natur, die sich in Bad Harburg bisher schon angeboten haben, erhalten mit dem Baumwipfelpfad im Kalten Tal aus meiner Sicht nichts Neues und schon gar keine neue Qualität. Das ist schade. Ein paar kletternde Krokodile, die Baumstämme bis zur Krone erklimmen, sich dort sonnen und dösen und den Ausflüglern auf dem Baumwipfelpfad einen gehörigen Schauder über den Rücken jagen: Das hätte doch mal was und wäre richtig aufregend. Dann bräuchten auf lange Sicht auch keine Harzer als Lockvögel für Touristenschwärme auf die Bäume zu klettern, um dort zu schlafen.

Bürgerreporter:in:

Clemens Wlokas aus Springe

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